Die politische Dimension der attischen Tragödie


Term Paper, 1999

41 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhalt

Vorbemerkung

I. Theater und Polis / Theater der Polis
1. Bürger-Identität und das Politische
2. Dionysos, Fest und Tragödie
3. Die Polis im Theater
4. Kritik der Polis im Theater

II. Aischylos: Die Konstitution der politischen Identität
1. Aischylos
2. Die politische Situation um 460 v. u. Z
3. Die Orestie
3.1. Die Fabel
3.2. Agamemnon
3.3. Choephoren
3.4. Eumeniden
3.5. Ergebnis

III. Sophokles: Der Einzelne in seinem Verhältnis zur Polis
1. Sophokles
2. Die politische Situation
3. Antigone
3.1. Die Fabel
3.2. Die politische Dimension der Antigone
3.3. Ergebnis

IV. Euripides: Inszenierung des Niedergangs
1. Euripides
2. Die politische Situation
3. Die Bakchen
3.1. Die Fabel
3.2. Die politische Dimension des Stückes
3.3. Ergebnis

Literaturnachweis
Primärtexte
Sekundärliteratur

Ungeheuer ist viel. Doch nichts

Ungeheurer, als der Mensch.

(Hölderlin nach Sophokles, Antigone)

Vorbemerkung

Die griechische Tragödie bietet eine schier unendliche Vielfalt an Assoziationsebenen und Deutungsmöglichkeiten. Allein die erhaltenen Tragödien der drei »großen« attischen Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides geben über künstlerischen Gestaltungsreichtum hinaus ein ziemlich genaues Bild von Stellung und Funktion der Tragödie im Rahmen der großen Dionysien, die eines der wichtigsten Feste der attischen Polisgemeinschaft darstellten. Anhand dreier Tragödien - Aischylos’ Trilogie Orestie, Sophokles’ Antigone und Euripides Bakchen - möchte ich versuchen, die Bedeutung der Tragödie für die attische Bürgerschaft im Fest und darüber hinaus darzustellen sowie in ihrer Konstanz bzw. Entwicklung zu zeigen. Das Hauptaugenmerk der folgenden Untersuchung soll dabei auf der politischen Dimension der Tragödie liegen. Dazu ist es notwendig, den Begriff des Politischen, der Polis, des öffentlichen Raumes und des Theaters genauer festzulegen, was im anschließenden einführenden Kapitel geschehen soll.

I. Theater und Polis / Theater der Polis

1. Bürger-Identität und das Politische

Es sollte deutlich sein, daß Politik, wenn sie zum Lebenselement einer Bürgerschaft wird, mehr als nur das ist, was Politiker und politische Gremien tun. In dem Moment wo ein jeder Bürger angehalten, ja, gezwungen ist, über alle politischen Fragen mit zu entscheiden, jede politische Handlung mit zu verantworten, bildet sie den »Bereich des Allgemeinen, des Höheren, demgegenüber alles andere weniger bedeutsam wird«.[1] Was im Griechenland der attischen Demokratie Politik (tà politiká) bedeutet, wäre am besten mit »Angelegenheiten der Öffentlichkeit der Bürger«[2] zu übersetzen. Die Öffentlichkeit der Bürger war das Zentrum des Polislebens. Ihr galt das allgemeine Interesse, sie machte die Polis überhaupt aus. Das Bürgersein erwuchs aus der starken Betonung der gemeinsamen Identität, die sich in der Öffentlichkeit konstituierte, veränderte, formte. Im Streit. Im Dialog.

Schon seit langer Zeit war es bei den Griechen üblich, daß die Dinge ›mitten unter ihnen‹, in aller Öffentlichkeit ausgetragen wurden. Denken und politische Praxis waren aufs engste miteinander verknüpft. Selbst das Denken wurde also veröffentlicht. Gegen alles, was im Geheimen, Verborgenen stattfand, war ihnen ein tiefes Mißtrauen eingeschrieben. Gerade auch Kritik mußte öffentlich sein, denn sie galt nicht allein als Einspruch gegen etwas, sondern vielmehr als Einbringung weiterer, sonst vielleicht übersehener Gesichtspunkte, die zur Problemlösung beitragen konnten. Diese Unmittelbarkeit der Identitätsfindung brachte eine Gefahr mit sich: weder auf Schulen, noch im Gottesdienst konnte diese Bürgeridentität vermittelt werden. Sie mußte erst entstehen: auf der Agora, auf den Straßen, in den öffentlichen Häusern des Staates, in Versammlungsräumen, im Theater. Das rationale Denken einer breiteren Schicht entstand überhaupt erst aus dem Politischen.

Aber es ergaben sich aus der Politik heraus ebenso Probleme, die sich allein durch Politik (noch) nicht lösen ließen, dessen Lösung aber wichtig war, wollte man Politik betreiben. Vernant hat darauf verwiesen, daß die Bürger, da sie sich eben damals erst als mehr oder minder autonom Handelnde zu begreifen begannen, sich mit dem Problem konfrontiert sahen, wieweit der Mensch wirklich die Quelle seiner eigenen Handlungen ist. Eine Routine der Problemlösung konnte es bei den Bürgern der ersten Generationen der Demokratie noch nicht geben. Ein Wegschieben der Verantwortung kam ebenso wenig in Frage. Ständig war man angehalten, über sämtliche Fragen betreffs des öffentlichen Lebens mit eigener Stimme zu entscheiden, war also herausgefordert, die diskutierten Probleme auch zu verstehen. Dabei darf nicht übersehen werden, daß die Bürger zugleich tief in religiösen und moralischen Vorstellungen verankert waren, die nicht selten den notwendigen Beschlüssen der Volksversammlung, der Innen- sowie Außenpolitik zuwiderliefen. Unweigerlich mußte sich hier eine Kluft auftun zwischen Althergekommenem und Neuem, zwischen Brauchtum, Religion und Moral auf der einen und politischer Notwendigkeit auf der anderen Seite. Diese Probleme, diese Spannungen darzustellen, zu diskutieren, ja, sie zu lösen, hat wohl die Tragödie einen entscheidenden Beitrag geleistet.

Das bedeutete jedoch zugleich, daß die Identität immer wieder neu bestätigt werden mußte, denn nichts stand still, alles war im Fluß. Das geschah vor allem auch in der Abgrenzung zu den Nicht-Bürgern, zum Nicht Bürgerlichen, Nicht-Öffentlichen. Der häusliche Bereich hatte immer mehr hinter dem der Öffentlichkeit zurückzutreten. Herkömmliche moralische Rücksichten wurden zurückgedrängt und das somit immer voraussetzungsloser verstandene politische Interesse zur obersten Richtschnur gemacht.

Unter den Beziehungen zueinander wurde die von Bürger zu Bürger die wichtigste. »Bürger« ist dabei durchaus als politische Kategorie zu verstehen. Jeder Polisbürger sah sich förmlich gezwungen, aktiv am politischen Leben der Polis teilzunehmen. Was der Bürger tun mußte, war allerdings allen anderen (Frauen, Sklaven, Fremden) verboten. Christian Meier spricht von einer Institutionalisierung der Bürger Identität: »Unter den Zugehörigkeiten der Einzelnen gewann diejenige zur Polis den höchsten Rang.«[3] Diese Identität bestätigte sich in der alltäglichen politischen Praxis immer aufs neue. Die Bürger sahen die Welt gleichsam »mit politischen Augen«.[4] Keine Instanz als allein die Instanzen der Bürgerschaft selbst war mit einer höheren politischen Weisheit ausgestattet, so daß sie »in ganz ungewöhnlichem Ausmaß für sich selbst verantwortlich«[5] war. Die Polis war nicht weniger als die Gemeinschaft aller Bürger.

2. Dionysos, Fest und Tragödie

Der Festkalender Athens im 5. Jahrhundert war umfangreich. Bis zu einem Viertel des Jahres wurde auf kultische Handlungen und ausgelassene Feste verwendet. Es kann kein Zufall sein, daß unter Perikles die Festkultur noch ausgebaut wurde. Das für das Theater und besonders im Zusammenhang mit der Tragödie wichtigste Fest waren die Großen Dionysien zu Ehren des Dionysos, der ja zugleich der Gott des Theaters, der Masken und des Weines, des Rausches und des Wahnsinns war, im alten Kult noch Vermittler zwischen empirischer Welt und Jenseits.

Dionysos oder Bakchos (der noch viele andere Namen trug) ist kein gewöhnlicher Gott, sondern in jeder Hinsicht ambivalent. Er verkörpert die Grundaporie aller Darstellung im Theater: die Ambivalenz zwischen Sein und Schein. Das beginnt mit seinem Gottsein. Man dachte sich Dionysos nicht mit den anderen »neuen« Göttern auf dem Olymp bei Zeus, Hera, Apollon und Co., Homer nennt ihn kaum, der aristokratischen Gesellschaft der Ilias und Odyssee mußte er suspekt sein. Es ist jedoch anzunehmen, daß dieser Gott dennoch lange Zeit schon »existierte«, nämlich in der Verehrung der unterdrückten Schichten, der unterworfenen Eingeborenen, der Unbegüterten und Armen. Damit stimmt überein, daß der Gott im siebenten und sechsten Jahrhundert in einem wilden und wüsten Triumphzug Hellas erobert und allen Städten seinen Kult »aufgezwungen« hat. Nur mit Mühe gelang es der Obrigkeit und der in Delphi residierenden Priesterschaft der alten Kulte, diese Welle der dionysischen Orgiastik zu kanalisieren und domestizieren, indem sie nämlich den neuen Gott in den regulären Götterdienst integrierten. Dies war nur der religiöse Ausdruck einer gesellschaftlich-politischen Entwicklung: die Unteren hatten begonnen, sich gegen die Oberen zu erheben. Der Übergang vom Feudalismus zu einem neuen Gesellschaftssystem stand im Zeichen des Klassenkampfes, dessen blutige Austragung nur vermieden werden konnte, wenn es gelang, den Unteren zum Recht im Staat zu verhelfen und die Oberen zu zwingen, diese Rechte anzuerkennen. Derjenige, dem dies in Athen gelang, war Solon. Es ist jedoch nicht belegt, ob es auch Solon war, der den Kult des Dionysos in den Staatskult integrierte oder Peisistratos, der nach Solons Tod, gestützt auf das Volk, alle Macht an sich gerissen hatte.

Allerdings erschöpfte sich die Funktion der Feste nicht im Gotteskult und in der Verehrung. Ihre Funktion war geradezu konstitutiv für das Selbstverständnis des attischen Bürgertums, dessen Identität sich erst im Brennpunkt zwischen Fest und Alltag herauszubilden schien. Die Feste dienten dem Selbsterleben der Gemeinschaft. Differenzen, Gegensätze und Konflikte des Alltags traten für diesen Zeitraum zurück hinter der Erfahrung der Zusammengehörigkeit der Bürgerschaft. Sie entschärften materielle Spannungen, da ja reiche Bürger in die Ausstattung investierten, »sie entlasteten, indem sie die Ordnung und Disziplinierung des Alltags außer Kraft setzten und deren weiteres Funktionieren erleichterten«,[6] sie hatten Ventilfunktion, indem sie Kritik, Spott und Ausgelassenheit beförderten. Der Rausch des Festes, welches dialektischer Gegenentwurf zum Alltag ist, ist als kultivierte bzw. kanalisierte Entgrenzung zu verstehen, als institutionalisierter Ausbruch aus der Alltagswelt, der zwangsläufig immer wieder in dieser zu münden hat. Es liegt nicht fern, wie C. Meier zu behaupten, daß das Fest für den Alltag ebenso wichtig, wie der Alltag für das Fest ist, daß also das eine ohne den Anderen schlecht möglich wäre und umgekehrt. Demnach entstünde die »spezielle Balance, welche das Politische braucht, in der Öffentlichkeit des Festes immer neu.«[7] Im Fest erlebte sich die Bürgerschaft ganz unmittelbar und gewann aus der Distanz zum Alltag zugleich eine konstruktiv-kritische Haltung gegenüber diesem. Der Zusammenhalt der Polisgemeinschaft mußte ja stets neu erzeugt werden. Der daraus erwachsende Bedarf an Selbstvergewisserung konnte gerade auch im Fest befriedigt werden: im Kontakt mit den Göttern, unter deren Schutz. Auch hier spielte Politik eine Rolle. Nur eben auf einer anderen Ebene. »Je größer die Erfolge, der Reichtum, die Macht der Stadt, um so mehr war sie den Göttern schuldig; an Opfern, an Anteilen aus der Beute, aber auch an Festen. Dem Nehmen mußte ein Geben korrespondieren.«[8] Dasselbe galt für die Anstrengungen der Polisbürger für die Stadt, die im Fest einen mentalen und materiellen Ausgleich erfuhren. Darin verstärkte sich die Rolle der Stadt für den Einzelnen; darin »erfüllte sich ihre Öffentlichkeit.«[9]

Dies gilt insbesondere für die Tragödie, die Themen des hic et nunc am Mythos durchspielte, in der Distanz die Gegenwart verständlicher machte (Ich würde nicht behaupten wollen »behandelbar« im brechtschen Sinne). Das kann nur funktionieren, wenn man eine relative Homogenität der attischen Bürgerschaft annimmt (eine Homogenität die u. a. ex negativo aus der Abgrenzung vom Adel und der Ausgrenzung von Sklaven und Frauen entsteht). So war den Polisbürgern vielleicht das Bedürfnis gemein, »für Geschehen und Pläne, Erleben, Gedanken, Motive und Zustände im weiten Kontext der Welt einen Sinn zu finden.«[10] Das war um so wichtiger, als ja die Demokratie mit dem überkommenen Götterbild in Einklang gebracht werden mußte. Das Nur-Rationale der alltäglichen politischen Öffentlichkeit mußte irgendwie im herkömmlichen Weltbild untergebracht werden.

Man kann also davon ausgehen, daß die Tragödien vor allem von den »Bürgern als Bürger«[11] gesehen und gehört wurden, ebenso wie die Tragiker an der Tradition des griechischen politischen Denkens entscheidenden Anteil hatten. Für die Entstehung der Bürgeridentität hatte die Tragödie eine konstitutive Bedeutung. Sie war nicht weniger wichtig als die Volksversammlung und der Rat der Fünfhundert. Nirgends war die attische Bürgerschaft so zahlreich vertreten wie im Theater, nirgends hatte sie sich so gegenwärtig als Gemeinschaft vor Augen. Was immer die Tragödie verhandeln sollte, schon in der Anwesenheit dieser Masse (bis zu 17.000 Polisbürger!) muß eine uns kaum vorstellbare Macht gelegen haben, eine Selbstbestätigung des Vorhandenseins in dem Wissen, daß alle diese Menschen um einen herum dasselbe wollen: nämlich den Erhalt, den Fortbestand ebendieser Gemeinschaft.

Als die Orestie des Aischylos aufgeführt wurde bestand die Polis Athen noch großenteils aus politisch ungebildeten, wenig erfahrenen Bürgern, die bis zu Beginn des 5. Jahrhunderts und noch darüber hinaus in ihrem provinziellen Bewußtsein dahingelebt hatten. Der Sieg über die Perser allerdings änderte die Situation von Grund auf. Plötzlich war man mächtig, hatte fast schon die Vorherrschaft in der Ägäis, der Adelsrat war gestürzt und plötzlich lag die Verantwortung für den Fortbestand und Ausbau dieser Macht in eigener Hand. In der Hand eines jeden Polisbürgers. Die Legitimation der Volksversammlung (die keine solche, sondern eine der Bürger war), setzte deren Handlungsfähigkeit voraus. Der Sieg gegen die Perser, sowie der Sturz des Areopags waren Ergebnisse höchster Rationalität. Nun sah man sich vor der Aufgabe, die neue Situation, die man selbst geschaffen hatte, auch zu beherrschen. Daß dieser mentale Umbruch innerhalb so kurzer Zeit nicht folgenlos bleiben konnte, liegt auf der Hand. »Man stand vor der Notwendigkeit, auf die bewußten und unbewußten Fragen und Zweifel, die sich ergaben, Antworten bereitzuhalten und allen daraus erwachsenden Anforderungen sich selbst zu stellen.«[12] Dies scheint besonders schwierig, wenn man die tiefe Verwurzelung im Althergekommenen, ja, zum Teil Überkommenen, bedenkt. Die enge Verknüpfung des Alltags mit der Welt der Götter, der Religion, dem Kult. Wie stand die systematisch werdende Machtpolitik zu der Forderung des »unter Griechen Gebräuchlichen«, auf das man sich immer wieder berief, weil man dessen bedurfte zur Abgrenzung gegen die Barbaren, zur Verabscheuung des Fremden, zur Legitimation des eigenen Führungsanspruches. Die Diskrepanz von Althergekommenem und Neuem schlug sich somit auch in der Tragödie nieder. »In der Tragödie traf sich herkömmliches mythisches Denken mit neuer Rationalität, Volkskultur mit Hochkultur.«[13] Am Mythos wurde immer wieder durchgespielt, »was die Bürger als Bürger beschäftigte.«[14]. Vernant meint, die Tragödie spiegelte nicht allein die Realität, sondern problematisierte sie. Insofern hätte der Mythos die Funktion gehabt, die Wirklichkeit immer wieder neu zu begründen. Daher erklärt sich auch der für uns merkwürdig anmutende Umgang mit Geschichte im Mythos. Die attische Bürgerschaft war prinzipiell offen gegenüber der Veränderung ihres nomologischen Wissens. Die Tragödie half, das Neue im Alten durchzuspielen, das Neue im Alten zu begründen, um es so zu kritisieren und/oder auch zu legitimieren. Damit wurde sie zu einer Bedingung rationaler Politik: indem sie nämlich verhinderte, »daß die Athener sich zu rasch im Politischen erschöpften, daß sie das Politische zu sehr isoliert nahmen, abgelöst nämlich von weiteren Zusammenhängen der Natur und des Mythos, in denen ihre Gerechtigkeitsauffassungen wurzelten«.[15]

Gerade in der Tragödie ging es also immer wieder um die Auffrischung des nomologischen Wissens, seine Sensibilisierung, Korrektur und Weiterentwicklung. In ihr ging es um den »ethischen und intellektuellen Grund des Politischen«,[16] um die Diskussion, um ein Durchspielen von wichtigen Fragen, um die Einverleibung neuer Tatbestände in Vorstellungswelt, Ethos und Religion und um deren Veränderung. Indem sie immer neu »Handeln, Erleben und Erfahren der Polisbürger mit deren Wissen von Menschen, Schicksal und Welt in eine Balance zu bringen suchte.«[17]

3. Die Polis im Theater

Im Jahre 472 v. u. Z. kamen Aischylos Die Perser auf die Bühne. Zu diesem Zeitpunkt war das Theater schon von der Agora ins Dionysostheater am Südhang der Akropolis in Athen verlegt. Zum Zeitpunkt der Aufführung faßte dieses - für unsere Vorstellungen - riesige Theater schon mindestens zehntausend Sitze, hatte also Platz für etwa ein Fünftel der freien Bürger Athens. Die meisten der Zuschauer sahen auf das Spiel hinunter. So hatten sie das Bühnengeschehen unter sich. Und vor sich, über sich hatten sie die ganze Weite unter dem Himmel, Berge und Hügel, Täler, bedeckt mit dem »Schatz des Landes«, dem Ölbaum - und das Meer: wichtigstes Element attischer Machtpolitik spätestens seit der siegreichen Schlacht gegen die Perser bei Salamis. Schiffahrt und Handel hatten das Leben der Stadt verändert. Auf dem Rücken der Meere lag die Chance der Polis Athen. Der Zuschauer befand sich also im Bewußtsein auf »seine Welt« zu schauen. Im Rücken hatte er den Burgberg, auf dessen Plateau sich die Macht der Polis repräsentierte, die Akropolis. Das Bewußtsein der gemeinsamen Macht im Rücken und der gemeinsamen Chance vor Augen vermittelte der Schauplatz des Theaters. Damit wurde das Geschehen, das sich unten auf und vor der Bühne vollzog, eingebunden in das hic et nunc des Polisbürgers. Wo und wann immer das Stück spielte, es spielte zunächst und vor allem dort, wo es gezeigt wurde: im Theater. Und dieses Theater war ein wichtiges Zentrum öffentlicher Meinungsbildung, wenn nicht der Identitätsfindung überhaupt. Entscheidend ist daher die strikte Gegenwärtigkeit des Bühengeschehens. Jede Tragödie wurde während der klassischen Zeit nur ein einziges Mal aufgeführt. Der Tragiker hatte also davon auszugehen, daß er dem Publikum seine Anliegen bei diesem ersten und einzigen Mal unmißverständlich klarmachen mußte. Die Tragödien »mußten das Massenpublikum unmittelbar ansprechen, eine sofortige Beziehung und Identifikation ermöglichen«[18]

Die drei Tage der Tragödienaufführungen, die im Rahmen des Dionysosfestes stattfanden, bildeten den Höhepunkt der städtischen Dionysien. Hier wetteiferten Choregen, Dichter und Schauspieler um den Sieg im tragischen Agon, durch den ihnen höchste Anerkennung bei den Mitbürgern sowie in der politischen Öffentlichkeit der Polis zuteil werden konnten. So bekleidete Sophokles, der zwischen 468 und 406 v. u. Z. 20 Siege im tragischen Agon errang 443/42 das Amt des Hellonotamias, 441/39 wurde ihm sogar zusammen mit Perikles die Strategie im Samischen Krieg übertragen - wie es heißt, wegen der außerordentlichen Wirkung seiner Antigone. 428 erhielt er erneut die Strategie - eines der wichtigsten öffentlichen Ämter - und wurde 411 endlich zum Probulen gewählt. Die Choregie bot die Möglichkeit, in der Öffentlichkeit glanzvoll aufzutreten und persönliches Prestige zu gewinnen. Auch sie stellte also eine günstige Ausgangsposition bei der Bewerbung um öffentliche Ämter dar. Was könnte eindrucksvoller belegen, wie eng Tragödienaufführung und politische Öffentlichkeit miteinander zusammen- und voneinander abhingen. Die Organisation der Feste in Athen oblag nicht Priestern - Athen besaß keinen Klerus, Priester waren Bürger, die das Priesteramt ehrenamtlich versahen - sondern der Polis, dem Staat. Und in erster Linie seinem höchsten Repräsentanten: dem Archon Eponymos. Die Großen Dionysien galten als bedeutendstes kulturelles Ereignis der Polis. Somit kam ihnen auch die Funktion der Repräsentation von Macht nach außen zu. Demonstrativ stellte man Größe und Macht, Reichtum und Ansehen der Polis Athen zur Schau. »Eine überlokale Öffentlichkeit stellte sich her.«[19] Der Tragödienaufführung gingen in der Regel zwei äußert bedeutende politische Akte voraus. Zum einen wurden die Beiträge der Bündner nach Talenten sortiert in der Orchstra aufgebaut, zweitens zogen die Kriegswaisen, die das Erwachsenenalter erreicht hatten, in feierlichem Zug in das Theater ein und nahmen auf Ehrentribünen Platz. »Es ist kaum eine offenere, konkretere […] Manifestation der Macht Athens denkbar.«[20] Das war die friedliche Variante der Machtpolitik. Auf der anderen Seite könnte man sogar von einer gewissen Theatralität (außerhalb des Theaters) der attischen Außenpolitik sprechen. Athen bestimmte allein über die Militärmacht des attischen Seebundes. Die Beiträge, die die Verbündeten zu zahlen hatten, waren zunehmend Tribute. Athen fühlte sich zu immer neuer Aktivität veranlaßt. Seine aggressive Außenpolitik wurde zum Ausdruck permanenter Bestätigung der eigenen Macht und somit seiner selbst. Die rhetorische Selbstinszenierung in der Volksversammlung auf der Agora fand sein Pendant im Krieg: der Selbstinszenierung der Vormachtstellung.

An das Dionysosfest schloß sich eine im Theater abgehaltene Volksversammlung an, in der der Ablauf, die Opfer, der Umzug, der Tragödienagon, kurzum die ordnungsgerechte Durchführung des Festes selbst zur Debatte stand. Es liegt auf der Hand, daß es dabei auch um inhaltliche Fragen des soeben Erlebten ging.

4. Kritik der Polis im Theater

In fast allen uns überlieferten Tragödien gibt es ein Thema: Das Zusammenleben der Menschen in der Polis. Wenngleich dieses Zusammenleben immer wieder am Mythos durchgespielt wurde und damit in eine gewisse Distanz gerückt war, bezogen sich die meisten der Tragödien der klassischen Zeit auf die Polis, ihre Bürger, ihre Politik nach innen wie nach außen. Die Tragödie war immer auch kritisch. Kritisch vor allem gegen Selbstgewißheiten der Polisbürgerschaft. »Indem sie Selbstvergewisserung aus In-Frage-Stellungen hervorgehen ließ, vermochte sie zugleich einen Beitrag zur Integration der attischen Bürgerschaft leisten.«[21] Man kann nicht behaupten, daß in der Tragödie tagespolitische Probleme verhandelt wurden (das auch), aber immer bezog sich das Verhalten, die Darstellung der Figuren, auf Problemstellungen, die für die Gemeinschaft der Polisbürger relevant waren, deren Vorstellungen anerkannten, bestätigten, lobten, kritisierten oder überhaupt erst entwickelten. Zusammenhänge, die man in der Tagespolemik leicht übersah oder verschwieg, wurden in Handlung umgesetzt und in der Verfremdung durch den Mythos und das Theater objektiviert und bewußt gemacht. Problematische Aspekte, die auf der Agora und in der Volksversammlung niemand hören oder wahrhaben wollte, »wurden dem Publikum schonungslos vor Augen geführt. Der tragische Dichter wurde damit zum moralischen und politischen Erzieher seines Volkes[22][23] Die öffentliche Darstellung, die alle (oder doch einen Großteil der Bürger) angeht, ist res publika, politeia, Politik. In diesem Sinne ist eine Tragödie wie Aischylos Perser (die die jüngste Geschichte verhandelt, 472 war acht Jahre nach der entscheidenden Schlacht gegen die Perser bei Salamis) nicht bloße Nachahmung der Vorgänge in der persischen Hauptstadt nach dem verlorenen Krieg, sondern eine Erfindung, die zeigen wollte, wie die Vorgänge hätten gewesen sein können, mit dem Ziel, dasjenige hervorzuheben, was die Zuschauer in Athen 472 betroffen machen mußte. Athens Machtpolitik war mittlerweile der des Persischen Großreiches nicht unähnlich. Das Stück war (und ist!) ein Antikriegsstück. Es richtete sich nicht allein gegen die Unmenschlichkeit von Krieg und Versklavung, sondern apellierte vor allen Dingen an die Vernunft. Die Gefahren solcher Ausdehnung der Macht, bargen Gefahren in sich, die leicht in Katastrophen umschlagen konnten. »Politisches Theater ist selten effektiv. Aber die Geschichte lehrt, daß der Mahner recht behalten hat: am Ende des Jahrhunderts hatte Athen seine Freiheit verloren. Auf der Akropolis lag ein Kommando der Besatzungsmacht.«[24]

Isegoria, das Recht auf freie Meinungsäußerung, galt als unantastbar, wurde geradezu mit politischer Freiheit identifiziert. Über bestimmte Themen allerdings herrschte in Regierung und Opposition Konsens: Das waren allem voran die Stellung der Frau und die der Sklaven. Wer diesen systemimmanenten Konsens thematisierte oder sich gegen ihn wandte, lief Gefahr, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden (sprich: Tod oder Verbannung). Dennoch wurde gerade auf dem Theater immer wieder an der Sklaverei, insbesondere der Ver sklavung gerüttelt. Die Kriege Athens im 5. Jahrhundert waren großenteils nicht allein herrschaftssichernd, sondern fast durchweg herrschaftserweiternd. Es waren regelrechte Raub- und Beutezüge. Schon aus Aischylos’ Agamemnon ist herauszulesen, daß der Kampf um Troja eine opferreiche Schlacht mit sich anschließender Schändung der Kultstätten, Plünderung der Stadt und Versklavung der Frauen war. Was in den Persern noch dem Feind nachgesagt werden konnte - die Hybris der Unterwerfung freier Völker -, wenngleich mit den Persern fraglos die Athener gemeint waren, wurde im Agamemnon unmittelbar nach Griechenland verlegt. Die Warnung war überdeutlich.

[...]


[1] Christian Meier: Die politische Kunst der griechischen Tragödie. München 1988. S. 29

[2] ebd., S. 29

[3] ebd., S. 27

[4] ebd., S. 28

[5] ebd., S. 46

[6] ebd., S. 57

[7] ebd., S. 10

[8] ebd., S. 61

[9] ebd., S. 61

[10] ebd., S. 10

[11] ebd., S. 9

[12] ebd., S. 8

[13] ebd., S. 9

[14] ebd., S. 9

[15] Christian Meier, a.a.O. S. 53

[16] ebd., S. 56

[17] ebd., S. 62

[18] Kurt Raaflaub: Politisches Denken im Zeitalter Athens. In: I. Fletscher und H. Münkler (Hg.)

München und Zürich 1988, S. 283

[19] Christian Meier, a.a.O. S. 62

[20] ebd., S. 69

[21] ebd., S. 239

[22] ›Volk‹ meint hier ›Bürgerschaft‹

[23] Kurt Raaflaub, a.a.O. S. 283

[24] Siegfried Melchinger: Geschichte des politischen Theaters. Frankfurt/M. 1974. S. 48

Excerpt out of 41 pages

Details

Title
Die politische Dimension der attischen Tragödie
College
Humboldt-University of Berlin
Grade
1,0
Author
Year
1999
Pages
41
Catalog Number
V132383
ISBN (eBook)
9783640381616
ISBN (Book)
9783656761686
File size
617 KB
Language
German
Keywords
Dimension, Tragödie
Quote paper
Dr. Levin Röder (Author), 1999, Die politische Dimension der attischen Tragödie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/132383

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