Das Vorurteil und 'Nachurteil' im Exil


Essay, 2008

17 Seiten, Note: 1,5


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

I Einleitung

II Das Vor- und ‚Nachurteil’ im Kontext der Exilsituation
a) Begriffe
b) Exil und Vorurteil

III Beispiele für das Vor- und ‚Nachurteil’ im Exil
a) enemy aliens und andere Stigmatisierungen
b) Stimmen aus dem Exil

IV Fazit

Literaturverzeichnis

I Einleitung

„England, schien mir, war ein Paradies, ein Land ohne Leiden, beständig, ausgenommen vom allgemeinen Schicksal der Menschheit, eine glückliche Insel von Tagträumern.“[1]

Eine ganze Menge Hoffnung, aber auch eine gehörige Prise Voreingenommenheit steckt in diesem Kommentar des jüdischen Exilierten Fred Uhlman. Er war einer unter Unzähligen, die während des nationalsozialistischen Regimes Deutschland verließen um in einem anderen Land Zuflucht zu suchen. Dabei lassen sich die Exilerlebnisse keineswegs über einen Kamm scheren – jedes Individuum hatte ein einzigartiges Schicksal zu tragen. Wie unterschiedlich die einzelnen Geschichten jedoch auch waren, eines hatten alle Exilierten gemeinsam: Ausnahmslos hatten sie eine doppelwandige Mauer zu überwinden, um sich in ihrem fremden Zuhause zurechtzufinden – gleich zwei Schranken aus Vorurteilen, auf der eigenen ebenso wie der fremden Seite. Abhängig vom Einzelfall war sowohl das eigene Vorurteil gegenüber dem neuen Land als auch das ‚dem Vorurteil Ausgesetztsein’ der Exilierten[2]. Während einige mit offenen Armen empfangen wurden, wurden zeitgleich andere als unerwünschte Eindringlinge ihrer Würde beraubt.

Durch die Situation des Massenexils sowie die insulare Lage Großbritanniens sind außergewöhnliche Rahmenbedingungen für die Bildung des Vorurteils gestellt. Dies macht die Untersuchung des Vor- und ‚Nachurteils’ gerade im deutschen Exil in Großbritannien 1933-1945 besonders interessant. Auf den Aspekt des ‚Nachurteils’ sowie weitere essentielle Begriffe wird in II a) eingegangen. In II b) werden die besonderen Bedingungen des Exils und die sich daraus ergebenden Einflüsse auf das Vorurteil untersucht. In Kapitel III wird das Vor- und ‚Nachurteil’ im Exil anhand ausgewählter Beispiele aufgezeigt; dabei werden die Exilierten in III a) als Bevorurteilte und in III b) als Vorurteilende betrachtet.

II Das Vor- und ‚Nachurteil’ im Kontext der Exilsituation

a) Begriffe und Definitionen

Eine gängige sozialpsychologische Definition des Begriffes Vorurteil lautet folgendermaßen:

„Als Vorurteile bezeichnet man eine gelernte Einstellung gegenüber einem Zielobjekt, bei der negative Gefühle (Abneigung oder Angst) und negative Annahmen (Stereotype) beteiligt sind, die als Rechtfertigung für die Einstellung dienen.“[3]

Dabei wird das Vorurteil jedoch einseitig als negativ bewertet. Vorurteile im Sinne einer inneren Voreingenommenheit können aber ebenso positiv sein. Daraus ergibt sich, dass Vorurteile auch auf positiven Gefühlen wie Zuneigung oder Hoffnung und positiven Stereotypen beruhen können. In dieser Arbeit wird das Vorurteil zunächst als neutral angesehen, um es dann ggf. zu spezifizieren.

Der Begriff des Vorurteils wird im Titel dieser Arbeit durch den des ‚Nachurteils’ ergänzt. Dies geschieht aus zweierlei Gründen. Erstens wird versucht, ein vollständiges Bild des Vorurteils im Exil zu zeichnen; nur indem das ‚Nachurteil’ aufgezeigt wird, kann die Art und Intensität des Vorurteils bewertet werden. Dabei ist mit dem Vorurteil das Urteil vor dem Exil-Erlebnis gemeint, während das ‚Nachurteil’ das Urteil im Nachhinein meint. Ebenjenes – und das ist der zweite Grund für die Betrachtung dieses Aspektes – ist in den meisten Aufzeichnungen und Biographien der Betroffenen zu finden. So werden in den Quellen zwar die Vorurteile von damals beschrieben; doch werden sie aus der Perspektive der nach dem Exilerlebnis stehenden Person erläutert. Dadurch werden die vergangenen Erlebnisse und Urteile oft neu bewertet und revidiert, was die Aufspürung der eigentlichen Vorurteile, wie sie damals tatsächlich existierten, erschwert. So ist auch das in III b) untersuchte Vorurteil gewissermaßen bereits als ‚Nachurteil’ zu sehen.

Berichtet man über die im zweiten Weltkrieg im Exil lebenden Personen, ist auf die zu verwendende Bezeichnung zu achten. Verbannte waren sie nicht; denn wären sie als politische Gegner im dritten Reich ‚verbannt’ worden, wären sie in Konzentrationslagern untergekommen. Der von den Nationalsozialisten häufig verwendete Begriff Emigrant hingegen deutet auf eine freiwillige Auswanderung in ein anderes Land hin[4] ; auch dies ist bei den ins Exil gegangenen nicht ganz zutreffend – wenn sie nicht gerade aus Solidarität und/oder reinem Gewissenskonflikt ihr Heimatland verlassen haben[5], dann war es der Gefahr wegen, derer sie sich als Juden, bzw. als politische und kulturelle Regimegegner ausgesetzt sahen. Als Flüchtlinge kann man somit letztere zusammenfassen – die tatsächlich Verfolgten:

„Die meisten waren wirklich ‚refugees’ und nicht Emigranten, die meisten waren vertriebene Juden, die mit Deutschland und mit Politik möglichst wenig zu tun haben wollten und versuchten sich eine Art Existenz aufzubauen.“[6]

Als ‚refugees’ wurde nach Dove die Masse der Exilierten auch seitens der Länder, die sie aufgenommen hatten, angesehen.[7] Auch dieser Begriff lässt sich jedoch nicht universell auf alle im Exil lebenden Individuen anwenden. Fälle, in denen anstatt akuter Gefahr schlichte Solidarität und/oder ein Gewissenskonflikt die Hauptgründe für die Emigration waren, mag die Bezeichnung Flüchtling unzutreffend sein. Die wohl neutralste Benennung ist tatsächlich auch die einfachste: im Exil lebende Personen oder Exilierte – als solche haben sie sich zumeist auch selbst betrachtet.[8]

Ausgehend davon lassen sich die Exilierten in unterschiedliche zu differenzierende Gruppen einteilen. Insbesondere für diese Untersuchung ist zunächst relevant, ob der Exilierte das Land freiwillig verlassen hat oder durch drohende oder tatsächliche Verfolgung dazu gezwungen wurde. Die ersteren sind meist aus Gründen der Unvereinbarkeit der ihr zugeteilten Aufgabe mit ihrem Gewissen emigriert – ein Beispiel hierfür sind Schriftsteller, die ihre Werke nicht mehr publizieren durften. Schon diese Gruppe der sogenannten kulturell Verfolgten fühlte sich – oft zurecht – von den Nationalsozialisten bedroht.[9] Die meisten der unfreiwilligen Emigranten waren jedoch entweder Juden sowie in ‚Rassenschande’ lebende Personen oder politische Regimegegner, wie zum Beispiel Kommunisten, Sozialdemokraten oder Monarchisten. Nicht zu vernachlässigen sind auch die Klassenunterschiede, denn abgesehen von den zahlreichen prominenten Beispielen aus der intellektuellen Elite des Exils gab es abertausende von Menschen unterschiedlichster Schichten, die Schutz im Exil suchten.

Schon bei dieser groben Einteilung wird deutlich, dass die Exilierten keineswegs als eine homogene Gruppe angesehen und untersucht werden können, sondern äußerst differenziert betrachtet werden müssen.

b) Exil und Vorurteil

Von der Machtübernahme Hitlers 1933 an verlassen zunehmend große Zahlen jüdischer oder andersdenkender Deutscher Großdeutschland meist überstürzt, um sich – vorübergehend oder permanent – in einem anderen Land anzusiedeln. Erst 1938/39 jedoch, als der Kriegsbeginn nach dem Anschluss Österreichs und der Reichspogromnacht bereits vorauszusehen ist, setzt der hauptsächliche Flüchtlingsstrom nach Großbritannien ein.[10] Das Phänomen vom Zusammenprall zweier kulturell verschiedener Gruppen tritt dabei von beiden Seiten unerwartet ein. Einerseits ist das Zielland Großbritannien nicht auf eine hohe Anzahl von Flüchtlingen vorbereitet. Die Flüchtlingszahlen übertreffen regelmäßig die Schätzungen jüdischer Institutionen sowie britischer Autoritäten.[11] Andererseits wird die Bildung des Vorurteils seitens der Exilierten durch die – im Fall des Exils häufig auftretende – Überstürztheit der Umsiedlung beeinträchtigt. Bei ins Exil gehenden Personen ist damit zu rechnen, dass sie wenig oder gar keine Zeit haben um sich auf das Leben in der neuen Heimat vorzubereiten. Das Exil stellt somit als besondere Art der Migration außergewöhnliche Rahmenbedingungen – auch für das Vorurteil. Mit zahlreichen anderen Fällen der Massenmigration hat das Exil des zweiten Weltkrieges aber zumindest eines gemeinsam: den beinahe schon populären Vorwurf, dass die neuen Bürger den Einheimischen ‚die Arbeitsplätze wegnähmen’. Damit einher geht auch die Annahme, dass die ausländischen Neulinge dem Staat ‚auf der Tasche sitzen’, sich vom Steuerzahler sozusagen ‚ernähren lassen’. Des weiteren ist zu bedenken, dass es sich bei den Flüchtlingen in den meisten Fällen immerhin um Deutsche und somit Bürger eines feindlichen Landes handelte, von britischen Autoritäten auch ‚enemy aliens’ genannt. Äußerste Vorsicht im Umgang mit den Neuankömmlingen ist also in den Exilländern – verständlicherweise – an der Tagesordnung. So gehört es zwar sicherlich zur Kriegsstrategie, mögliche Spione aufzuspüren. Dennoch lässt sich nicht bestreiten, dass Vorurteile auch hier die Vorgänge in einem gewissen Maße beeinflussen.

[...]


[1] Fred Uhlman (1992), Erinnerungen eines Stuttgarter Juden (Stuttgart: Klett-Cotta), S. 144.

[2] In dieser Arbeit wird stets die Passiv-Form gebraucht; so wird immer von der Seite der Exilierten ausgegangen: einerseits wird ihre ‚Täterrolle’ als Vorurteilende, andererseits ihre ‚Opferrolle’ als Bevorurteilte untersucht. Dies wird unter anderem deshalb auf diese Weise gehandhabt, da viele Quellen aus der Feder der Exilierten stammen und somit subjektiver Natur sind. Bei Benutzung der aktiven Form würden die Vorurteile in III a) dem britischen Volk in mancherlei Hinsicht unterstellt werden. Das soll hiermit vermieden werden.

[3] Zimbardo, Philip G. und Richard J. Gerrig, bearbeitet und herausgegeben von Siegfried Hoppe-Graff und Irma Engel (1999), Psychologie (Berlin, Heidelberg, New York: Springer), S. 436.

[4] Richard Dove (2000), „Fremd ist die Stadt und leer...“ – Fünf deutsche und österreichische Schriftsteller im Londoner Exil 1933-1945 (Berlin: Parthas Verlag GmbH), S. 10.

[5] siehe III b) Beispiel Sebastian Haffner

[6] Sebastian Haffner (2006), Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933 & Als Engländer maskiert. Ein Gespräch mit Jutta Krug über das Exil (München: Random House GmbH), S. 356.

[7] Richard Dove (2000), a. e. O., S. 10.

[8] Ebd., S. 10.

[9] Jutta Vinzent (2006), Identity and Image. Refugee Artists from Nazi Germany in Britain (1933-1945) (Weimar: Schriften der Guernica-Gesellschaft), S. 28f.

[10] Richard Dove (2000), a. e. O., S. 10.

[11] James M. Ritchie (1997), German Exiles. British Perspectives (New York : Peter Lang Publishing Inc.), S. 8.

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Das Vorurteil und 'Nachurteil' im Exil
Hochschule
University of London
Veranstaltung
In Pursuit of Prejudice - Anglo-German Cultural Relations
Note
1,5
Autor
Jahr
2008
Seiten
17
Katalognummer
V132008
ISBN (eBook)
9783640419067
ISBN (Buch)
9783640419012
Dateigröße
481 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Vorurteil, Nachurteil, Exil
Arbeit zitieren
Daria Eva Stanco (Autor:in), 2008, Das Vorurteil und 'Nachurteil' im Exil, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/132008

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