Der Untertan als Lernziel

Die Schule im deutschen Kaiserreich 1871 bis 1918


Term Paper, 2008

16 Pages, Grade: 1,3


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Zu den Begriffen Erziehung, Sozialisation und Unterricht

3. Die Schule in der Klassengesellschaft
3.1. Die höhere Bildung
3.2. Die niedere Bildung

4. Lernziel: Untertan

5. Das Militär und die Schule der Kaiserzeit

6. Schlussbetrachtung

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung

„Wir müssen als Grundlage für das Gymnasium das Deutsche nehmen; wir sollen nationale junge Deutsche erziehen und nicht junge Griechen und Römer.“[1] Diese Worte machen deutlich, was Kaiser Wilhelm II. von den Schulen erwartet, beziehungsweise, was er als Voraussetzung jeden Unterrichts ansieht. Der Schule kamen in jeder Zeit wichtige gesellschaftliche Funktionen zu. In der Zeit des deutschen Kaiserreiches zwischen 1871 und 1918 muss man diese allerdings kritisch beleuchten und hinterfragen. Veränderte sich die Schule in der aufkommenden Industriegesellschaft und wenn ja, auf welche Weise? Welches Ziel stand in der schulischen Bildung des Kaiserreichs im Mittelpunkt?

Die vorliegende Arbeit beginnt zunächst mit einem Kapitel zur Klärung der Begriffsdefinitionen von Sozialisation, Erziehung und Unterricht. Anschließend ist die Schule in der Klassengesellschaft Gegenstand der Betrachtung. Dabei wird auch ein genauerer Blick auf die höheren Schulen und die Volksschulen geworfen. Der größte Abschnitt wird dann die Ziele des Unterrichts im Kaiserreich behandeln, wobei ein Blick auf Anweisungen durch den deutschen Kaiser und Schulbücher aus der Kaiserzeit geworfen wird. Abschließend erfolgt noch ein kurzer Blick auf das Militär und seine Interessen am Schulwesen.

Die Literatur zum Thema ist vielseitig. Allerdings beschränken sich viele Monographien und Aufsätze auf schulgeschichtliche Aspekte. Aus diesem Bereich wurde hier das Werk von Bruno Hamann verwendet, der eine übersichtliche Einführung in alle wesentlichen Aspekte der einzelnen Schulformen in knapper Form gibt.[2] Daneben gibt es aber auch zahlreiche Arbeiten, die sich explizit mit Themen beschäftigen, die für diese Arbeit geeignet waren. An dieser Stelle sei nur auf zwei Bücher verwiesen. Zum einen „Erzieherisches Denken und Handeln“[3] von Hans Rauschenberger und zum anderen „Die Bildung der Nation“[4] von Hellmut Becker und Gerhard Kluchert. Beide beschäftigen sich intensiv mit Fragen der Wechselbeziehungen zwischen Schule und Gesellschaft und den Intentionen, die die Schule im Kaiserreich verfolgte.

2. Zu den Begriffen Erziehung, Sozialisation und Unterricht

Bevor man einen konkreten Blick auf die Schule im deutschen Kaiserreich wirft, muss man sich zunächst einmal theoretisch mit wichtigen Begriffen auseinandersetzen. Als erstes wäre an dieser Stelle der so oft benutzte Begriff der Sozialisation zu nennen. Darunter versteht man bekanntlich den Prozess, durch den Individuen im Umgang mit anderen – Individuen, Gruppen und Organisationen – sozial handlungsfähig werden. Innerhalb dieses Prozesses lernen sie Normen und Werte der Gesellschaft kennen.[5] Auffällig an dieser Definition ist, dass Sozialisation offenbar ein Prozess ist, der unabsichtlich geschieht. Der Umgang mit anderen, durch den die Normen und Werte gelernt werden, scheint nicht geplant und nicht unbedingt auf ein Ziel ausgerichtet zu sein. Mit den Worten von Niklas Luhmann erbringt Sozialisation folgende Leistung: „Sozialisation vermittelt natürliche und soziale Verhaltensbedingungen als Selbstverständlichkeiten.“[6] Damit ist ein Teil der „Untertanenkultur“ im Kaiserreich erklärt, aber vollständig lässt sie sich dadurch noch nicht verstehen. Die Schule stellte damals, sicher noch mehr als heute, einen wichtigen Teil der Sozialisation dar. Die Schule erzieht und hat erzogen.[7] Was aber ist unter dem Begriff Erziehung zu verstehen?

„Erziehung ist dagegen ein Prozess, in dem Personen, Gruppen oder Organisationen versuchen, das Verhalten einzelner gezielt, nach Plan, zu ändern.“[8] Bereits in diesem Satz zeigt sich der markante Unterschied zum Begriff der Sozialisation: Erziehung geschieht mit Absicht. Erziehung, beziehungsweise das Erziehungssystem, ist eine Institution, deren Hauptintention die gesellschaftliche Reproduktion ist – es sollen brauchbare Gesellschaftsmitglieder hergestellt werden.[9] Wie sich zeigen wird, handelte die Schule des Kaiserreichs vorbildlich nach dieser Intention. Niklas Luhmann markiert noch einen Unterschied zwischen den beiden Begriffen: die Kommunikation. „Mit der Angewiesenheit auf Kommunikation ist Erziehung zwangsläufig ein gesellschaftlicher Prozeß, während Sozialisation über Handlung und Nachahmung laufen kann.“[10] Wie wichtig dabei die Form der Kommunikation ist, bleibt hier offen. Allerdings kann man davon ausgehen, dass eine offene Kommunikation einer Erziehung wohl förderlicher ist. In der Schule des Kaiserreiches war diese – wie sich zeigen wird – nicht unbedingt gegeben. Dies soll aber nicht heißen, dass die Erziehung im Kaiserreich als schlecht zu bewerten ist. Erziehung verfolgt, wie oben gesagt, einen Plan, beziehungsweise ein Ziel. Wenn dieses erreicht ist, hat die Erziehung nicht versagt. Eine Bewertung von Erziehung ist erst im Nachhinein möglich und auch nicht Ziel dieser Arbeit.

Zum Ende dieses Kapitels noch eine kurze Definition von Unterricht, in dessen Form sich Erziehung schließlich in der Schule ausdrückt: „Unterricht ist die planmäßige Interaktion von Lehrenden und Lernenden zum Aufbau von Sach-, Sozial- und Selbstkompetenz im institutionellen Kontext der Schule.“[11] Betrachtet man diese Definition, so fallen sofort die Parallelen zur vorher durchgeführten Begriffserklärung für Erziehung auf: sowohl Erziehung als auch Unterricht verfolgen planmäßig bestimmte Ziele und zeichnen sich durch Kommunikation aus. Die Ziele, die die Schule dabei erreichen soll, werden ihr als gesellschaftlicher Institution von eben dieser Gesellschaft vorgegeben.

3. Die Schule in der Klassengesellschaft

Betrachtet man die Zeit des deutschen Kaiserreiches, so wird deutlich, dass es hier zwei mögliche Blickwinkel gibt. Zum einen die kleinbürgerliche Idylle, deren typisches Symbol die „Gartenlaube“ war. Auf der anderen Seite steht ein staatlich geordnetes Zusammenleben, das das Leben mit Strenge verwaltet. Letztlich war es der Staat, der den Menschen Handel und Wandel gestattete und dafür ihre Treue einforderte.[12] Typisch für die Zeit des Kaiserreiches war der Gegensatz zwischen Aufbruchstimmung und starkem nationalen Ordnungsdenken. Die Wirtschaft blühte und den Menschen zeigte sich eine Wirklichkeit, in der Grenzen zu verschwinden schienen. Andererseits war die Politik im Innern von einer starren Ordnung geprägt. Wer seine soziale Stellung behaupten oder verbessern wollte, musste sich an der staatlichen Autorität orientieren. In einer Zeit starker Industrialisierung, Verstädterung und Vermassung vergrößerte dies letztlich die Kluft zwischen Bessergestellten und einfachen Arbeitern.[13] Diese Entwicklung betraf in zweifacher Weise auch das Schulsystem. Auf der einen Seite wirkte diese gesellschaftliche Entwicklung auch in der Schule, auf der anderen Seite die Schule an dieser gesellschaftlichen Entwicklung mit.

Wie sich das Schulsystem in den Augen eines Zeitgenossen darstellt, zeigt folgender Bericht: „Das deutsche Schulwesen der Gegenwart bietet auf den ersten Blick das Bild einer bunten Mannigfaltigkeit und Vielseitigkeit, die allen intellektuellen Bedürfnissen des deutschen Volkes Rechnung zu tragen scheint. Es gibt Volksschulen, Vorschulen, Bürgerschulen, Mittelschulen, Mädchenschulen, Fortbildungsschulen, Realschulen, Oberrealschulen, Realgymnasien, Gymnasien, Mädchengymnasien, technische Mittelschulen, technische Hochschulen, Akademien und Universitäten. [...] Kann denn nicht gerade bei einer solchen reichen Auswahl jeder Unterschied im intellektuellen Wollen und Können des einzelnen Kindes zu seinem Rechte kommen? Leider nein! In der rauhen Wirklichkeit des heutigen Schulwesens entscheiden nicht der Wunsch und die Fähigkeiten des einzelnen Kindes darüber, welche Schule es besuchen soll, sondern ein für das körperliche wie geistige Können an sich vollkommen gleichgültiger Faktor: das Geld des Vaters! In Wirklichkeit besitzt das deutsche Schulwesen nicht eine fortschrittliche, anregende und befruchtende Vielseitigkeit, sondern es ist durch die schulfremde, äußere Gewalt des Geldes schroff und intolerant in zwei an Größe und Leistungsfähigkeit total ungleiche Lager geschieden, es wird wie die ganze heutige Gesellschaftsordnung durch den Klassengegensatz zerklüftet.“[14] So charakterisiert Heinrich Schulz, der führende Bildungsexperte der Sozialdemokratie, das Schulwesen im Reich Wilhelms II. kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Tatsächlich ist die Grenze zwischen dem Reich der höheren und der niederen Bildung auffällig. Allerdings ist die hier getroffene Einschätzung wohl etwas vereinfachend, was sicher auch auf die parteipolitische Färbung des Autors zurückzuführen ist. Eine Beziehung zwischen Bildung und Besitz ist (teilweise bis heute) nicht zu bestreiten, aber sie ist nicht in dem Maße evident, wie sie von Schulz geschildert wird. Pierre Bourdieu drückt dies folgendermaßen aus: „Es ist von daher nur zwingend, sich zunächst dem sicherlich bestverborgenen Effekt der Institution Schule zuzuwenden, der bei näherem Augenschein als Folge der Durchsetzung von Titeln, d.h. von Schulabschlüssen und Bildungspatenten, erkennbar wird, als Spezialfall des Effekts der Statuszuweisung, den – positiv als Auszeichnung, negativ als Stigmatisierung – jede Gruppe durch Zuweisung der Individuen zu hierarchisch gestaffelten Klassen erzeugt.“[15]

Trotz des weiterhin tiefen Grabens zwischen niederer und höherer Bildung und sozialer Schicht ist in der Zeit zwischen 1871 und 1918 vieles in Bewegung geraten – die Schule hat sich verändert. Auch gab es viele Verschiebungen im sozialen Gefüge, die Auswirkungen auf das Bildungssystem hatten und dann wiederum auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zurückwirkten.[16]

3.1. Die höhere Bildung

Dominierend im Bereich der höheren Bildung war das Gymnasium, wie es durch die Reformen von Humboldt und Süvern zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstand.[17] Seit 1812 war das Abitur Voraussetzung für den höheren Staatsdienst und seit 1834 Zugangsbedingung für die Universitäten. Höhere Schulen wurden somit „Kaderschmieden“ für die Beamtenschaft und boten die Möglichkeit, dem eigenen Stand eine innere Geschlossenheit zu verleihen und den Einfluss auf den Staat zu vergrößern.[18] Die Industriegesellschaft stellte aber andere Ansprüche an die Schule – eine allgemeine Menschenbildung durch die Beschäftigung mit den klassischen Sprachen war nicht das, was in den Führungsetagen großer Unternehmen gebraucht wurde. Mit dem Durchbruch der Industrie geriet das Bildungssystem zunehmend unter Modernisierungszwang – die hauptsächlichen Forderungen waren dabei die stärkere Etablierung moderner Fremdsprachen und der Naturwissenschaften.[19] Es ist gut nachzuvollziehen, dass dies für das etablierte deutsche „Bildungsbürgertum“ ein Unding war, weshalb sich eine Durchsetzung solcher Lehrplanveränderungen an Gymnasien als schwer erwies. Es musste also ein anderer Weg gefunden werden, den Ansprüchen dieser in der Industrialisierung entstandenen Gesellschaft Rechnung zu tragen.

Die Lösung dieses Problems stellte die Gründung, beziehungsweise Etablierung, der Realgymnasien und Oberrealschulen dar. Ihre Namen erhielten sie, weil die Ausbildung in Realien erfolgte – sprich in den geforderten modernen Sprachen und naturwissenschaftlich-technischen Fächern.[20] Dies hatte allerdings einen ungewünschten Nebeneffekt: Gymnasien und die „Realschulen“ standen in Konkurrenz. Man kann vielleicht sogar soweit gehen zu sagen, dass es dadurch zu einer gewissen Spaltung in der Mittel- und gehobenen Schicht im deutschen Kaiserreich kam. Das Problem war dabei organisatorischer, beziehungsweise bürokratischer Art: weiterhin berechtigte nämlich nur der Abschluss an Gymnasien zum Besuch der Universität. Zudem brachte die Situation zu Beginn der Achtzigerjahre des 19.

[...]


[1] Berthold, Michael/Schepp, Heinz-Hermann: Die Schule in Staat und Gesellschaft: Dokumenten zur deutschen Schulgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen, Zürich 1993. Hier S. 187.

[2] Hamann, Bruno: Geschichte des Schulwesens: Werden und Wandel der Schule im ideen- und sozialgeschichtlichen Zusammenhang. Bad Heilbrunn 1986.

[3] Rauschenberger, Hans: Erzieherisches Denken und Handeln: gesellschaftliche Entwicklungen in ihrer Wirkung auf Schule und Unterricht. München 1999.

[4] Becker, Hellmut/ Kluchert, Gerhard: Die Bildung der Nation: Schule, Gesellschaft und Politik vom Kaiserreich zur Weimarer Republik. Stuttgart 1993.

[5] Vgl. Feldmann, Klaus: Soziologie kompakt: Eine Einführung. Wiesbaden 2006. Hier S. 239.

[6] Luhmann, Niklas: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Frankfurt am Main 2002. Hier S. 53.

[7] Vgl. Feldmann: Soziologie kompakt. S. 239.

[8] Ebda.

[9] Vgl. Ebda. S. 244.

[10] Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. S. 53.

[11] Jank, Werner/Meyer, Hilbert: Didaktische Modelle, Frankfurt a.M. 1991. S. 46.

[12] Vgl. Rauschenberger: Erzieherisches Denken und Handeln. S. 11.

[13] Vgl. Ebda. S.12ff.

[14] Becker/Kluchert: Die Bildung der Nation. S. 1.

[15] Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main 1982. Hier S. 48.

[16] Becker/Kluchert: Die Bildung der Nation. S. 3.

[17] Vgl. Hamann: Geschichte des Schulwesens. S. 118.

[18] Vgl. Becker/Kluchert: Die Bildung der Nation. S. 4f.

[19] Vgl. Hamann: Geschichte des Schulwesens. S. 121.

[20] Vgl. Ebda. S. 120.

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Details

Title
Der Untertan als Lernziel
Subtitle
Die Schule im deutschen Kaiserreich 1871 bis 1918
College
Dresden Technical University  (Institut für Soziologie)
Course
Gesellschaft – Bildung - Schule
Grade
1,3
Author
Year
2008
Pages
16
Catalog Number
V132254
ISBN (eBook)
9783640383375
ISBN (Book)
9783640382965
File size
425 KB
Language
German
Keywords
Untertan, Lernziel, Schule, Kaiserreich
Quote paper
Nico Mehlhorn (Author), 2008, Der Untertan als Lernziel, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/132254

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