Das Ziel dieser Masterarbeit ist es zu bestimmen, wie mit dem Thema Tod im Schulalltag umgegangen wird. Dazu wird die folgende Forschungsfrage gestellt: „Welche Unterrichtserfahrungen gibt es mit dem Thema Tod?“ Es werden Aspekte der wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Relevanz beleuchtet. In vielen Schulen gibt es Tabus und Ratlosigkeit beim Umgang mit Tod und Trauer. Um die Forschungsfrage weiter zu beantworten, sind Leitfadeninterviews zur Umgangsweise mit dem Tod auf verschiedenen Ebenen im Schulzusammenhang durchgeführt worden. Sie richten sich an Lehrer:innen von Waldorfschulen in Berlin. Die Auswertung der qualitativen Studie zeigt, dass es keine vorgeschriebenen Handlungsanleitungen für den Umgang mit dem Tod im Schulalltag gibt. Die Interviewten handeln aus eigener Anschauung und Erfahrung, wünschen sich Fortbildungen zu diesem Thema. Die vorliegende Arbeit soll Lehrer:innen Impuls sein, sich präventiv mit dem Umgang mit dem Tod im Schulalltag auseinanderzusetzen. So entwickeln sie eine innere Haltung, mit der sie den ihnen anvertrauten Schüler:innen in solchen Ausnahmesituationen in Gesprächen der Liebe statt mit Angst vor dem Tod begegnen.
The aim of this master thesis is to determine how the topic of death is dealt with in everyday school life. For this purpose, the following research question is asked: "What teaching experiences are there with the topic of death?" Aspects of scientific and socio-political relevance are examined. In many schools there are taboos and helplessness about dealing with death and grief. In order to answer the research question, interviews on how to deal with death at different levels in the school context were conducted, aimed at teachers of Waldorf schools in Berlin. The evaluation of the qualitative study shows that there are no prescribed instructions for dealing with death in everyday school life. The interviewees act based on their own views and experience and would like to have further training on this topic. The present work is intended to give teachers an impulse to look preventively at dealing with death in everyday school life. So that they can develop an inner attitude with which they can encounter the students entrusted to them in such exceptional situations in conversations of love instead of fear of death.
Inhalt
1. Einleitung
1.1. Thematische Einführung und Problemdarstellung
1.2. Erkenntnisinteresse und Forschungsstand
1.3. Forschungsfrage
1.4. Materialzugang und Methode
1.5. Ergebnisannahmen
2. Der Tod gehört zum Leben
2.1. Definition der Begriffe Tod und Trauer
2.2. Trauerphasen nach Elisabeth Kübler-Ross
2.3. Trauerphasen nach Verena Kast
2.4. Trauerphasen nach Maria Farm
2.5. Zur Menschenkunde der Waldorfpädagogik
2.5.1. Entwicklungsstufen im Schulalter mit Blick auf den kindlichen Umgang mit Sterben, Tod und Trauer
2.6. Ein Befund – der biologische Tod – und zwei Ansichten: Leben nach dem Tod, kein Weiterleben nach dem Tod
2.7. Umgang mit Tod und Trauer im Schulzusammenhang in den Weltreligionen bei Schüler:innen, Lehrer:innen, Eltern/ Verwandten, Geschwistern
2.7.1. Sterben im Christentum
2.7.2. Sterben im Islam
2.7.3. Sterben im Judentum
2.7.4. Sterben im Hinduismus
2.7.5. Sterben im Buddhismus
3. Analyse der Umgangsweisen mit dem Tod in der Praxis
3.1. Inklusion lebensverkürzt erkrankter Mitschüler:innen, Lehrer:innen, Familien im Schulalltag
3.2. Suizid als Todesursache
3.3. Fallbeispiele vom Umgang mit Todesfällen
3.4. Die Parzival-Schule in Berlin Zehlendorf
3.4.1. Eine Stunde Religionsunterricht in der 12. Klasse
3.4.2. Interview mit Frau Dr. Ute Maria Beese, seit 45 Jahren Lehrerin
3.5. Die Johannes Schule in Berlin Schöneberg
3.5.1. Interview mit Herrn Hanjörg Fischer, seit 25 Jahren Lehrer
3.5.1.1. Der Umgang mit dem Tod im Alltag der Johannes Schule
3.5.1.2. Der Tod eines Jugendlichen im Schulzusammenhang
3.6. Die Freie Waldorfschule Kreuzberg
3.6.1. Interview mit Frau Unterborn, seit 36 Jahren Lehrerin
4. Anregungen für die Begleitung und Unterstützung trauernder Schüler:innen im Schulalltag
4.1. Abschied nehmen, Trauer und Gedenken in der Schulgemeinschaft
4.1.1. Abschied nehmen in der Klassen- und Schülergemeinschaft
4.1.2. Kontakte zur Familie des verstorbenen Schülers
4.1.3. Abschied nehmen im Kollegium
4.1.4. Die Waldorfschule als Gedenkort
5. Fazit
6. Anhang
6.1. „Notfallplan“ oder „1. Hilfe Maßnahmen“ vom Bund der Freien Waldorfschulen
6.2. Professionelle Entlastungsangebote für trauernde Kinder und Jugendliche über den Schulalltag hinaus
7. Literaturverzeichnis
8. Erklärung
9. Nutzungsvereinbarung
Trostwort
Hab keine Angst vor dem Leben und keine Angst vor dem Tod. Gott ist treu.
Abstract
Das Ziel dieser Masterarbeit ist es zu bestimmen, wie mit dem Thema Tod im Schulalltag umgegangen wird. Dazu wird die folgende Forschungsfrage gestellt: „Welche Unterrichtserfahrungen gibt es mit dem Thema Tod?“ Es werden Aspekte der wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Relevanz beleuchtet. In vielen Schulen gibt es Tabus und Ratlosigkeit beim Umgang mit Tod und Trauer. Um die Forschungsfrage weiter zu beantworten, sind Leitfadeninterviews zur Umgangsweise mit dem Tod auf verschiedenen Ebenen im Schulzusammenhang durchgeführt worden. Sie richten sich an Lehrer:innen von Waldorfschulen in Berlin. Die Auswertung der qualitativen Studie zeigt, dass es keine vorgeschriebenen Handlungsanleitungen für den Umgang mit dem Tod im Schulalltag gibt. Die Interviewten handeln aus eigener Anschauung und Erfahrung, wünschen sich Fortbildungen zu diesem Thema. Die vorliegende Arbeit soll Lehrer:innen Impuls sein, sich präventiv mit dem Umgang mit dem Tod im Schulalltag auseinanderzusetzen. So entwickeln sie eine innere Haltung, mit der sie den ihnen anvertrauten Schüler:innen in solchen Ausnahmesituationen in Gesprächen der Liebe statt mit Angst vor dem Tod begegnen.
The aim of this master thesis is to determine how the topic of death is dealt with in everyday school life. For this purpose, the following research question is asked: "What teaching experiences are there with the topic of death?" Aspects of scientific and socio-political relevance are examined. In many schools there are taboos and helplessness about dealing with death and grief. In order to answer the research question, interviews on how to deal with death at different levels in the school context were conducted, aimed at teachers of Waldorf schools in Berlin. The evaluation of the qualitative study shows that there are no prescribed instructions for dealing with death in everyday school life. The interviewees act based on their own views and experience and would like to have further training on this topic. The present work is intended to give teachers an impulse to look preventively at dealing with death in everyday school life. So that they can develop an inner attitude with which they can encounter the students entrusted to them in such exceptional situations in conversations of love instead of fear of death.
1. Einleitung
1.1. Thematische Einführung und Problemdarstellung
Im Zentrum dieser Arbeit steht der Umgang mit dem Tod im Schulalltag und Unterricht, um aktive Lehrerinnen und Lehrer, vielleicht auch Kollegien insgesamt für diese Thematik zu sensibilisieren, bevor das Thema disruptiv in den Schulalltag einbricht.
Der Tod und das Sterben begegnen den Schüler:innen immer wieder – sie sind Teil des Lebens. Neben Vorfällen im persönlichen Umfeld werden auch aktuelle Nachrichten, als Beispiele seien der Krieg in der Ukraine, die Corona-Pandemie oder die Naturkatastrophen im Sommer 2021 (Hochwasser im Ahrtal in Deutschland1 ) genannt, die den Tod als Thema in die Schule bringen und in den Gedanken der Schüler:innen einen Raum einnehmen.
Obwohl wir so häufig damit berührt werden, wird über diesen Teil des Lebens wenig gesprochen, viele vermeiden die Gedanken und den Austausch über das Ende des Lebens auf der Erde. Ein so gut es geht vorbereiteter und gestalteter Umgang mit Todesfällen und Sterbeprozessen im Umfeld der Schüler:innen wird ihnen helfen, die Veränderungen, die ihr Leben dadurch erfährt, zu begreifen und zu verarbeiten.
Mein persönlicher Bezug zum Thema meiner Arbeit ergibt sich aus Interesse an Fragen des Sterbens, des Todes, der Wiedergeburt – diese begleiten mich schon sehr lange. Durch den Tod zweier sehr guter Freundinnen – beide Mütter von kleinen Kindern – war ich gezwungen, mich intensiv damit auseinander zu setzen, wie Kinder mit lebensverkürzenden Krankheiten und dem Tod umgehen, wie ihr Umfeld darauf reagieren kann. Ein Todesfall in der eigenen Familie, der Großvater meiner Kinder ist gestorben, hat mir vor Augen geführt, wie schwierig es für die Lehrer:innen und schulischen Bezugspersonen offenbar ist, kindgerecht und hilfreich zu reagieren. In der vorliegenden Arbeit steht für mich der Begriff „Lehrer:innen“ oft gleichbedeutend für die Arbeit des gesamten Schulpersonals, das unmittelbar pädagogisch nah an den Kindern wirkt wie Erzieher:innen, Schulsozialarbeiter:innen, Heileurythmisten:innen, anthroposophische Kunsttherapeut:innen, Schulpsycholog:innen, Schulärzte und Einzelfallhelfer:innen. Der besseren Lesbarkeit wegen wurde das Synonym Lehrer:in gewählt, zumal der/ die Klassenlehrer:in in der Regel die Bezugsperson für die Unter- und Mittelstufe, ein Lieblingsfachlehrer in der Oberstufe ist.
Ausschlaggebend für die Wahl dieses Themas war für mich ein Morgen im Februar 2020. Ich fuhr zu meinem zweiten Waldorfschulpraktikum mit dem Fahrrad durch den Ernst-Thälmann-Park in Berlin Prenzlauer Berg. In dem Park stehen vereinzelt Hochhäuser. Um ein Haus parkten mehrere Polizeiautos und Krankenwagen – es war wieder ein Mensch mit Todeswunsch vom Hochhaus gesprungen. Mir fielen die zahlreichen, vor allem jüngeren Schulkinder auf, die hier vorbeigingen auf ihrem Schulweg. Wie viele von ihnen nahmen diesen Sprung bewusst wahr? Was machte das mit ihnen? In welcher Verfassung kamen sie in der Schule an? Würden sie miteinander darüber sprechen? Manche gingen zu zweit oder in kleineren Gruppen, andere alleine. Würden die Schüler:innen den Vorfall in ihrer Klasse vor Unterrichtsbeginn thematisieren? Falls ja: Wie würde der Vorfall in der Schule aufgefangen? Von wem? Und, in Bezug auf mein Studium: Wie gehen Waldorfschulen respektive Kolleg:innen an Waldorfschulen mit den Themen Tod und Sterben um?
Diese Fragen stehen am Anfang des Prozesses, aus dem meine Masterarbeit werden soll.
Nachdem mein persönliches Erkenntnisinteresse beschrieben wurde, werden erste Fakten über eine häufige Todesform, den Suizid, aus der Literatur aufgeführt, um die Relevanz des Themas weiter zu verdeutlichen.
1.2. Erkenntnisinteresse und Forschungsstand
Der Tod gehört zum Leben. Todesfälle im Schulzusammenhang gibt es primär bei Schüler:innen, Lehrer:innen, Eltern, Verwandten, Geschwistern, Freunden, Bekannten, sekundär etwa, wenn ein Idol oder geliebtes Haustier stirbt.
Der derzeitige Stand der Forschung zu meinem Themengebiet zeigt, dass es wenig Literatur zum Umgang mit dem Tod an Schulen gibt. Im ersten Teil meiner Masterarbeit setze ich mich zunächst mit einem wissenschaftlichen Blick auf das Sterben auseinander: zum einem mit dem Befund (der biologische Tod) und mit zwei Ansichten (Leben nach dem Tod, kein Weiterleben nach dem Tod). Die Inhalte der existierenden Beiträge werde ich erörtern. Im Anschluss daran erarbeite ich Tod und Sterben aus anthroposophischer Sicht: Im Zusammenhang mit dem Tod ist das ICH das größte Ereignis des menschlichen Lebens. Den Moment des Todes, in dem sich die Ätherlebenskräfte von dem sterblichen Leib trennen, schildert Rudolf Steiner als ein wunderbares Erlebnis, das tief in das nachtodliche Leben einwirkt:2 3
„Der Tod ist schrecklich oder kann wenigstens schrecklich sein für den Menschen, solange er im Leibe weilt. Wenn der Mensch aber durch die Pforte des Todes gegangen ist und zurückblickt auf den Tod, so ist der Tod das schönste Erlebnis, das überhaupt im menschlichen Kosmos möglich ist. Denn dieses Zurückblicken auf dieses Hineingehen in die geistige Welt durch den Tod ist zwischen Tod und neuer Geburt das allerwunderbarste, das schönste, großartigste, herrlichste Ereignis, auf das der Tote überhaupt zurückschauen kann. So wenig wie von unserer Geburt in unserem physischen Erleben jemals wirklich steht - es erinnert sich ja kein Mensch mit den gewöhnlichen, nicht ausgebildeten Fähigkeiten an seine physische Geburt -, sicher steht immer der Tod da für die Seele, die durch die Pforte des Todes gegangen ist, von dem Auftauchen des Bewusstseins an. Er ist immer vorhanden, aber er steht da als das Schönste, als der Auferwecker in die geistige Welt hinein. Und er ist ein Belehrer wunderbarster Art, ein Belehrer, der wirklich für die empfängliche Seele beweisen kann, dass es eine geistige Welt gibt, weil er das Physische durch seine eigene Wesenheit vernichtet und aus dieser Vernichtung eben nur hervorgehen lässt dasjenige, was geistig ist. Und diese Auferstehung des Geistigen, mit dem vollständigen Abstreifen des Physischen, das ist ein Ereignis, das immer dasteht zwischen Tod und neuer Geburt. Das ist ein tragendes, ein wunderbar großes Ereignis, und in sein Verständnis wächst die Seele nach und nach hinein...“ 4
1.3. Forschungsfrage
Auf diesem Fundament wird die Analyse der Umgangsweisen in der Praxis aufgebaut. Welche Unterrichtserfahrungen gibt es mit dem Thema Tod? Die Arbeit zeigt Fallbeispiele zum Umgang mit Todesfällen auf, beleuchtet dabei die Aspekte der wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Relevanz. Die Forschungsfrage weiter differenzierend, entwickeln sich weitere Leitfragen, die im Verlauf der Arbeit beantwortet werden. Es sind wohldurchdachte Fragen, durch die der Befragte sich nicht vor den Kopf gestoßen fühlen, sondern ermutigt werden soll, das Thema Tod, insbesondere aber die Umgangsweise auf verschiedenen Ebenen im Schulzusammenhang, zu schildern. Deswegen wurden zielführende Fragen gewählt. Geschlossene Fragebögen mit einer Option zum Ankreuzen wären besser auszuwerten und leichter vergleichbar gewesen als offene Fragen. Die Erfahrung zeigt auch, dass offene Fragen nicht so oft beantwortet werden wie geschlossene, da sich der Interviewte eventuell gezwungen fühlt, kreativer und ausführlicher zu antworten. Jedoch lassen sich von geschlossenen Fragen überhaupt keine Aussagen zur Behandlung des Themas ableiten. Die formulierten differenzierenden und offenen Fragen sollen zum Beschreiben oder Erzählen einladen.
1.4. Materialzugang und Methode
In einem ersten Arbeitsschritt wird zunächst anhand von vorhandener Literatur ein theoretischer Überblick über die Thematik Tod erarbeitet. Hierdurch sollen vor allem wissenschaftliche Fragen zum Umgang mit dem Tod beantwortet werden. Ausgewertet wird Literatur mit Beispielen oder Anregungen. Dieser Teil der Arbeit macht den „Theorieblock“ aus.
Der zweite Arbeitsschritt nähert sich der Thematik praktisch. Die Untersuchung beschränkt sich auf Waldorfschulen in Berlin. Die Waldorfschulen in Berlin bieten sich auch deswegen besonders an, da ich dort Praktika und meine Assistenzzeit absolviert habe und seitens des Seminars für Waldorfpädagogik Berlin e. V. schon langjährige Kontakte bestehen. Die Beantwortung der Forschungsfrage stützt sich neben der theoretischen Recherchearbeit auf die qualitativen Primärdaten aus den Interviews. Primär werden Waldorflehrer:innen zu ihren Erfahrungen und Einschätzungen zum Umgang mit dem Tod an Schulen befragt. Ihnen soll jedoch ebenfalls die Möglichkeit eingeräumt werden, die konkreten persönlichen Erfahrungen und Umgangsweisen in schriftlicher Form, auch wenn die Darstellung skizzenhaft bleiben mag, festzuhalten. Als weiterer Interviewpartner stand auch ein Oberstufenlehrer mit Erfahrung in einem Suizidfall in seiner Klasse zur Verfügung. Als Methode dienten qualitative Leitfadeninterviews5, deren Leitfragen thematisch strukturiert und auf die Forschungsfrage zentriert waren. Für die Untersuchung bietet das qualitative Leitfadeninterview folgende Nutzen: 1.) Es kann überprüft werden, ob der Befragte das Anliegen versteht. 2.) Die Interviewpartner:innen können ihre subjektiven Auffassungen und Ansichten offen legen. 3.) Die Befragten haben die Möglichkeit, selbst Verknüpfungen und größere kognitive Strukturen im Interview zu entwickeln6.
Im dritten Schwerpunkt wird aus den unterschiedlichen Erfahrungsberichten ein Praxisleitfaden für den Umgang mit dieser Thematik im Schulzusammenhang hergeleitet. Grundlage dafür ist eine Synthese mit Anregungen, Schlussfolgerungen und Leitlinien.
1.5. Ergebnisannahmen
Diese Arbeit hat einen eher explorativen Charakter. Um die Forschungsperspektive nicht unnötig zu verengen7, werden im Vorhinein nur diese beiden Hypothesen aufgestellt:
1. In unserer Gesellschaft und damit in vielen Schulen gibt es Tabus zum Thema Tod.
2. Es herrscht Ratlosigkeit zum Umgang mit dem Tod und der Trauer in Schulen.
Endgültige Ergebnisse, vor allem zum Umgang mit dem Tod an Waldorfschulen, liefert das Fazit der Masterarbeit.
2. Der Tod gehört zum Leben
Die Unvermeidlichkeit des Todes gehört zu den ältesten Erkenntnissen der Menschheit - und doch blenden viele Menschen das sichere Ende des Lebens am liebsten aus. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass das Thema Tod und mein wissenschaftliches Interesse daran etlichen Menschen mir gegenüber Angst und Unbehagen bereiten. Ich kenne nur wenige, die sich auf die eine oder andere Weise freiwillig oder gezwungenermaßen mit dem Tod auseinandergesetzt haben. Trauer und Tod stecken voller Tabus.
Diese erschweren den Umgang mit Todesfällen für die Lebenden. Viele Trauernde vermissen die richtigen Worte und Gesten, fühlen sich unverstanden. Umgekehrt ist es ähnlich – wer im privaten Umfeld auf Trauernde trifft, ist oft hilflos und weiß nicht, wie den Trauernden am besten zu begegnen ist. Todesfälle werden so zu einem Prüfstein für Freundschaften, Familienbeziehungen und im Arbeitsumfeld.
Sterben, Tod und Trauer haben eine tiefgreifende Wirkung auf Denken, Wollen, Fühlen und Handeln. Von den 900.000 Menschen, die jährlich in Deutschland sterben, tun es die meisten nach langen Vorerkrankungen in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen – obwohl es sich viele wünschen, stirbt nur jeder Vierte bis Fünfte zu Hause, Tendenz stetig abnehmend, weg von der pflegenden (Groß-)Familie.8
Auch kirchliche Bestattungen, oft mit Sarg und Grabstein, verlieren an Bedeutung. Lag der Anteil an evangelischen und katholischen Bestattungen Anfang der 2000er Jahre noch bei 70 Prozent, waren es im Jahr 2019 nur noch 52,2 Prozent. Ein Grab, dass 25 Jahre gepflegt werden muss, wird von 40 - 49 - jährigen Hinterbliebenen als Belastung empfunden, weil Familien heute oft weit verstreut leben und Bindungen an Bedeutung verlieren. Diese Zahlen ermittelte die Verbraucherinitiative Bestattungskultur Aeternitas aus Statistiken der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland.9
Ein ebenfalls wachsender Anteil der Hinterbliebenen in Deutschland möchte die Phase des Abschieds möglichst bewusst erleben, in dem man die Verstorbenen wie früher selbst wäscht, ankleidet und in den Sarg bettet. Es gibt Bestattungshäuser, für die zeremonielle Handlungen wie die Totenfürsorge einen wichtigen Zweck erfüllen: „Wenn wir mit eigenen Augen sehen und eigenen Händen begreifen, was an Wandlung geschieht, hilft uns das bei der Trauerbewältigung.“, sagt Mitbegründer Christian Hillermann vom Lebensfreundlichen Bestattungsunternehmen Trostwerk in Hamburg.10
2.1. Definition der Begriffe Tod und Trauer
Der Begriff Tod bezeichnet, dass ein Mensch nicht mehr am Leben ist. Im menschlichen Körper gibt es für das Leben unabdingbare Funktionen: Atmung, Kreislauf und das zentrale Nervensystem. Wenn diese endgültig versagen, spricht man vom Tod eines Menschen. Grundsätzlich wird zwischen nicht natürlichen Todesursachen wie Unfällen, Verbrechen, Krieg, Vergiftungen, Suizid und natürlichen Todesursachen, wie Krankheiten und altersbedingtes Versagen lebensnotwendiger Körperfunktionen, unterschieden. In Deutschland sind mehr als ein Drittel aller Todesursachen auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen zurückzuführen. Krebs und Krankheiten des Atmungssystems sind die zweit- und dritthäufigste Todesursache in Deutschland. 4 Prozent aller Todesfälle gehen in Deutschland direkt auf Covid-19 zurück. Im Jahr 2020 beendeten durch einen Suizid 9.206 Menschen ihr Leben, 75 Prozent davon waren Männer und 25 Prozent Frauen. Im Vergleich zum Vorjahr war die Zahl der Suizide mit 1,8 Prozent leicht erhöht. (2019: 9.041 Fälle).11
Der Übergang vom Leben zum Tod wird Sterben genannt.
„Die genaue Grenze zwischen Leben und Tod ist schwer zu definieren. Je weiter man von der Grenzzone zwischen beidem entfernt ist, desto klarer scheint der Unterschied zwischen Leben und Tod, je näher man an der Grenze ist, desto unschärfer wird sie. So können Lebewesen, die bereits einen Herzstillstand haben, manchmal erfolgreich wiederbelebt werden. Ebenfalls können nicht nur einzelne Zellen und Gewebe, sondern auch das Rückenmark (als Teil des Zentralnervensystems) während des „intermediären Lebens“ noch viele Stunden nach eingetretenem Hirntod auf äußere Einflüsse reagieren.“12
Die Traurigkeit ist eines der größten Gefühle. Trauer ist ein tiefer seelischer Schmerz über den Verlust eines geliebten oder verehrten Menschen oder die Erinnerung an diesen Verlust.
„Trauer bzw. Trauern bezeichnet einen emotionalen Zustand. Es ist ein Gefühl der Niedergeschlagenheit, einer emotionalen Taubheit oder -erstarrung oder des Hervorbrechens heftiger Emotionen, wie Schmerz, Panik, Traurigkeit, Wut, Schuldgefühle, eines Mangels an Lebensfreude (kurzzeitig oder länger andauernd) oder eines seelischen Rückzugs, einer starken Kränkung.“13
Die Trauer um den Verlust eines nahestehenden Menschen hat neben dem emotionalen Aspekt auch einen Verhaltensaspekt, bei dem der seelische Schmerz bewältigt und verarbeitet werden soll. Kurzfristig wären das körperliche Aktivität oder Ablenkung, um die Trauer zu verdrängen, sich zu erleichtern, den Verlust durch einen anderen Menschen/ ein neues Haustier zu ersetzen. Mittel- und langfristig ist es ein allmähliches Akzeptieren und Loslösen, auch durch Gespräche und Orte der Trauer. Ein großer Reiseveranstalter, die TUI, bietet Trauerreisen z. B. nach Madeira an. In einer Reisegruppe kommen die bis zu 20 Teilnehmer miteinander ins Gespräch, um in fremder Umgebung ihre Trauerarbeit zu fördern und sich zu erleichtern.14 Die Isolierung soll auch bei kleineren Trauerreiseanbietern entfallen.15 Mit Sicherheit wird eine Trauerreise nicht für jeden Trauernden im Schulalltag eine Form und überhaupt realistische Möglichkeit der Trauerbewältigung sein.
Wir trauern so individuell um geliebte Menschen, wie unsere Beziehungen zu ihnen einzigartig sind. Die sich dabei ähnelnden Gefühle haben zahlreiche Experten untersucht, unter anderen die schweizerisch-US-amerikanische Psychiaterin und Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross und die Schweizer Psychologin und Autorin Verena Kast. Die Trauerphasen-Modelle dieser beiden Wissenschaftlerinnen zählen zu den wichtigsten Grundlagen für die Begleitung von Trauerprozessen. Macht man sich diese Prozesse auch im Schulalltag bewusst, kann der Umgang mit Tod und Trauernden mitfühlender und weniger ohnmächtig werden.
Der Trauerprozess hat bei beiden Wissenschaftlerinnen einen klar definierten Anfang und ein ebensolches Ende. In der Regel beginnt der Trauerprozess durch den Verlust eines geliebten Menschen. Oft entscheidet der Beginn des Trauerprozesses, wie sich die weitere Trauer gestalten wird. Dabei spielen die Umstände des Todes eine entscheidende Rolle. Beendet ist der Trauerprozess, wenn der Trauernde sich in seinem Lebensgefüge wieder neu orientiert. Ausschlaggebend ist hierbei die Beziehung des Trauernden zum Verstorbenen. Die Dauer der Trauerphasen variiert stark in Abhängigkeit von den Umständen des Todes, der Rolle bzw. Beziehung zum Verstorbenen und der Persönlichkeit des Trauernden. Die individuellen Gegebenheiten führen oft dazu, dass die Länge und Intensität des Trauerprozesses nicht zu den Erwartungen des sozialen Umfelds „passt“. Es gibt Menschen, die meinen, nach einem Jahr oder maximal zwei müsse die Trauer der Hinterbliebenen aufhören, vor allem Männer sollen dann endlich wieder zuversichtlich in die Zukunft blicken. Diese Menschen wissen nicht, was in den Trauernden vorgeht, geschweige denn, was sie da von den Trauernden fordern. Wie schafft man es als Elternteil, nicht den Halt zu verlieren, nicht in Sucht abzugleiten, in Depressionen zu versinken, einen Suizid als einzigen Ausweg zu sehen, wenn das eigene Kind vor einem stirbt?! Insbesondere Männer tendieren dazu, ihre innere Not selber zu durchleiden, sie zu verschließen, bis diese sie später umso heftiger überrollt. Andere werden hart, verbittert, cholerisch, weil sie vor allem Hilflosigkeit erlebt haben.16
Grundsätzlich gestaltet sich die Trauer bei Kindern und Erwachsenen ähnlich: zuerst ein Nicht-Wahrhaben-Wollen, aufbrechende Emotionen, Suchen und Sich-Trennen, im letzten Stadium ein neuer Selbst- und Weltbezug. Trauernde sollen ihren eigenen Weg der Trauer gehen, sich neu sortieren in einem für sie manchmal äußerst schmerzhaften und in ihrer Existenz bedrohlich erlebten Prozess. Dafür sollen sie sich die Zeit nehmen, die sie brauchen und für das, was ihnen gut tut. Auch die Erfahrungen in einer Waldorfschule zu teilen, trägt und verbindet die Trauernden mit ihren Trauerbegleiter:innen. Ebenso hilft im Schulalltag, wenn man traurig ist, reden, im Ruheraum schlafen, alleine sein, weinen, auf dem Schulgelände/ im Schulgarten spazieren gehen, schöne Sachen herstellen in den künstlerischen Fächern, mit Bezugspädagog:innen und Schulfreund:innen reden.
2.2. Trauerphasen nach Elisabeth Kübler-Ross
Im Jahr 1969 erregte die international bekannte Ärztin und Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross große Aufmerksamkeit durch die Veröffentlichung ihres bahnbrechenden Klassikers „Interviews mit Sterbenden“. In ihrem Buch beschreibt sie die fünf Phasen, welche Sterbende durchlaufen - von der Leugnung, über die Wut bis zur letztlichen Zustimmung in das Unausweichliche.
Trauer ist demnach nicht ein einziges Gefühl, sondern ein prozesshaftes Geschehen. Kübler-Ross geht davon aus, dass Menschen bei kritischen Lebensereignissen, und damit jeder trauernde Mensch, verschiedene Phasen durchleben, deren Ursprünge auf den von ihr beobachteten Phasen des psychischen Prozesses bei Sterbenden basieren.
Anhand dieser leitete sie Phasen des Sterbens ab, und stellte die Wünsche und Bedürfnisse von Sterbenden in den Vordergrund.
Die Trauer- und Sterbephasen nach Kübler-Ross sind:17
1. Nicht-Wahrhaben-Wollen
2. Zorn
3. Verhandeln
4. Depression
5. Zustimmung
Hinsichtlich Trauer und unerwarteter Todesfälle lässt sich die Phase des Verleugnens, in der Sterbende mit Gott oder dem Schicksal um eine Lebensverlängerung verhandeln, nicht auf Trauernde übertragen.
„Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ ist ein bekanntes Sprichwort. Auch als Kübler-Ross ihr Buch „Interviews mit Sterbenden“ vor über 50 Jahren veröffentlichte, hofften damals wie heute viele sterbende Menschen bis zum Schluss auf (göttliche) Heilung oder ein neues Medikament aus der Forschung.
„Wir haben bisher die verschiedenen Phasen dargestellt, die der Mensch durchzumachen hat, wenn er eine unheilvolle Nachricht erhält: Es sind Verteidigungsmechanismen im psychiatrischen Sinn, Mechanismen zur Bewältigung extrem schwerer Situationen. Sie alle wirken unterschiedlich lange Perioden hindurch, lösen einander oft ab, existieren aber auch nebeneinander. In jeder Phase vorhanden ist fast immer die Hoffnung. Wie die Hoffnung, an die sich die Kinder der Baracken L 318 und L 417 im KZ Theresienstadt jahrelang klammerten, obwohl von insgesamt 15000 Kindern unter 15 Jahren kaum einhundert die Zeit überlebten.“18
2.3. Trauerphasen nach Verena Kast
Verena Kast19 entwickelte ein Modell von den vier Phasen der Trauer, das neben den Trauerphasen nach Kübler-Ross eine weitere wichtige Grundlage zum Verständnis des Trauerprozesses bildet. Kast führt für jede Trauerphase einen praktischen Handlungsleitfaden für Trauerbegleitende auf.
1. Phase des Nicht-Wahrhaben-Wollens:
Der Tod schockiert, überwältigt. Je intensiver die Beziehung des Trauernden zum Verstorbenen war, wird er den Tod nicht erfassen, glauben, wahrhaben wollen. Verzweiflung und Hilflosigkeit überwiegen, können zu Rückzügen, Zusammenbrüchen, Schockstarre, Apathie führen. Manche Trauernde erleben Übelkeit, Erbrechen, Unruhe, Schwitzen, einen erhöhten Pulsschlag.
Die erste Phase kann von
2. Phase der aufbrechenden Emotionen:
In dieser Phase brechen individuelle, nicht rationale, teils widersprüchliche Gefühle auf, die zugelassen werden sollen, damit sie nicht in eine Depression oder andere psychische Erkrankung führen. Es sind starke Gefühle wie Schmerz, Wut, Traurigkeit, Angst, Schuld, Freude, Hadern mit dem eigenen Schicksal, Zorn und Aggression gegen sich oder den Verstorbenen bis hin zu Schuldgefühlen.
Diese zweite Phase dauert unterschiedlich lange von mehreren Wochen über Monate. Trauernde sollen ihre Gefühle zulassen, Tagebuch schreiben, spazieren gehen, malen. Kast empfiehlt, Trauernden ihre möglicherweise auftretenden Schuldgefühle nicht auszureden, nicht zu bekräftigen, sondern schlicht zur Kenntnis zu nehmen. Aussagen des Trauernden sollen nach Möglichkeit nicht interpretiert oder gewertet werden.
3. Phase des Suchens und Sich-Trennens
Trauernde suchen den verstorbenen Menschen - in den Gesichtszügen auch fremder Menschen, an Orten, die der Verstorbene mochte. Manche übernehmen Gewohnheiten des Verstorbenen, um ihm nahe zu sein. Das gemeinsam Erlebte soll konserviert werden. Die Sehnsucht nach ihm oder nach dem, was man gemeinsam erlebt und geteilt hat, kann schmerzhaft und schön sein, aber auch zu tiefer Verzweiflung bis hin zu Suizidgedanken führen. Trauernde befinden sich in dieser Phase zwischen Wochen und Jahren. In dieser Phase hilft es, dem Trauernden zuzuhören (auch wenn sich die erzählten Geschichten wiederholen), seine Fantasien zuzulassen (die ggf. auch den Tod des Verstorbenen anzweifeln), ihm Zeit zu lassen den Verlust zu akzeptieren, ihn auch bei suizidalen Äußerungen kontinuierlich zu begleiten.
4. Phase des neuen Selbst- und Weltbezugs
Der Schmerz verebbt langsam. In dieser Phase kehren innere Ruhe und persönlicher Frieden zurück. Der Trauerprozess verändert die Einstellung zum eigenen Leben oft grundlegend. Die Überwindung der Trauer bedeutet nicht, den Verstorbenen zu vergessen, sondern die Erkenntnis, dass es nicht mehr so sein wird, wie es einmal war. Die Verbindung zum Verstorbenen ändert sich insofern, dass er weiter in der Erinnerung und in Gedanken lebt, während das Leben des Trauernden weitergeht. Der Begleiter:innen des trauernden Menschen sollten ihn in dieser Phase loslassen, akzeptieren, dass sie nicht mehr als Trauerbegleiter:innen gebraucht werden und gleichzeitig achtsam bleiben für Rückfälle.
Diese drei ausgewählten Phasenmodelle verdeutlichen, was für ein komplexer, individueller, nicht vorhersehbarer Prozess Trauer ist, dessen Übergänge fließend sind. Die Modelle wurden aus unterschiedlichen Impulsen entwickelt. Elisabeth Kübler-Ross erstellte ihr Phasenmodell aus der Arbeit mit Sterbenden, Verena Kast anhand von trauernden Patientenerfahrungen in ihrer therapeutischen Arbeit, ebenso wie Maria Farm, deren therapeutische Hilfe insbesondere Kinder und Jugendliche zugutekam.
2.4. Trauerphasen nach Maria Farm
Vor allem jüngere Kinder verstehen und begreifen den Tod nicht als Ganzes, wenn sie einen ihnen sehr nahestehenden Menschen verloren haben. Sie fühlen sich häufig in ihrer Trauer alleine gelassen, reagieren für Erwachsene, die selber mit ihrer eigenen Trauer beschäftigt sind, oft widersprüchlich, wechseln scheinbar übergangslos von einem Moment der Freude zu einem Moment der Betrübnis.
Maria Farm, schwedische Psychologin und Autorin, hat für Kinder ab neun Jahren und Jugendliche, die insbesondere ein Eltern- oder Geschwisterteil verloren haben, ein Buch geschrieben, basierend auf Erfahrungen und Wissen aus ihrer Praxis.20 Besonders Kinder benötigen sensible Unterstützung und Begleitung im Trauerprozess, um über ihre Gefühle zu sprechen und Antworten zu finden. Farm vergleicht die unterschiedlichen Trauerphasen mit Wellen, die aufeinanderfolgen.
„Zuerst schwappt die Welle nach vorn, dann fühlst du dich ein wenig besser, und danach wirst du von der Strömung wieder ein Stück zurückgezogen. Doch gleich darauf entsteht eine neue Welle, die dich wieder ein bisschen voranschubst. Auf ähnliche Weise lebt die Trauer in dir: Anfangs ist das Ufer sehr weit entfernt, du fühlst dich hilflos und den Wellen ausgeliefert. Aber nach und nach wird das Wasser ruhiger, und du lernst, in den Wellen zu „schwimmen“, ja sogar, diesem Rückwärtssog ab und zu Widerstand zu leisten. Du kannst ihn bewusst spüren und dunkle, schmerzliche Gedanken haben, aber trotzdem nach vorne streben. Kannst mit Freunden zusammen sein, Fußball trainieren, tanzen gehen und brauchst der Kraft der Trauer nicht nachzugehen. Stattdessen kannst du auf den nächsten Vorwärtsschub warten und dann gleich ein bisschen mit in Richtung Ufer schwimmen “21
Farm spricht von den folgenden Phasen:
1. Schock
2. Reaktionsphase
3. Verarbeitung
4. Neuorientierung
Die Autorin führt anhand von konkreten, kindgerechten Beschreibungen, Fragen und Antworten viele Anregungen und Hilfen zur Trauerbewältigung auf. Wichtig ist Farm, dass neben den von ihr treffend beschriebenen schmerzlichen traurigen Gefühlen auch schöne Erinnerungen an den Verstorbenen bewahrt werden – sei es in Form von Zeichnungen, Texten oder einem gestalteten physischen Ort. In dem Buch werden auch besonders sensible Themen angesprochen wie der Tod durch Selbstmord und Depressionen, die auch bei Kindern nur mithilfe professioneller therapeutischer Begleitung verarbeitet werden können.
„Manchen Menschen geht es mitunter so schlecht, sie sind so verwirrt und traurig, dass sie glauben, es wäre besser, tot zu sein. Sie sehen den Tod als Befreiung von ihrer Angst und Mutlosigkeit. Sie haben sehr finstere Gedanken, die sie vielleicht niemandem anvertrauen wollen. Sie denken beispielsweise, es ginge den anderen viel besser, wenn sie selbst nicht am Leben wären. Sie fühlen sich schuldig und können sich nicht über das Leben freuen. Wer zum Beispiel an einer Depression erkrankt ist (wenn man über lange Zeit tieftraurig ist), glaubt nicht daran, jemals wieder gesund werden zu können. Alles kommt diesem Kranken hoffnungslos vor. Nicht einmal der Gedanke an die eigenen Kinder hilft ihnen aus ihren schlimmen Gefühlen. Es kann einem Menschen tatsächlich so schlecht gehen, dass er glaubt, er könne nicht für seine Kinder sorgen. Diese Menschen sehen sich selbst als Problem, als eine Last. Manchmal beschließt ein Mensch, dem es so schlecht geht, sich das Leben zu nehmen.“22
Dieses Buch sollte in mehreren Exemplaren für alle Schüler:innen in jeder Schulbibliothek zur Verfügung stehen. Vertrauenslehrer:innen, Schulpsycholog:innen, Schulsozialpädagog:innen, Klassen- und Religionslehrer:innen sowie andere Schulpädagog:innen finden in diesem Buch Worte, die sie selber im Gespräch mit trauernden Kindern und Jugendlichen übernehmen können. Zuletzt gibt das Buch auch verschiedene Informationen und Kontaktdaten von Beratungsstellen für Kinder und Jugendliche, an die sich die Trauernden wenden können.23
Aufgrund der eben dargestellten Problematik können Pädagog:innen den Trauerprozess im Schulalltag besser nachvollziehen:
Es gibt verhaltensoriginelle Schüler:innen und die haben ihre Gründe.
2.5. Zur Menschenkunde der Waldorfpädagogik
Dieser Abschnitt gibt einen Überblick über das zu bearbeitende Thema und verortet es in der von der Anthroposophie geprägten Waldorfpädagogik. Nach Angaben des Bundes der Freien Waldorfschulen gibt es in Deutschland 254 Waldorf- und Rudolf-Steiner-Schulen mit insgesamt knapp 90.000 Kindern sowie 37 Seminare/ Hochschulen zur Aus- und Weiterbildung von Waldorflehrer:innen.24 Es findet neben der Wissensvermittlung auch eine spirituelle und künstlerische Ausbildung der Schüler:innen im Sinne Rudolf Steiners statt.
Im Zentrum steht der werdende Mensch: das Kind. In jeder Waldorfschule wird die Erziehungskunst nach Rudolf Steiner (1861-1925) praktiziert. Das Menschenbild der Waldorfpädagogik entspricht dem der anthroposophischen Geisteswissenschaft. Rudolf Steiner formulierte 1924 in seinen 185 veröffentlichen Leitsätzen in Kurzform, was er unter Anthroposophie versteht: „Anthroposophie ist ein Erkenntnisweg, der das Geistige im Menschenwesen zum Geistigen im Weltall führen möchte.“25
Plotin (205-270), ein antiker Philosoph, der sich als getreuer Interpret der Lehre Platons betrachtete, erörterte, dass die Welt aus abgestuften Gebieten besteht, jedoch alle Einzeldinge aus dem Einen entstanden sind und wieder zu diesem Einen zurückkehren. In dieser Logik ist das Eintauchen in die „Geheimwissenschaft“ (Ausdruck von Rudolf Steiner) ein mystischer Vorgang des Zu-sich-selbst-Kommens und der kosmischen Vereinigung. „Der Abstieg der Seelen aus der geistigen Welt in die Körperwelt und ihre mögliche Rückkehr ist das Kernthema seiner Philosophie.“26
Auf der Erde hat jeder Mensch, jede Idee, jede kulturelle Tat einen eigenen Zeitpunkt der Geburt, des Sichtbarwerdens aus einem geistig vorbereiteten und ausgereiften Vorhandensein heraus. Es beginnt ein für andere Menschen von außen anschaubarer Weg, der beschrieben werden kann, die Biografie.27 Emil Molt, Direktor der Waldorf-Astoria Zigarettenfabrik in Stuttgart, fragte Rudolf Steiner 1919, ob er für die Kinder seiner Arbeiter eine Schule auf den Grundlagen der Anthroposophie konzipieren könne.
„1919 begann mit der ersten Waldorfschulgründung in Stuttgart durch Rudolf Steiner und noch viele um ihn herum tätige Geburtshelfer die Biografie einer neuen Art von Schule, von Bildung und Gestaltung an dem Inneren und Äußeren heranwachsenden Menschen. Im selben Zeitraum wurden Menschen geboren, welche durch ihr Schicksal mit dieser Schule verbunden wurden und in einer oft innigen Verflechtung als Schüler mit ihr die eigene Kindheit und Jugend erlebten. Hier flossen zwei Biografien ineinander, jene einer Kulturtat und diese eines Menschen, zumindestens zeitweise, und nahmen gegenseitig Einfluss aufeinander, in welcher individueller Art und Intensität auch immer.“28
Vorbereitend auf die Begründung der ersten Waldorfschule hielt Rudolf Steiner für den ersten Lehrkörper einen menschenkundlichen, methodisch-didaktischen und seminaristischen Grundkurs, den er in den folgenden Jahren in vielfältiger Weise durch Vorträge, Kurse und Bücher ergänzte. Die Frage ist nun: Wie ist die geistig-moralische Aufgabe zeitgemäß zu verstehen? Die Kernaussagen dazu stehen in Steiners erstem Vortrag vom 21. August 1919.29 Steiner beginnt mit pädagogischen Auseinandersetzungen. Er legt dar, dass die Entwicklungsepoche, in der wir heute stehen, in der Mitte des 15. Jahrhunderts begonnen hat. Die Menschen haben bisher im Sinne der vierten nachatlantischen Entwicklungsepoche gearbeitet. Für unsere Zeit sollen wir uns eine ganz bestimmte Richtung geben. Durch den Materialismus haben die Menschen kein Bewusstsein von den besonderen Aufgaben einer besonderen Zeit.30 „Als Allererstes aber, bitte, nehmen Sie das in sich auf, dass besondere Zeiten ihre besonderen Aufgaben haben.“31 Steiner führt weiter aus: „Das wird unserem Erziehungs- und Unterrichtswesen allein die richtige Stimmung geben, wenn wir uns bewusst werden: Hier in diesem Menschenwesen hast du mit deinem Tun eine Fortsetzung zu leisten für dasjenige, was höhere Wesen vor der Geburt getan haben.“32 Der Gedanke von der menschlichen Wesenheit, der vom werdenden Menschen, soll im Bewusstsein bei allen Unterrichts- und Erziehungstätigkeiten getragen werden. Der Mensch wirkt in der Welt „nicht nur durch dasjenige, was er tut, sondern vor allem durch dasjenige, was er ist.“33 Mit Steiners Kernaussage von der menschlichen Wesenheit wird die Schilderung der Menschenkunde der Waldorfpädagogik beendet:
„Der Mensch wurde geboren; dadurch wurde ihm die Möglichkeit gegeben, dasjenige zu tun, was er nicht konnte in der geistigen Welt. Wir müssen erziehen und unterrichten, der Atmung erst die richtige Harmonie geben zur geistigen Welt. Der Mensch konnte nicht in derselben Weise den rhythmischen Wechsel vollziehen zwischen Wachen und Schlafen in der geistigen Welt wie in der physischen Welt. Wir müssen diesen Rhythmus so regeln durch Erziehung und Unterricht, dass in der rechten Weise im Menschen eingegliedert werde Körperleib oder Leibeskörper im Seelengeist oder Geistseele.“34
Der Gedanke von der menschlichen Wesenheit muss uns laut Steiner beherrschen, in dem auch der Tod ein substanzieller Bestandteil des menschlichen Seins ist. Mit diesem Bewusstsein werden auf individuellen Erkenntniswegen die Begriffe Tod und Trauer als integraler Bestandteil der Anthroposophie gefasst. Die Waldorfschulen haben sich als eine Konkretisierung der Anthroposophie entwickelt. Steiners Erkenntnisse sind uns in ihrer Vielfalt Aufgabe und Unterstützung zugleich. Sie umgeben und durchdringen den Umgang mit dem Tod im Schulalltag ganz unmittelbar.
2.5.1. Entwicklungsstufen im Schulalter mit Blick auf den kindlichen Umgang mit Sterben, Tod und Trauer
Die Aufgabe von Pädagog:innen liegt vor allem darin, die in jedem Menschen verborgene, zur freien Selbstbestimmung befähigte Seele zu fördern und ihre gesunde Entwicklung zu unterstützen. Dafür müssen Pädagog:innen die Entwicklungsbedingungen kennen, denn in jedem Alter zeigt sich das individuell Einmalige, welches der Mensch aus einer vorgeburtlichen Welt mitbringt, in einem anderen Ich und muss deswegen anders angeregt werden.35 Da das anthroposophische Menschenverständnis von einem vorgeburtlichen und nachgeburtlichen Leben ausgeht, sollte der Tod für Waldorfpädagog:innen kein Tabuthema, sondern eine Natürlichkeit sein. Dann könnte es besser gelingen, Kinder in familiäre und sie betreffende schulische Trauer- oder Todessituationen mit einzubeziehen. Nur wenn Kinder in solchen Fällen die Gelegenheit bekommen, über Tod und Trauer in ihrem Umfeld altersgerecht, konkret und offen zu sprechen, können sie die erlebten Veränderungen verarbeiten. Kinder erleben den Tod an sich zunächst nicht erschreckend, jedoch die Reaktionen der Erwachsenen die sich in Betroffenheit, Weinen, Apathie, Aggression, Arbeitswut oder Hilflosigkeit äußern. Erwachsene sollen nicht versuchen ihre Gefühle vor den Kindern zu verbergen, sondern sich bemühen, diese in Worte zu fassen und altersgerecht zu erklären. Kinder verunsichert eine mangelnde Begleitung aufgrund eines Todesfalls. Mit zunehmendem Alter begreifen Kinder den Tod mit allen Konsequenzen. Das unterscheidet sich bei Kindern im gleichen Alter sehr stark. Deshalb ist es wichtig, sich auf das zu beschränken, was sie im Gespräch individuell begreifen können.
Es werden nun die Entwicklungsstufen im Schulalter unter menschenkundlichen Aspekten für ein darauf aufbauendes Todesverständnis nach Lebensjahrsiebten präzisiert.
Rudolf Steiner sieht in der Verwandlung der drei Seelenkräfte – Denken, Fühlen, Wollen – den unvergänglichen menschlichen Geist wirken. Er verdichtete seine Erkenntnis in dem Spruch „Ecce homo“ für die Eurythmie Weihnachten 1919:
„In dem Herzen webet Fühlen,
In dem Haupte leuchtet Denken,
In den Gliedern kraftet Wollen.
Webendes Leuchten,
Kraftendes Weben,
Leuchtendes Kraften:
Das ist – der Mensch.“36
Rudolf Steiners Erkenntnisse aus 30 Jahren reiner geisteswissenschaftlicher Forschungsarbeit prägen die menschlichen Entwicklungsstufen maßgeblich. Das Ich, der geistige Kern des Menschen, wirkt unterschiedlich in den Seelenfähigkeiten des Denkens, Fühlens und Wollens.37 Steiner ordnet seine Dreigliederung in das Nerven-Sinnes-System, das Rhythmische System und das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System, womit klar wird, dass die Seelenkräfte verschiedenen leiblichen Organsystemen zugeordnet sind: das Denken der spezifischen Nervensubstanz, das Fühlen der rhythmischen Prozesse der Atmung und dem Herzen, dem Wille dem Stoffwechsel in der Muskulatur und in den Rumpforganen. Durch die Sinneseindrücke im menschlichen Organismus gestaltet sich das Verhältnis zur Außenwelt auf dreifache Art: durch die Sinneseindrücke im Nerven-Sinnessystem, durch die Atmung im rhythmischen System38 und durch die Nahrungsstoffe und Bewegungsorgane im Stoffwechsel-Gliedmaßen-System39.
Diese Anschauung Rudolf Steiners ermöglicht einen neuen Bezug zur Ganzheit des Menschen als ein sich durch unterschiedliche Seinszustände entwickelndes physisch-seelisch-geistiges Wesen. Das Kind als ein Wesen, das sein ICH im Erdenleben erfahren möchte und seine Geschichte aus seinem vorgeburtlichen Leben mit auf die Erde genommen hat. Von dieser Betrachtung ausgehend, können Waldorflehrer:innen danach streben, Impulse im Umgang mit dem Tod an Waldorfschulen zu setzen, um die ihnen anvertrauten Schüler:innen in ihrer seelischen Entwicklung und Entfaltung anzuregen. Dem zugrunde liegend werden nun die verschiedenen Entwicklungsphasen mit den besonderen Merkmalen der von Rudolf Steiner genannten menschlichen Entwicklungsstufen unter menschenkundlichen Aspekten der Waldorfpädagogik erörtert.
Die Wesensglieder des Menschen entwickeln sich in Siebenjahresperioden. Sie sind mit der Geburt veranlagt, reifen aber erst in einem bestimmten Lebensalter in annähernd siebenjährigen Perioden aus. Mit der zeitlichen Entwicklung der Wesensglieder stellt Steiner damit verbundene Bedürfnisse heraus, die Kinder auch an ihre Lehrer:innen richten.40 Das Kind ist im ersten Jahrsiebt ganz ein nachahmender Mensch. Im zweiten Jahrsiebt strebt es nach Autorität und will „dasjenige aufnehmen, was es wissen, fühlen und wollen soll.“41 Mit etwa 14 Jahren, im dritten Jahrsiebt, „beginnt die Sehnsucht des Menschen“42 durch die Bildung eines eigenen Urteils, mit der Welt in Beziehung zu treten. „Daher müssen wir fortwährend darauf Rücksicht nehmen, (…) den Menschen entwickeln, der gewissermaßen aus dem innersten Wesen seiner Natur nach Autorität strebt.“43 „Das erste Kindesleben bis zum Zahnwechsel geht mit der unbewussten Annahme vor sich: Die Welt ist moralisch. Das zweite Lebensalter vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife, verläuft in der unbewussten Voraussetzung: Die Welt ist schön. Und erst mit der Geschlechtsreife beginnt dann so recht die Anlage dafür, auch das in der Welt zu finden: Die Welt ist wahr.“ Ab der Pubertät sucht der Mensch nach einer eigenen Wahrheit, nach der eigenen Identität, nach Idealen.44
Diese drei von Rudolf Steiner erkannten Systeme stehen im direkten Zusammenhang mit den menschlichen Entwicklungsphasen. Geistiges Selbstverständnis steuert körperliche Materie, biologische Prozesse. Von diesen Erkenntnissen durchdrungen, durchseelt, können Waldorflehrer:innen die Entwicklungstendenzen der ihnen anvertrauten Schüler:innen wertfrei beobachten, beschreiben und für sie im Unterricht unter Berücksichtigung der Lebensjahrsiebte erlebbar machen. Steiner hatte die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen in Abschnitte von jeweils sieben Jahren eingeteilt. Im letzten Drittel, zwischen 14 und 21 Jahren, nimmt die geistige Reife viel Raum ein. Diese Ansicht von Rudolf Steiner bedeutet, dass bis zu diesem Alter das Kreative und Künstlerisch-Spielerische im Vordergrund steht, während Waldorflehrer:innen den Intellekt der Schüler:innen erst danach fördern und fordern.
Im Folgenden wird ein Überblick über das Todesverständnis nach Lebensjahrsiebten ab dem Schulalter, individuell beeinflusst von der jeweiligen sozialen, kulturellen und religiösen Umgebung45, gegeben:
1. Ende vom ersten Jahrsiebt, dem fünften bis sechsten Lebensjahr:
Kinder in den sogenannten Schuleingangsklassen46 begreifen Tod und Trauer zunehmend, bringen so manchen Erwachsenen mit ihren unbefangenen Fragen, wie was nach dem Tod sein wird, aus der Fassung. In Spielen verarbeiten Kinder ihre Verlusterfahrung. Sie verstehen noch keine theoretischen Einsichten/ Abstraktionen, können sich den Begriff „Tod“ nicht vorstellen.
2. Siebtes bis vierzehntes Lebensjahr:
Unterstufenkinder47 haben teilweise schon sehr klare Vorstellungen davon, dass der Tod eine unumkehrbare Trennung bedeutet. Ihnen wird bewusst, dass auch sie sterben können. Je jünger die Kinder sind, desto weniger äußern sie ihre Trauer in Worten, sondern im Verhalten und Handeln. So werden manche von ihnen im Selbstschutz vor dem Unbegreifbaren lachen anstatt weinen. Andere zeigen sich aufgrund ihrer Überforderung aggressiv. Einige Kinder sind besonders angepasst, damit ihre Eltern nicht noch trauriger werden. Wiederum andere entwickeln unter Umständen Fantasien, die sie noch mehr ängstigen als die Realität. Mit der spontan ausgelebten kindlichen Trauer wird unbewusst das eigene Leben geschützt. In einem nächsten Entwicklungsschritt, etwa in der Mittelstufe48, begreifen die Kinder die Bedeutung des Todes immer mehr wie Erwachsene.
3. Vierzehntes bis neuzehntes Lebensjahr49
Zu Beginn dieses dritten Jahrsiebts, in dem Jugendliche körperlich, geistig und seelisch ihre persönliche Identität finden, gewinnen häufig religiöse, spirituelle und philosophische Überlegungen an Bedeutung. Mit zunehmendem Alter verdrängen Jugendliche zum Teil Gedanken an Tod und Sterben. Einigen fällt es schwer, ihre emotionale Betroffenheit zu zeigen. Anstatt in der Trauerstimmung zu Hause zu bleiben, treffen sie lieber Gleichaltrige, um Normalität zu finden. Andere wiederum begeben sich in den Schutz der (nicht mehr vollständigen) Familie, um füreinander da zu sein. „In der Begleitung von trauernden Jugendlichen ist es wichtig, sich beide Bedürfnisse bewusst zu machen: einmal das Bedürfnis nach Abgrenzung und Suche nach eigener Identität, zum anderen das Bedürfnis nach Solidarität mit Gleichaltrigen in ähnlicher Situation, nach Austausch und eigenständiger Orientierung.“50
Die Grundlage für Pädagog:innen, auch für den Umgang mit dem Tod im Schulalltag, ist ein vom Willen und vom Gemüt durchzogenes Wissen vom Wesen des werdenden Menschen. Daraus resultiert ein „pädagogischer Instinkt“51. Dieses „Wissen“ kann man sich nicht anlesen, sondern es beruht auf Erfahrungen (Beobachtungen und Reflexionen des Beobachteten). Immer wieder macht man neue Erfahrungen und Beobachtungen. Von daher kann dieses Wissen nie abgeschlossen sein, sondern wird stets durch die Kinder umgebildet.
[...]
1 https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/337277/jahrhunderthochwasser-2021-in-deutschland (09.11.2021,10h)
2 GA 161, 2.2.1915, 81
3 GA 161, 7.2.1915, 128
4 GA 157, 6.7.1915, 188
5 Lamnek 2005
6 vgl. Mayring 2002, 68
7 vgl. Flick 2010
8 https://www.aerzteblatt.de/archiv/219064/Sterbeorttrend-und-Haeufigkeit-einer-ambulanten-Palliativversorgung-am-Lebensende (01.12.2021, 11h)
9 https://www.aeternitas.de/inhalt/aktuelles/meldungen/2021_07_26__11_41_18-Anteil-kirchlicher-Bestattungen-weiter-ruecklaeufig/show_data (08.12.2021, 10 h)
10 https://www.trostwerk.de/ (08.12.2021, 11h)
11 https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Todesursachen/_inhalt.html (01.12.2021, 12h)
12 https://de.wikipedia.org/wiki/Tod (01.12.2021, 12h)
13 https://de.wikipedia.org/wiki/Trauer (09.12.2021, 11h)
14 https://www.zeit.de/2010/19/Trauerreisen/komplettansicht (09.12.2021 11h)
15 https://www.trauerreise.de/
16 Anders Handeln (2019), 44-47
17 Kübler-Ross (1987), 16-93
18 vgl. ebd., 94
19 Kast (1999), 71-90
20 Farm (2014), 62-78
21 vgl.ebd. 62-63
22 ebd. 40
23 ebd. 123-124
24 https://www.waldorfschule.de/ (15.12.2021, 10h)
25 Steiner (1927), Anthroposophische Leitsätze Nr. 1
26 https://de.wikipedia.org/wiki/Plotin (29.05.2022, 11h)
27 Hellmundt (2004), 3
28 vgl. ebd. 3
29 Steiner (2019), 35-50
30 vgl. ebd. 39-40
31 ebd. 40
32 ebd. 41-42
33 ebd. 38
34 ebd. 49-50
35 Steiner (2019), 41-44
36 http://bdn-steiner.ru/modules.php?name=Ga (07.02.2022,11h); GA 40, 121
37 Steiner (2019), 192-207
38 Steiner (2019), 44-45
39 Steiner (2019), 133-135
40 Steiner (2019), 410-422
41 Steiner (2019), 411
42 Steiner (2019), 411
43 Steiner (2019), 411
44 Steiner (2019), 421-422
45 vgl. Onnasch/ Gast (2012),92-96
46 Schulpflichtige Kinder mit kleineren Reifeverzögerungen werden in einer kleinen Gruppe in Waldorfschulen an das schulische Lernen gewöhnt, nach diesem Übergangsjahr von der Kita regulär in die erste Klasse eingeschult.
47 1.-4. Klasse
48 5.-8. Klasse
49 Abiturienten sind in der Regel 17-19 Jahre alt
50 Onnasch/ Gast (2012),95
51 Steiner (2019), 410
- Citation du texte
- Damaris Grunwald (Auteur), 2022, Vom Umgang mit dem Tod im Schulalltag, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1311469
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