„Was ist es denn mit den Gehirnen?“

Zur Bedeutung des zentralen Motivs ‚Gehirne’ in der gleichnamigen Erzählung Gottfried Benns


Term Paper (Advanced seminar), 2007

24 Pages, Grade: 2,3

Anonymous


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Gliederung

1 Einleitung

2 Wissensstand der Hirnforschung um 1900

3 Zerfallsprozess und Gegenmaßnahmen
3.1 Gehirn-Dissoziation als Ich-Dissoziation
3.1.1 Verlust von Gedächtnis und Zeitgefühl
3.1.2 Veränderte Wahrnehmung
3.1.3 Verlust des Realitätsbewusstseins und des Raumgefühls
3.1.4 Verlust der Kommunikationsfähigkeit
3.1.5 Erschöpfung, Bewegungsrückgang und Trägheit als Konsequenz
3.2 Ma l3 nahmen Rönnes gegen die Ich-Dissoziation
3.2.1 Aufschreiben und Dokumentation – (Be)greifbar bleiben
3.2.2 Problembewältigungsversuche mit Hilfe von (wissenschaftlicher) Routine

4 ‚Gehirn’ als Prinzip – Das Programm der Erzählung
4.1 Zerfall und Genese in der Erzählung Gehirne
4.1.1 „[...] und muss immer darnach forschen, was mit mir möglich sei...“
4.1.2 Sinnbildlicher Ausbruch aus dem „Kristall“
4.2 Von der Rationalität zurück zur Instinktivität – Wider die Großhirnrinde
4.3 Flucht in die Sprachwelt
4.4 Wissenschaftskritik

5 Zusammenfassung

6 Literatur.

1 Einleitung

Der Sitz der Seele wird in ihm vermutet, ebenso sollen Denkvermögen und Bewusstsein von ihm ausgehen. Vernunft und Geist werden ihm zugeordnet, auch soll es das Subjekt im Inneren zusammenhalten. – Kurz, das Gehirn ist ein Organ, das den Menschen seit jeher fasziniert hat.

Unter dem Schlagwort „Gehirne“ brachte Gottfried Benn im Jahr 1916 fünf Novellen heraus.1 Die erste Erzählung aus diesem Band, ebenfalls Gehirne genannt, soll nun im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen. Der zentrale Begriff ‚Gehirn’ wird darin, außer im Titel, zwar erst fast am Ende der Erzählung beim Namen genannt, spielt aber für ihr Funktionieren eine entscheidende Rolle.

Das recht kurze Prosastück Gehirne handelt von Rönne, einem Arzt, der sich den Zerfall seiner Großhirnrinde diagnostiziert.2 Der Fakt, dass der Autor Gottfried Benn selbst Arzt war, erscheint unter diesem Gesichtspunkt besonders interessant. In der Sekundärliteratur lag es da auch häufig nahe, Rönne mit Benn gleichzusetzen. Doch dies ist zu oberflächlich. Hinter den ‚Gehirnen’ steckt mehr als nur eine Anspielung auf Benns Biographie.3 – Inwiefern Benns „anderes“ Leben, das als Arzt, seine Erzählung Gehirne nicht nur um einen fundierten medizinischen Wissenskontext bereicherte, sondern dadurch auch (wissenschafts-)kritische Elemente mit einflossen, soll im Folgenden aufgezeigt werden. Es gilt dabei, eine Interpretationsmöglichkeit zu finden, welches Programm von der zentralen Metapher ‚Gehirn’ in Hinblick auf den Text ausgeht.

Dazu erfolgt zunächst ein Exkurs in die Hirnforschung um 1900 mit dem Ziel, zu erfahren, welcher Wissensstand zur Zeit Gottfried Benns vorherrschte, sofern dieser für die Erzählung relevant ist. Dabei ist vor allem die Lokalisation von Hirnfunktionen in Arealen der Großhirnrinde von Bedeutung, die damals diskutiert wurde.

Anschließend wird die Dissoziation des Gehirns4 hinsichtlich der Annahme untersucht, dass mit ihr eine Ich-Dissoziation, ein Persönlichkeitszerfall des Protagonisten einhergeht. Diese inneren Prozesse werden äußerlich erfahrbar, indem im Laufe der Erzählung an Rönne pathologische Veränderungen auftreten, vor allem in den Bereichen Gedächtnis / Zeitgefühl, Wahrnehmung, Kommunikationsfähigkeit sowie Orientierung im Raum. Dass diese Veränderungen in Zusammenhang mit Zerfallsprozessen von Hirnfunktionen stehen, die ihrem Ursprung nach der Großhirnrinde zugeordnet werden, soll im Folgenden dargestellt werden.

Den schleichenden Zerfall seiner Persönlichkeit nimmt Rönne im ersten Teil der Erzählung noch wahr, bezieht diesen auch auf einen Zerfall seiner Großhirnrinde und versucht mit einer Reihe von bewussten wie unbewussten Maßnahmen dagegen anzuwirken. Seine Bemühungen sind allerdings nicht von Erfolg gekrönt. Die Großhirn-Dissoziation kann nicht mehr aufgehalten werden und nimmt ihren Lauf.

Was bedeutet dies für das Programm der Erzählung? Der erst vor wenigen Jahren wiederentdeckte Benn-Text Unter der Großhirnrinde soll bei der Beantwortung dieser Frage weiterhelfen. Dabei soll insbesondere deutlich werden, dass es sich bei dem Zerfall der Großhirnrinde nicht nur um einen rein destruktiven Prozess handelt, sondern dass darin gleichzeitig ein Entstehungsprozess begründet liegt.

2 Wissensstand der Hirnforschung um 1900

Gottfried Benn schrieb seine Erzählung Gehirne im Jahr 1914, also in einer Zeit, als Tierversuche und anderweitige physiologische Experimente auf der wissenschaftlichen Tagesordnung standen, um das Organ Gehirn zu erforschen. Damals wurden z. B. Gehirne von Männern und „Weibern“ gewogen und verglichen; gleichermaßen untersuchte man Gehirne von „hervorragenden Männern“ sowie von „unkultivierten Völkern“ und versuchte alles in Bezug zueinander zu setzen.5

Meyers Großem Konversationslexikon ist im Jahr 1908 unter dem Stichwort „Gehirn“ zu entnehmen, dass das Gehirn in Vorder-, Zwischen-, Mittel-, Hinter- und Nachhirn gegliedert sei. Auch war die Unterscheidung in linke und rechte Hemisphäre bekannt.6

Mit zunehmender Intelligenz werde das Vorderhirn immer umfangreicher und sei bei vielen Säugetieren als Großhirn entwickelt, das die „übrigen Teile fast ganz oder beim Menschen sogar ganz bedeckt“.7 Das Großhirn wiederum bestehe aus einer „etwa 5 mm dicken Rindenschicht (Hirnrinde) von grauer Farbe und großem Reichtum an Ganglienzellen und der darunter gelegenen weißen, aus Nervenfasern gebildeten Markschicht“.8 Für die Ausbildung von „höhern geistigen Funktionen“ war die Entwicklung des Vorderlappens im Großhirn essentiell.9 Tierversuche, bei denen den Tieren Gehirne amputiert wurden, bestätigten diese These. Auch die „Erfahrungen der Irrenärzte an kranken Menschen“ stimmten mit den Tierversuchen darin überein, dass eine „mangelhafte Ausbildung des Großhirns [...] Idiotismus“ bedinge.10

Den „feinere[n] Bau des Gehirns“ ermittelte man damals durch „Beobachtungen am Krankenbett und Seziertisch“, ähnlich wie es auch in Gottfried Benns Erzählung anklingt. Gemäß diesen Untersuchungen sei der „normale Ablauf seelischer Funktionen an die normale Beschaffenheit des Gehirns“ sowie an „bestimmte[ ] Abschnitte desselben“ geknüpft. Physiologische Experimente zeigten zudem, dass das Gehirn, speziell das Großhirn, als das „Organ der Seelentätigkeit“ aufgefasst werden müsse. Als Seele, so weiterhin Meyers Konversationslexikon im Jahr 1908, verstand man dabei den „Inbegriff aller Vorstellungen“, die ihre „Quelle in den Sinnesempfindungen“ haben. Es wird aber auch gleichzeitig festgestellt, dass der „physiologischen Forschung [...] für die Erklärung der seelischen Funktionen kein Angriffspunkt geboten“ sei, denn „nicht das Wesen der Seele, sondern nur ihr Eingreifen in materielle Prozesse, z. B. die Erregung motorischer Nervenfasern durch das Willensorgan“ könne Gegenstand des physiologischen Experiments sein.11

Des Weiteren ging man davon aus, dass bestimmte „psychische Leistungen, besonders solche, die an unmittelbare Sinneseindrücke oder an das Sinnesgedächtnis geknüpft sind, auf bestimmte Regionen der Hirnrinde verteilt [...] sind“.12 Dies hatte nicht zuletzt der Mediziner Paul Flechsig immer wieder betont, der um 1890 versuchte, Denkvorgänge in Hirnrindenfeldern zu lokalisieren.13 Als Lokalisationslehre bezeichnete man die Zuordnung bestimmter psychischer Funktionen zu bestimmten Feldern des Gehirns, insbesondere des Großhirns. Diese wissenschaftliche Richtung ging so weit, dass einige Forscher sogenannte „Gehirnkarten“ entwickelten, unter ihnen z. B. Korbinian Brodmann, der die Großhirnrinde im Jahr 1909 in 52 Areale aufgliederte.14 Der Verlust bestimmter Areale auf der Großhirnrinde müsse gemäß dieser Theorie die „betreffenden sensorischen Leistungen“ schädigen oder gar aufheben.15

Sehr wichtig ist in diesem Zusammenhang auch die Lokalisation des Sprachzentrums in einer bestimmten „Rindengegend“. Zu dieser Sprachregion gehört auch das Gebiet des „Insellappens“, worauf die spätere, sprachlich sehr innovative Erzählung Die Insel desselben Novellen-Zyklus von Gottfried Benn wahrscheinlich hinweist.16 Auch glaubte man, den genauen Ort für Wort- und Schriftgedächtnis gefunden zu haben. Selbiges trifft für die Lokalisation der „sensorischen Rindenfelder“ zu.17 Diese sind stark an Wahrnehmungsfunktionen beteiligt.18

Um 1900 war das Lokalisationsparadigma dann jedoch nicht mehr völlig unumstritten.19 In seinem Aufsatz Medizinische Psychologie bringt so auch Gottfried Benn eine Abkehr vom Lokalisationsparadigma zum Ausdruck.20

Für die nachfolgende Analyse führt der Blick in Richtung der Verortung von Hirnfunktionen auf der Großhirnrinde. Dies betrifft insbesondere Intelligenz, Bewusstsein, Sprache, räumliche Orientierung, Gedächtnis, Bewegung und Sinneswahrnehmung.

Die Beeinträchtigung dieser persönlichkeitsstiftenden Hirnfunktionen, vor allem unter dem Gesichtspunkt, inwiefern anhand dieser die inneren Zerfallsprozesse der Großhirnrinde äußerlich sichtbar gemacht werden, rückt nun ins Zentrum der Betrachtung.

3 Zerfallsprozess und Gegenmaßnahmen

3.1 Gehirn-Dissoziation als Ich-Dissoziation

Die Hauptfigur Rönne unterliegt einem Prozess der Ich-Dissoziation. Der Begriff ‚Dissoziation’ wurde der Naturwissenschaft entlehnt: In der Chemie z. B. versteht man darunter den Zerfall eines Moleküls in seine Bestandteile.21 Bei einer dissoziativen Störung aus psychologischer Sicht handelt es sich um eine vielgestaltige Störung, bei der es zu einer teilweisen oder völligen Abspaltung von psychischen Funktionen wie des Erinnerungsvermögens, eigener Gefühle, der Wahrnehmung der eigenen Person sowie der Umgebung kommt. Dies lässt sich bei Rönne eindeutig feststellen.

Beim Lesen der Erzählung fällt ebenfalls auf, dass Rönnes Ich-Dissoziation ein mit dem Zerfall seines Gehirns „auf das Engste verknüpfter Prozess“ ist. Einen Beweis hierfür liefert die zentrale Textstelle „Es schwächt mich etwas von oben. [...] Zerfallen ist Rinde, die mich trug.“22 Als ‚Rinde’ wird hier die Großhirnrinde abgekürzt, die zur Zeit Gottfried Benns als Sitz des Bewusstseins betrachtet wurde.23

Auch wird alles, was Rönnes Persönlichkeit, ja die menschliche Persönlichkeit im Allgemeinen ausmacht, direkt oder indirekt durch das Gehirn beeinflusst. Das Gehirn ist an dermaßen vielen Prozessen und Funktionen beteiligt, dass es wahrlich als „Steuerungszentrale“ bezeichnet werden kann.

In der Erzählung kommen insbesondere die identitätsstiftenden Charakteristika Gedächtnis, Wahrnehmung, Sprache, Bewegung und Orientierung vor. Diese haben ihren Ursprung in ganz bestimmten Hirnarealen, die wiederum in der Großhirnrinde anzufinden sind. Kommt es, wie im Text benannt, zu einem Zerfall der Großhirnrinde, so lässt sich dieser an der Beeinträchtigung der genannten Hirnfunktionen erkennen. Auf diese Weise gelangen die inneren Hirnzersetzungsvorgänge in der Erzählung per Inversion nach außen.

Es folgt nun eine Analyse der der Erzählung entnehmbaren Veränderungen von Hirnfunktionen, vor allem in Hinblick auf deren Bedeutung für die Ich-Dissoziation Rönnes.

3.1.1 Verlust von Gedächtnis und Zeitgefühl

Gehirne beginnt in neutraler Erzählhaltung, ist inhaltlich noch recht informationsgeladen und vor allem chronologisch nachvollziehbar: „Rönne, [...], fuhr durch Süddeutschland dem Norden zu. Er hatte die letzten Monate tatenlos verbracht [...]“24. Im Laufe der Erzählung verliert sich dieser informative Charakter jedoch zunehmend. Das Erzählverhalten wird personal, und man erfährt das meiste aus Sicht des Protagonisten.

Im Zuge dieser Wandlung des Erzählverhaltens ist festzustellen, dass das Gefühl für die zeitliche Orientierung verloren geht. Rönnes Gedächtnis baut ab und der Eindruck entsteht, dass er kein Gefühl mehr für die Zeit hat: „So viele Jahre lebte ich, und alles ist versunken. Als ich anfing, blieb es bei mir? Ich weiß es nicht mehr.“25 Rönne kann sich nicht mehr erinnern.26 Aber auch der Leser wird in dieses „Zeit-Spiel“ mit hineingezogen.

Der Verlust des Zeitgefühls wird z. B. in der folgenden Passage vernehmlich. Als Rönne längst in der Heilanstalt ist, kommt es zu einem unerwarteten Rückblick:

Erschüttert saß er eines Morgens vor seinem Frühstückstisch; er fühlte so tief: der Chefarzt würde verreisen, ein Vertreter würde kommen, in dieser Stunde aus diesem Bette steigen und das Brötchen nehmen: man denkt, man ißt, und das Frühstück arbeitet an einem herum.27

[...]


1 Vgl. Benn, Gottfried: Gehirne. Novellen, textkritisch herausgegeben von Jürgen Fackert, Stuttgart, 1974, S. 47.

2 Benn: Gehirne, S. 5.

3 Vgl. Preiß, Martin: „...daß es diese Wirklichkeit nicht gäbe". Gottfried Benns Rönne-Novellen als Autonomieprogramm, St. Ingbert 1999, S. 80.

4 Wenn in dieser Arbeit von Gehirn-Dissoziation geredet wird, ist damit immer nur die Dissoziation der Großhirnrinde gemeint, analog zur Textstelle „Zerfallen ist Rinde, die mich trug.“ (Benn: Gehirne, S. 5).

5 Meyers Großes Konversationslexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, 6., gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage, 7. Band, Franzensbad bis Glashaus, Leipzig / Wien, 1908, S. 473.

6 Meyers Konversationslexikon 1908, S. 467.

7 Ebd.

8 Ebd., S. 468.

9 Ebd., S. 472.

10 Meyers Konversationslexikon 1908, S. 469.

11 Ebd.

12 Ebd., S. 469f.

13 Wübben, Yvonne: Ein Bluff für den Mittelstand. Gottfried Benn und die Hirnforschung, in: Text+Kritik, Heft 44, 3. Aufl., Neufassung: April 2006, S. 73.

14 Meyers Konversationslexikon 1908, S. 469f.

15 Ebd.

16 Ebd.

17 Ebd., S. 471.

18 Ebd., S. 467.

19 Wübben: Benn und die Hirnforschung, S. 73.

20 Ebd., S. 74.

21 Brockhaus. Die Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden, 20., überarbeitete und aktualisierte Auflage, 5. Band, CRO-DUC, Leipzig/Mannheim 1996, S. 561.

22 Benn: Gehirne, S. 5.

23 Homscheid: Zwischen Lesesaal und Lazarett, S. 27.

24 Benn: Gehirne, S. 3.

25 Ebd.

26 Homscheid: Zwischen Lesesaal und Lazarett, S. 23.

27 Benn: Gehirne, S. 5.

Excerpt out of 24 pages

Details

Title
„Was ist es denn mit den Gehirnen?“
Subtitle
Zur Bedeutung des zentralen Motivs ‚Gehirne’ in der gleichnamigen Erzählung Gottfried Benns
College
Free University of Berlin  (Institut für Deutsche und Niederländische Philologie)
Course
Hauptseminar „Prosaexperimente der Moderne“
Grade
2,3
Year
2007
Pages
24
Catalog Number
V132424
ISBN (eBook)
9783640418091
ISBN (Book)
9783640418541
File size
488 KB
Language
German
Keywords
Gehirnen, Bedeutung, Motivs, Erzählung, Gottfried, Benns
Quote paper
Anonymous, 2007, „Was ist es denn mit den Gehirnen?“ , Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/132424

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