Der Dichter des Nibelungenliedes

Ein Psychogramm


Hausarbeit, 2009

20 Seiten, Note: 2,0


Leseprobe


Gliederung

1 Einleitung

2 Gründe für die Anonymität
2.1 Der Dichter – ein missachteter Spielmann?
2.2 Der überindividuelle Zusammenhang

3 Die Flexion der Autorschaft
3.1 Numerus
3.2 Genus
3.2.1 Gesellschaftliche Präpositionen
3.2.2 Indizien für einen weiblichen Genus

4 Analyse der Dichterpersönlichkeit nach eingrenzenden Parametern
4.1 Ort
4.2 Zeit
4.2.1 Terminus ante quem
4.2.2 Terminus post quem
4.3 Auftraggeber
4.4 Frömmigkeit
4.5 Belesenheit
4.6 Stand

5 Fazit: Psychogramm der Dichterpersönlichkeit

6 Bibliographie

1 Einleitung

„Das Nibelungenlied – eine Detektivstory. Whodunit? Wer war’s? Wer hat’s geschrieben?“[1] Mit diesen Worten leitet Walter Hansen seiner eigenen Zielsetzung folgend den Beginn eines packenden Krimis ein, an dessen Ende die Überführung einer geheimnisvollen Dichterpersönlichkeit stehen soll, dessen Anonymität „zu einem wissenschaftlichen Königsproblem und einem literarischen Faszinosum geworden“[2] ist – der Autor der germa-nischen Heldensage vom kühnen Siegfried und dem Untergang der Burgunden. Die Zahl der Verdächtigen, die für diese literaturwissenschaftlich vakante Stellung schon bemüht wurden, ist beträchtlich und steigt sukzessive an. Die Wunschvorstellungen reichen von dem berühmten Lyriker Walther von der Vogelweide, dem Kürenberger oder Wolfram von Eschenbach über Konrad von Fußesbrunnen, Wirnt von Grafenberg bis hin zum Abt Sighard von Lorsch – um nur einige zu nennen. Sogar eine Niedernburger Nonne musste sich der Prüfung stellen.

Die alle Forschungsrichtungen einende Erkenntnis soll auch als Basis für diese Arbeit dienen: Die Diskussion konkreter Dichterpersönlichkeiten führt zu keinen wissenschaftlich hinreichend belegbaren Ergebnissen. Daher erscheint es sinnvoll, dass man, wenn der Täter schon nicht auf frischer Tat ertappt werden kann, ihn so eng wie möglich einzukreisen versucht.

Dementsprechend besteht das Ziel dieser Arbeit darin, ein möglichst detailliertes Psychogram der Dichterpersönlichkeit herzustellen.

Als Basis für die Untersuchug fungiert eine kurze Analyse der Anonymität sowie die Diskussion des Numerus und Genus der Autorschaft, da diese bei-den Aspekte Sonderstellungen in der Forschung einnehmen. Anschließend wird die Dichtergestalt anhand von Parametern eingegrenzt um schließlich als Fazit ein Psychogramm erstellen zu können. Die einzelnen Aspekte werden dabei in Hinblick auf die folgende Fragestellung analysiert:

Was sind die wesentlichen Attribute des NL-Dichters?

2 Gründe für die Anonymität

Vor dem Versuch, die Anonymität des Nibelungenliedes (NL) zu deko-dieren, sollte man sich zunächst einen Überblick darüber verschaffen, wa-rum der Autor[3] es überhaupt ablehnt, seinen eigenen Namen preiszugeben, „während in derselben Epoche etwa die Artusepen und die Schöpfungen der höfischen Lyrik als geistiges Eigentum ihrer mit Namen genannten Gestalter gefeiert wurden.“[4] Dazu werden im Folgenden zwei Thesen erörtert, die in der Nibelungenliedforschung als mögliche Erklärungen aufgestellt worden sind. In Hinblick auf den ersten Deutungsversuch ist die Analyse der Ano-nymität bereits mit einer Aussage über die Ständezugehörigkeit des Autors verbunden.

2.1 Der Dichter – ein missachteter Spielmann?

Die These, dass der Dichter des NLes seine Autorschaft aufgrund der Zuge-hörigkeit zu einem niederen Stand nicht publik gemacht hat, wurde von An-dreas Heusler als Erklärung für die Anonymität herangezogen. Wäre der Dichter nämlich „ein Ritter oder ein Pfaffe gewesen, dann wäre auch sein Name berühmt geworden. Als Spielmann – als Banause – hat er nicht ein-mal sich selbst der Nennung gewürdigt.“[5] Unterstützt wird diese Ansicht von Franz Pfeiffer, der als Grund für dieses verminderte Selbstwertgefühl die Geringschätzung[6] der Volksdichtung und ihrer Träger seitens der Geist-lichen nennt.

Der früher so geachtete Stand der Sänger ward ein verachteter, und an den Spielleuten, weil sie aus der Kunst ein Gewerbe machten und Gut um Ehre nahmen […], haftete der Mackel, wenn nicht gerade der Ehrlosigkeit, doch der

Unehrenhaftigkeit.[7]

Ferner stimmt er mit der grundlegenden Prämisse dieser Theorie, eines Spielmanndaseins des NL-Dichters, überein, indem er der Auffassung Adolf Holtzmanns übernimmt, dass der Autor sich mit dem Spielmann Volker von Alzey eine Identifikationsgestalt geschaffen hat.[8] Höfler akzeptiert zwar äußerlich diese Behauptung, verändert ihren Inhalt aber insofern, als dass er den Begriff „Spielmann“ anders definiert. So sei der Autor gewiss kein „gedrückter Banause“ gewesen und

wenn er bei der Ausgestaltung der unvergesslichen Figur des spileman Volker von Alzey in der Tat irgendwie seinen eigenen ,Stand’ im Auge gehabt und ihn im dichterischen Bild verherrlicht haben sollte […] – dann eben nicht in dem Sinn, den ein Teil der modernen Forschung dem Terminus ,Spielmann’ gegeben hat […]. Sondern in dem Geist, in dem er selber diesen kampffrohen Künstlermenschen sah: ein Mann, der neben dem Stolzesten würdig und ehrenvoll seine Stelle behaupten kann.[9]

Ursula Schulze hingegen lehnt generell die Option, die Anonymität durch die Standeszugehörigkeit zu erklären, mit dem Verweis darauf ab, dass „die Selbstnennungen anderer Autoren […] sich nicht auf ihre soziale oder rechtliche Position (gründen), sondern auf ihre literarische Leistung“[10].

Die Standesfrage wird bei der Analyse der eingrenzenden Parameter in 4 erneut aufgegriffen und weitergehend erörtert.

2.2 Der überindividuelle Zusammenhang

Höfler sieht in der Tatsache, dass die germanischen Heldenepen bis über das 13. Jh. hinaus anonym überliefert und von Generation zu Generation tradiert worden sind, den eigentlichen Grund für die Anonymität. Dieser Umstand bewirke einen „überindividuellen Zusammenhang“, den Heusler nach Mei-nung Höflers in seinem Bemühen, die kollektivistische Auffassung der Romantiker in eine individualisierende Profilierung der Dichter umzumün-zen, als irrelevant abgetan habe. Dieser überindividuelle Zusammenhang er-strecke sich über alle Einzeldichter, die an der Gattung der Heldenepik be-teiligt gewesen seien, ob sie nun bedeutend waren oder nicht.[11] Die Helden-dichtung wurde somit nicht als geistiges Eigentum der Gestalter angesehen,

weil sie nationale Stoffe behandelte und die Autoren durch ihre Verse ,lediglich’ „altiu maere“[12] umgestalteten. Lee stellt sich darüber hinaus die Frage, ob der Grund für das Schweigen im Unwillen des Publikums zu fin-den sein könnte, das den Namen überhaupt nicht wissen wollte.[13] Höfler geht sogar soweit, dass er von einem „Anonymitätsgesetz“[14] spricht.

Nach Auffassung Schulzes ist diese Theorie jedoch nicht voll zufrieden stel-lend, da auch Lyriker in der damaligen Zeit für ihre Romane Vorlagen be-nutzt hätten. Das entscheidende Moment sei vielmehr der Wandel von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit. „So erscheint die Wahrung der Anonymi-tät als spielerische Geste eines fiktiven Vortragenden.“[15]

Bleibt für das Anonymitätsproblem abschließend festzustellen, dass es keine Besonderheit des NLes ist und für Ständefrage kein verlässliches Kri-terium darstellt, allerdings hinsichtlich des überindividuellen Zusammen-hangs die Frage aufwirft, ob es sich nicht eventuell um mehrere Verfasser handeln könnte.

3 Die Flexion der Autorschaft

3.1 Numerus

Die Frage nach dem Numerus der Autorschaft wurde erstmals durch die sog. „Liedertheorie“[16] [17] aufgeworfen und insbesondere von Karl Lachmann verfolgt. So habe er „keine durch das ganze gedicht häufig wiederkehrende individualität finden können“[18]. Dabei ist entscheidend, dass Lachmann gemäß der von ihm entwickelten Textkritik als Grundlage einen festen Archetypus setzt, den es zu rekonstruieren gilt. Nach der Auffassung von Helmut Brackert ist eben dies nicht möglich, da zum einen die Unfestigkeit ein Gattungsmerkmal der Heldenepik[19] sei und zum anderen bereits vor dem Einsetzen der Schriftlichkeit mehrere mündliche Fassungen existiert hät-ten.[20] Seiner Meinung nach ist das NL aus diesen Umständen heraus ein Werk mehrerer Dichter, das von einem herausragenden Könner vereinigt worden ist.[21]

Diese Theorie stieß auf viel Unmut in den Forscherkreisen, da für viele „große Kunst“ nicht „als Gemeinschaftsleistung […] denkbar“ ist und eben-so wenig „vermittelnde Zwischenstufen zwischen einer kollektiven und ei-ner individuellen Schöpfung“.[22] Nach Schulze ist „die Konzeption des epischen Großwerks im Medium der Schriftlichkeit sowie die komposito-rische und sprachliche Durchformung des Ganzen […] nur als Leistung ei- ner bestimmten Person denkbar.“[23] Doch durch die Möglichkeit, dass der schriftliche Text direkt aus der Mündlichkeit abgeleitet[24] und verfasst worden ist, „bleibt (er) […] trotz dem Einen, der fixierte, transparent auf die Vielzahl mündlicher Dichter, die vor und neben ihm den Stoff im Vortrag realisierten, so verschieden auch jeder seine Wege ging.“[25] Allerdings widerspricht die enorme Ähnlichkeit der Handschriften dieser Theorie, da

[...]


[1] Hansen, Walter: Die Spur des Sängers. Das Nibelungenlied und sein Dichter. Bergisch Gladbach: Gustav Lübbe Verlag 1987. S. 211.

[2] Wunderlich, Werner: Wer war der Greis, den Worms solch Lied gelehrt? Der erfundene Dichter. Joseph Viktor von Scheffels Version vom Autor des Nibelungenliedes. In: Euphorion, 89 (1995). S. 239.

[3] Nicht nur das Nibelungenlied ist anonym überliefert, sondern auch fast alle anderen germanischen Heldenepen.

[4] Lee, A. v. d.: Vom Dichter des Nibelungenliedes. In: Levende talen, 264/273 (1970). S. 342.

[5] Heusler, Andreas: Nibelungensage und Nibelungenlied. Die Stoffgeschichte des deut-schen Heldenepos. Dortmund: Ruhfus 1929. S. 105. Zit. nach: Höfler, Otto: Die Anonymi-tät des Nibelungenliedes. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 29 (1955). S. 168.

[6] Gemäß Pfeiffer kam es seit der Karolingerzeit zu einer Verlegung des Dichtermonopols für weltliche Dichtung auf den Stand der Bauern und das niedere Volk, was die Dichtung ins „Rohe und Grobe“ verfallen ließ.

[7] Pfeiffer, Franz: Der Dichter des Nibelungenliedes. Ein Vortrag gehalten in der feierlichen Sitzung der kaiserlichen Akademie der Wisenschaften. Wien: Kaiserliche Hof- und Staatsdruckerei 1862. S. 35.

[8] Vgl. Holtzmann, Adolf: Untersuchungen über das Nibelungenlied. Stuttgart: Adolf Crabbe 1854. S. 135.

[9] Höfler: Anonymität. S. 171.

[10] Schulze, Ursula: Das Nibelungenlied. Stuttgart: Reclam 1997. S. 21.

[11] Vgl. Höfler: Anonymität. S. 172.

[12] Lee: Vom Dichter. S. 342.

[13] Ebd.

[14] Höfler: Annonymität. S. 208.

[15] Schulze: Nibelungenlied. S. 22.

[16] Fromm, Hans: Der oder die Dichter des Nibelungenliedes? In: Arbeiten zur deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. Von Hans Fromm. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 1989. S. 275.

[17] Nach der Liedertheorie von Lachmann zerfällt das Nibelungenlied in mehrere Lieder von verschiedenen Sängern, die ein Redaktor schließlich zusammengefügt hat.

[18] Lachmann, Karl; Wackernagel, Wilhelm: Zu den Nibelungen und zur Klage: Anmerkungen. Berlin: (O. V.) 1836. S. 3.

[19] Vgl. Brackert, Helmut: Beiträge zur Handschriftenkritik des Nibelungenliedes. Berlin: De Gruyter 1963. S. 97.

[20] Vgl. Ebd., S. 165.

[21] Vgl. Ebd., S. 170.

[22] Fromm: Dichter. S. 276.

[23] Schulze: Nibelungenlied. S. 21.

[24] Diese Möglichkeit geht auf die beiden Forscher Milman Parry und Albert Lords zurück, die die sog. ,oral-poetry’-Forschung entwickelten, wonach die Sänger durch Verwendung von Formeln und Schablonen den Vortrag jedes Mal neu zusammenstellten. Konkretes Auswendiglernen war somit nicht von Nöten.

[25] Schulze: Nibelungenlied. S. 278.

Ende der Leseprobe aus 20 Seiten

Details

Titel
Der Dichter des Nibelungenliedes
Untertitel
Ein Psychogramm
Hochschule
Universität Münster  (Germanistisches Institut - Abteilung Literatur des Mittelalters)
Veranstaltung
Seminar - Das Nibelungenlied
Note
2,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
20
Katalognummer
V132482
ISBN (eBook)
9783640418602
ISBN (Buch)
9783640418763
Dateigröße
452 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Dichter, Nibelungenliedes, Psychogramm
Arbeit zitieren
Jennifer Ellermann (Autor:in), 2009, Der Dichter des Nibelungenliedes, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/132482

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