Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
2. Der Personzentrierte Ansatz nach Carl R. Rogers
2.1. Das dem Personzentrierten Ansatz zugrunde liegende Menschenbild
2.2. Ziel des Personzentrierten Ansatzes
2.3. Wirkfaktoren
3. Geistliche Begleitung in den großen religiösen Traditionen
3.1. Geistlichen Begleitung – eine begriffliche Abgrenzung
3.2. Geistliche Begleitung, Religion und Menschenbild
3.3. Geistliche Begleitung in den monotheistischen Religionen
3.3.1. Christentum
3.3.1.1. Geistliche Begleitung im Christentum
3.3.1.2. Bezug zum Personzentrierten Ansatz
3.3.2. Judentum
3.3.2.1. Geistliche Begleitung im Judentum
3.3.2.2. Bezug zum Personzentrierten Ansatz
3.3.3. Islam
3.3.3.1. Geistliche Begleitung im Islam
3.3.3.2. Bezug zum Personzentrierten Ansatz
3.4. Geistliche Begleitung in den mystisch-weisheitlichen Religionen Asiens
3.4.1. Hinduismus
3.4.1.1. Hinduismus im Überblick
3.4.1.2. Geistliche Begleitung im Hinduismus
3.4.1.3. Bezug zum Personzentrierten Ansatz
3.4.2. Buddhismus
3.4.2.1. Buddhismus im Überblick
3.4.2.2. Geistliche Begleitung im Buddhismus
3.4.2.3. Bezug zum Personzentrierten Ansatz
3.4.3. Daoismus
3.4.3.1. Daoismus im Überblick
3.4.3.2. Geistliche Begleitung im Daoismus
3.4.3.3. Bezug zum Personzentrierten Ansatz
4. Überkonfessionell-interspirituelle Geistliche Begleitung
4.1. Zum Begriff
4.2. Welt- und Menschenbild
4.2.1. Ein pluralistisches Welt- und Menschenbild auf der Basis der Religionen?
4.2.2. Grundzüge eines religionspluralistischen Welt- und Menschenbilds
4.2.3. Das religionspluralistische Welt- und Menschenbild und der Personzentrierte Ansatz
4.3. Ziel der überkonfessionell-interspirituellen Geistlichen Begleitung
4.4. Wirkfaktoren
4.4.1. Spirituelle Praxis
4.4.2. Begleitung
4.4.2.1. Aufmerksamkeit als Grundvoraussetzung der Begleitung
4.4.2.2. Besondere Anforderungen an die überkonfessionell-interspirituelle Begleitung
4.4.2.3. Empathie und Verstehen
4.4.3. Die Wirkfaktoren in Vergleich zum Personzentrierten Ansatz
5. Zusammenschau
6. Persönliches Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einführung
Vor dem Hintergrund, dass ich einerseits über die Beschäftigung mit Geistlicher Begleitung, einer Disziplin im Grenzbereich zwischen Theologie und Psychologie, zum Personzentrierten Ansatz gefunden und mich andererseits auch im Verlauf des Studiums immer wieder mit Berührungspunkten zwischen beiden beschäftigt habe, will ich dies auch in meiner Abschlussarbeit tun – und zwar mit einer überkonfessionell-interspirituellen Ausrichtung.
Der Personzentrierte Ansatz ist ein psychologischer Ansatz, kein religiös-geistlicher. Andererseits befassen sich sowohl die Psychologie und die darin gründenden Psychotherapie- und Beratungsansätze als auch die Religionen mit Aspekten menschlichen Heil-Seins und soll gerade auch die Geistliche Begleitung den Menschen darin unterstützen, einen für ihn als ganzen Menschen in seiner – das macht den geistlich-religiösen Anteil aus – Transzendenzbezogenheit heil-samen Weg zu finden und zu gehen. Dieser letzte Aspekt, die Transzendenzbezogenheit, steht in der Regel von einem rein psychologischen Standpunkt aus betrachtet nicht im Zentrum, wenn auch in den letzten Jahren zunehmend ein Dialog von Psychologie und Religion(en) bzw. Theologie mit Blick auf Fragen der Spiritualität zu verzeichnen ist. Vor diesem Hintergrund und auch angesichts der Tatsache, dass gerade der Personzentrierte Ansatz vielfach Eingang in – zumindest christliche – Ausbildungscurricula für Geistliche Begleitung gefunden hat, erscheint ein Blick auf die Kompatibilität des Personzentrierten Ansatzes mit Ansätzen Geistlicher Begleitung lohnend.
Religion ist aber auch in Westeuropa schon seit geraumer Zeit nicht mehr gleichbedeutend mit christlicher Religion, sondern es haben zum einen auch andere religiöse Traditionen hier Fuß gefasst, teilweise sind Menschen mit unterschiedlichen Traditionen konfrontiert und versuchen, diese miteinander zu verbinden, und zum anderen sind immer mehr Menschen ohne religiöse Anbindung aufgewachsen, die aber oft genug dennoch eine Anziehung des Religiösen verspüren. Dem soll mit dieser Arbeit Rechnung getragen und ausgehend von den großen religiösen Traditionen – ohne den Blick auf diese ist eine ernst zu nehmende Befassung mit einer solchen nicht denkbar – die Geistliche Begleitung mit überkonfessionell-interspiritueller Ausrichtung in den Blick genommen werden.
In einem ersten Abschnitt wird deshalb zunächst der Personzentrierte Ansatz als solcher mit Blick auf Menschenbild, Zielsetzung und Wirkfaktoren in Grundzügen dargestellt. In einem zweiten Abschnitt folgen dann wesentliche Grundzüge der Ansätze Geistlicher Begleitung in den großen religiösen Traditionen, also der „Angebote“, sich mit persönlicher Transzendenzbezogenheit auseinander zu setzen, die traditionell zur Verfügung stehen und die die Grundlage auch einer überkonfessionell-interspirituell ausgerichteten Geistlichen Begleitung sind. Verbindende und trennende Aspekte im Vergleich zum Personzentrierten Ansatz sollen zumindest in Ansätzen aufgezeigt werden. In einem dritten Abschnitt werden dann auf der Basis des zuvor Untersuchten die Grundbedingungen einer überkonfessionell-interspirituellen Geistlichen Begleitung behandelt und hinsichtlich ihrer Kompatibilität mit dem Personzentrierten Ansatz betrachtet.
Insgesamt wird der Blickwinkel ein rein theoretischer bleiben müssen. Entsprechende empirische Untersuchungen zum Thema würden den Rahmen dieser Masterarbeit sprengen, wenngleich sie anzustellen eine interessante Herausforderung wäre.
2. Der Personzentrierte Ansatz nach Carl R. Rogers
Der Personzentrierte Ansatz ist ein humanistischer Psychotherapie- und Beratungsansatz, der auf den US-Amerikaner Carl Ransom Rogers (1902–1987) zurückgeht. Aufgewachsen in einem protestantischen Elternhaus in einer „strengen und kompromißlosen religiösen und ethischen Atmosphäre“ (Rogers 1973, S. 21), wandte Rogers sich, zunächst von der Theologie kommend, der Psychologie zu, um frei von religiösen Doktrinen arbeiten zu können. Weltanschauliches spielte jedoch, wenn auch weniger ausdrücklich, durchaus weiter eine Rolle in seinem Wirken, wie beispielsweise an seiner häufigen Bezugnahme auf Sören Kierkegaard oder auch an seinem Dialog mit Martin Buber (Gesprächsabdruck bei Anderson/Cissna 1997) deutlich wird. Umgekehrt fand auch der Personzentrierte Ansatz Carl Rogers' vielfach Eingang in kirchliche Pastoral und Beratungsangebote (Bäumer/Plattig 1998, S. 141).
2.1. Das dem Personzentrierten Ansatz zugrunde liegende Menschenbild
Mehr oder weniger ausdrücklich liegt jedem psychologisch-psychotherapeutischen oder -beraterischen Ansatz ein den Ansatz prägendes Menschenbild zugrunde. Gleiches gilt für jede Religion. Insofern besteht eine – ggf. unterscheidende – Gemeinsamkeit, die es zu betrachten gilt.
Carl Rogers distanziert sich in seinen Aussagen über die seinem Ansatz zugrunde liegenden anthropologischen Grundannahmen sowohl von den – ihm im Wesentlichen als die christlichen vertrauten – protestantischen Vorstellungen von einem von Grund auf sündhaften Menschen wie auch von der insbesondere durch Sigmund Freud geprägten Annahme der Psychoanalyse, der Mensch sei in seinem Wesen eine triebgesteuerte Bestie, die es im Zaum zu halten gelte. Unter Bezugnahme auf seine klinische Erfahrung formuliert er seine Erkenntnis: „der innerste Kern der menschlichen Natur, die am tiefsten liegenden Schichten seiner Persönlichkeit, die Grundlage seiner tierischen Natur ist von Natur positiv – von Grund auf sozial, vorwärtsgerichtet, rational und realistisch“ (Rogers 1973, S. 99f.). Und etwas weiter (1973, S. 100f.) heißt es dann:
„Religion, vor allem die protestantische christliche Tradition, hat unsere Kultur mit der Grundansicht durchdrungen, daß der Mensch im Wesen sündhaft ist, und daß sich seine sündhafte Natur nur durch etwas, was einem Wunder nahekommt, negieren läßt. Freud und seine Jünger haben im Bereich der Psychologie überzeugende Argumente vorgelegt, daß das Es, des Menschen grundlegende und unbewußte Natur, primär aus Instinkten besteht, die, wenn sie zum Ausdruck gelangten, zu Inzest, Mord und anderen Verbrechen führen würden. ... dieses Konzept wird praktisch fraglos hingenommen. ... Der Grund liegt, scheint mir, in der Tatsache, daß man in der Therapie andauernd feindliche und antisoziale Gefühle entdeckt; dadurch fällt es leicht anzunehmen, daß man hier die tiefere und darum grundlegende Natur des Menschen sieht. Es ist nur langsam offenkundig geworden, daß diese ungezähmten und unsozialen Triebregungen weder die tiefsten noch die stärksten sind, und daß der innere Kern der menschlichen Persönlichkeit der Organismus selbst ist, der in seinem Wesen sowohl selbsterhaltend als auch sozial ist.“
Rogers geht, wie er an anderer Stelle (1987, S. 47) ausführt, vom Menschen als einem Individuum aus, das grundsätzlich „die Fähigkeit besitzt, sich zu leiten, zu regulieren und zu kontrollieren unter der Voraussetzung, daß bestimmte definierbare Bedingungen bestehen. Nur wenn diese Bedingungen fehlen, werden äußere Kontrolle und Regulation des Individuums erforderlich.“ Rogers folgt damit einem grundlegend positiven Menschenbild, wonach der Mensch seiner Natur nach gut und auf Freiheit und Entwicklung hin angelegt ist.
Zur Charakterisierung der Persönlichkeit des Menschen unterscheidet Rogers zwischen Selbst oder Selbstkonzept als dem Bild, das eine Person aufgrund gemachter Erfahrungen, Selbsterfahrungen, von sich hat (Rogers 1987, S. 26), und Erfahrungen des Organismus, womit Rogers den „Ort aller Erfahrungen und allen Erlebens“ (Rechtien, 2005, S. 39) des Menschen bezeichnet. Das „Selbstkonzept, das eine Person am liebsten besäße“ bezeichnet Rogers (1987, S. 26) als Selbstideal oder Ideal-Selbst. Dieses könne mit dem Selbst mehr oder weniger übereinstimmen oder auch nicht übereinstimmen. Dem Organismus, so Rogers (1987, S. 21f.), wohne die Tendenz inne, all seine Möglichkeiten in einer seiner Erhaltung und Förderung dienenden Weise zu entwickeln, was die Tendenz zu Differenzierung, Wachstum, Ausweitung und Verbesserung durch Reproduktion beinhalte und letztlich eine Entwicklung hin zu Autonomie und weg von Heteronomie oder Kontrolle durch äußere Zwänge meine. Seien Selbst und die Erfahrung des Organismus im Wesentlichen kongruent, so sei es auch die Aktualisierungstendenz des Organismus. Seien indes Selbst und Erfahrung des Organismus inkongruent, könne ein Widerspruch zwischen der allgemeinen Aktualisierungstendenz des Organismus und der Tendenz zur Entfaltung des Selbst, der Selbstaktualisierungstendenz, bestehen. Die Inkongruenz von Selbst und Erfahrung des Organismus und die sich daraus ergebenden Fehlanpassungen und Verletzlichkeiten sieht Rogers als den Boden für psychische Störungen bis hin zu Zusammenbruch und vollständiger Desorganisation der Person.
Die Entwicklung des Selbst und der Persönlichkeit des Menschen vollziehen sich, so Rogers (1987, S. 49), mit seiner Selbsterfahrung. Das Individuum symbolisiere einen Teil der Erfahrungen in einem Gewahrsein des Seins und des Handelns. Mit Symbolisierung meint Rogers dabei die Umsetzung der wahrgenommenen Erfahrung in ein nicht notwendigerweise begriffliches Symbol. Die Symbole des Gewahrseins müssten dabei nicht notwendigerweise mit der „wirklichen Erfahrung“ übereinstimmen (Rogers 1987, S. 24). Dieses Gewahrsein entwickele sich durch Interaktion mit der Umwelt, insbesondere durch zwischenmenschliche Erfahrungen, zum Selbstkonzept. Zu einer Inkongruenz von Selbst und Erfahrung des Organismus komme es, wenn nicht mehr alle Erfahrungen des Organismus korrekt symbolisiert und in die Selbststruktur eingearbeitet würden. Dies, so Rogers (1987, S. 49ff.), sei darauf zurückzuführen, dass das Individuum als ein wesentliches Bedürfnis das Bedürfnis nach positiver Beachtung entwickele, das – gleich ob es nun angeboren oder erlernt sei – ein Wesenszug des Menschen sei. Mit der Befriedigung oder Versagung dieses Bedürfnisses sei eine bestimmte Selbsterfahrung verknüpft. Deren Erleben verselbständige sich schließlich von konkreten Interaktionen mit anderen Individuen. Es werde unabhängig vom Austauschprozess, eine so genannte Selbstbeachtung. Werde nun das Umgehen des Individuums mit Selbsterfahrungen von der Bedeutung für die Selbstbeachtung beeinflusst, so habe das Individuum Bewertungsbedingungen entwickelt, den Boden für die Inkongruenz von Selbst und Erfahrungen, denn während Erfahrungen, die in Übereinstimmung mit den Bewertungsbedingungen stünden, wahrgenommen und korrekt im Gewahrsein symbolisiert würden, würden jene Erfahrungen, die den Bewertungsbedingungen widersprächen, nur selektiv oder entstellt wahrgenommen oder dem Gewahrsein ganz verweigert, um eine Übereinstimmung mit den Bewertungsbedingungen zu erreichen.
2.2. Ziel des Personzentrierten Ansatzes
Das Ziel des Personzentrierten Ansatzes in Therapie und Beratung ist es, den, wie dargelegt, auf Entwicklung hin angelegten Menschen seinem Entwicklungsziel näher zu bringen, zu einer voll entwickelten, einer voll funktionierenden Persönlichkeit (fully functioning person) heranzureifen (Rogers 1987, S. 59f.). Von einer voll entwickelten Persönlichkeit spricht Rogers, wenn völlige Kongruenz von Selbstkonzept und Erfahrung des Organismus besteht, ein Zustand psychischer Ausgeglichenheit und uneingeschränkter Offenheit für Erfahrung, damit einhergehend gleichsam ein Zustand ständiger Präsenz im Hier und Jetzt, kreativ und frei. Der voll entwickelte Mensch zeige keine Abwehrreaktionen mehr, alle Erfahrungen seien dem Gewahrsein uneingeschränkt verfügbar, sämtliche Symbolisierungen exakt. Bei Auftreten von Inkongruenzen werde das Selbstkonzept der Erfahrung angepasst. Die Person habe keine Beurteilungsbedingungen mehr, sondern erfahre sich selbst als Ort ihrer Bewertung. Der so entwickelte Mensch werde, so Rogers an anderer Stelle (1973, S. 181), „ein empfindsames, offenes, realistisches, aus sich geleitetes Mitglied der menschlichen Spezies ..., das sich mit Mut und Phantasie den Komplexitäten der wechselnden Situationen anpaßt“, was in Anlehnung an den von Rogers gern zitierten Sören Kierkegaard meine, „das Selbst zu sein, das es in Wahrheit ist“, also die Verwirklichung dessen, was bei Kierkegaard noch dem an der Suche nach dem Selbst Verzweifelnden entgegengehalten wird, „denn“, so Kierkegaard (2005, S. 40), „das Selbst sein zu wollen, das er in Wahrheit ist, bedeutet ja gerade das Gegenteil von Verzweiflung“. Rogers (1973, S. 183) bezeichnet dem entsprechend die Entwicklung hin zur fully functioning person auch mit dem Begriff des guten Lebens.
Rogers belässt es indes nicht bei einer rein individualistischen Betrachtung, sondern richtet seinen Blick darüber hinaus auch auf die gesellschaftliche Bedeutung, die seinem Ansatz zukommen könnte, und setzt sich zum Teil visionär mit Umsetzungsfragen in Schule, Verwaltung, Industrie bis hin zu internationalen Beziehungen auseinander. Im Einzelnen kann hierauf im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter eingegangen werden. Ausführungen dazu sind beispielsweise enthalten in Rogers/Rosenberg (1980) und Rogers (1981). Die Tatsache als solche erscheint jedoch im Kontext dieser Arbeit durchaus bedeutsam, berücksichtigt man, dass gerade für Religionen immer auch die gesellschaftliche Dimension eine Rolle spielt.
2.3. Wirkfaktoren
Für die Entwicklung des Menschen hin zur fully functioning person kommt es, so Rogers, entscheidend auf die Beziehungserfahrung an, die der Mensch macht. Die Qualität der Beziehung zwischen Klient und Therapeut oder Berater erachtet Rogers deshalb auch als den entscheidenden Wirkfaktor für den Erfolg der Beratung bzw. Therapie. Hierzu führt Rogers (1973, S. 51f.) in einem Vortrag von 1954 aus:
„Wenn ich eine Beziehung herstellen kann, die auf meiner Seite so charakterisiert ist:
Authentizität und Transparenz, ich zeige mich in meinen wirklichen Gefühlen;
warmes Akzeptieren und Schätzen des anderen als eigenständiges Individuum;
Einfühlung, die Fähigkeit, den anderen und seine Welt mit seinen Augen zu sehen;
dann wird der andere in dieser Beziehung:
Aspekte seines Selbst, die er bislang unterdrückt hat, erfahren und verstehen;
finden, daß er stärker integriert ist und eher in der Lage sein, effektiv zu agieren;
dem Menschen, der er sein möchte, ähnlicher werden;
mehr Persönlichkeit werden, einzigartiger und fähiger zum Selbstausdruck;
verständiger, annahmebereiter gegenüber anderen sein;
angemessener und leichter mit den Problemen des Lebens fertig werden können.
Diese Aussage trifft, glaube ich, zu, gleichgültig, ob ich von meiner Beziehung zum Klienten, zu einer Gruppe von Studenten oder Kollegen, oder von meiner Beziehung zu meiner Familie oder meinen Kindern spreche. Mir scheint, daß wir hier eine allgemeine Hypothese haben, die aufregende Möglichkeiten der Entwicklung von kreativen, anpassungsfähigen, autonomen Menschen bietet.“
Die entscheidenden Bedingungen für eine konstruktive Persönlichkeitsveränderung, die er als notwendig und auch hinreichend erachtet, benennt Rogers an anderer Stelle (Rogers/Schmid 1991, S. 168f.) folgendermaßen:
„Damit sich konstruktive Persönlichkeitsveränderung ereignet, ist es notwendig, daß die folgenden Bedingungen gegeben sind und über eine gewisse Zeitspanne hinweg andauern:
1. Zwei Personen befinden sich in psychologischem Kontakt.
2. Die erste, die wir Klient nennen, befindet sich in einem Zustand der Inkongruenz, ist verletzbar oder ängstlich.
3. Die zweite Person, die wir Therapeut nennen werden, ist kongruent oder integriert in der Beziehung.
4. Der Therapeut empfindet eine bedingungslose positive Zuwendung dem Klienten gegenüber.
5. Der Therapeut empfindet ein empathisches Verstehen des inneren Bezugsrahmens des Klienten und ist bestrebt, diese Erfahrung dem Klienten gegenüber zum Ausdruck zu bringen.
6. Die Kommunikation des empathischen Verstehens und der bedingungslosen positiven Zuwendung des Therapeuten dem Klienten gegenüber wird wenigstens in einem minimalen Ausmaß erreicht.
Keine anderen Bedingungen sind notwendig. Wenn diese sechs Bedingungen gegeben sind und über eine bestimmte Zeitspanne hinweg andauern, ist dies hinreichend. Der Prozeß der Persönlichkeitsentwicklung wird folgen.“
Persönlichkeitsentwicklung findet demnach ausschließlich in Beziehung statt. Ausgangspunkt ist das Bestehen einer Inkongruenz in der Person des Klienten oder der Klientin. Alsdann benennt Rogers die so genannten drei Basisvariablen oder Grundhaltungen des Personzentrierten Ansatzes, für die sich unterschiedliche Begriffe etabliert haben und die in der Person des Therapeuten bzw. der Therapeutin oder des Beraters bzw. der Beraterin verwirklicht sein müssen, nämlich
- die positive Zuwendung, positive Beachtung, Wertschätzung oder Akzeptanz (positiv regard) gegenüber dem Klienten bzw. der Klientin,
- die Echtheit, Kongruenz, Selbstkongruenz oder Authentizität in der Beziehung zum Klienten bzw. zur Klientin und
- das empathische Verstehen, die Empathie.
Und diese Basisvariablen müssen zudem für den Klienten bzw. die Klientin zumindest minimal spürbar, erfahrbar sein.
Bei diesen Basisvariablen handelt es sich nicht um Methoden, sondern um Grundhaltungen, die die beratende Person nicht einfach anwenden kann, sondern verinnerlicht haben muss, worauf Rogers immer wieder hinweist bis hin zu der Aussage (Rogers/Schmid 1991, S. 243):
„Der personzentrierte Ansatz ist dann also vor allem eine Seinsweise [way of being], die ihren Ausdruck in Einstellungen und Verhaltensweisen findet, die ein wachstumsförderndes Klima schaffen. Er ist mehr eine grundlegende Philosophie als einfach eine Technik oder Methode. Wenn diese Philosophie gelebt wird, hilft sie der Person, die Entwicklung ihrer Fähigkeiten auszuweiten. Wenn sie gelebt wird, regt sie ebenso eine konstruktive Veränderung bei anderen an. Sie verleiht dem einzelnen Kraft, und die Erfahrung zeigt: Wenn diese persönliche Kraft gespürt wird, führt sie zu persönlicher und sozialer Veränderung.
Wenn diese personzentrierte Seinsweise in der Psychotherapie gelebt wird, führt sie zu einem Prozeß der Selbstexploration und Selbstentdeckung beim Klienten und in der Folge zu konstruktiven Veränderungen in Persönlichkeit und Verhalten. Wenn der Therapeut diese Bedingungen in der Beziehung lebt, wird er zum Begleiter des Klienten auf dieser Reise zum Innersten des Selbst.“
Die Basisvariablen sind miteinander verknüpft und bedingen einander in gewisser Weise auch. Es bedarf zunächst der bedingungslosen positiven Beachtung (positiv regard), was „Haltungen wie Wärme, Liebe, Respekt, Sympathie und Anerkennung“ (Rogers 1987, S. 34) umfasst, da die Person, wie sich bereits aus den Ausführungen unter 2.1. ergibt, nur aufgrund der Erfahrung bedingungsloser positiver Beachtung auch eine entsprechende bedingungslose positive Selbstbeachtung, unabhängig von Beurteilungsbedingungen, entwickeln kann. Erfahrbar ist diese positive Beachtung indes nur, wenn dabei auch die beratende Person ihrerseits echt, kongruent, authentisch und dies für die beratene Person auch transparent ist. Die beratende Person muss also ihr eigenes Sein akzeptieren und dies zeigen können, wie Rogers mehrfach darlegt (z. B. 1973, S. 64f.). Bedingungslose positive Beachtung ist aber der beratenden Person auch nur möglich auf dem Boden empathischen Verstehens. Und nur durch dieses kann die beratende Person der beratenen auch den Zugang zu ihren eigenen Empfindungen und Gefühlen vermitteln und die Entwicklung eigener positiver Selbstbeachtung unterstützen. Empathisches Verstehen meint dabei nicht etwa eine Identifizierung der beratenden Person mit dem Klienten bzw. der Klientin, sondern „den inneren Bezugsrahmen des anderen möglichst exakt wahrzunehmen, mit all seinen emotionalen Komponenten und Bedeutungen, gerade so, also ob man die andere Person wäre, jedoch ohne jemals die 'als ob'-Position aufzugeben. Das bedeutet Schmerz oder Freude des anderen zu empfinden, gerade so wie er empfindet, dessen Gründe wahrzunehmen, so wie er sie wahrnimmt, jedoch ohne jemals das Bewußtsein davon zu verlieren, daß es so ist, als ob man verletzt würde usw.“ (Rogers 1987, S. 37). Letztlich umfasst die Empathie das Wahrnehmen, Verstehen und – verbale wie nonverbale – Mitteilen der inneren Realität des Klienten bzw. der Klientin (d. h. Gefühle ebenso wie Ansichten, Werte, Motive und Bewertungen von Situationen) durch die beratende Person (Rechtien 2005, S. 45f.).
Inwieweit die dargelegten Bedingungen tatsächlich nicht nur notwendig, sondern auch hinreichend sind für die Persönlichkeitsentwicklung, wie Rogers annimmt, ist durchaus umstritten. Diese Diskussion kann jedoch an dieser Stelle nicht weiter aufgegriffen und betrachtet werden, dies zumal die im engeren Sinne therapiebezogenen Kritikpunkte ohnehin für das Thema dieser Arbeit keine weitere Bedeutung haben. Exemplarisch sei verwiesen auf die kurze Darstellung bei Kriz (2005, S. 167ff.).
3. Geistliche Begleitung in den großen religiösen Traditionen
3.1. Geistliche Begleitung – eine begriffliche Abgrenzung
Bevor auf die Geistliche Begleitung in den großen religiösen Traditionen eingegangen werden kann, bedarf es einer Klärung, wie der Begriff verwendet wird, und einer Abgrenzung von anderen Formen der Beratung im geistlich-spirituellen Kontext. Immer wieder bestehen Unklarheiten, was eigentlich Geistliche Begleitung ist bzw. nicht ist, wie etwa Marianne Schlosser (Prokschi/Schlosser 2007, S. 9) feststellt: „Nicht alle, die sich eine 'geistliche Begleitung' wünschen, haben eine klar bestimmte Vorstellung dessen, was sie suchen, oder was sie von einem Begleiter erwarten.“ Das gilt selbst innerhalb einer religiösen Tradition, geschweige denn in einem interreligiösen Kontext. Die Bandbreite der Erwartungen an und Vorstellungen von Geistlicher Begleitung reicht von allgemeiner Pastoral über religiöse Erziehung und Katechese bis hin zu Formen religiöser Ehe- und Familienberatung u. Ä. Das alles ist Geistliche Begleitung indes nicht, worauf beispielsweise Howard Avruhm Addison (2000, S. 32ff., 37) zu Recht deutlich hinweist. Es geht in der Geistlichen Begleitung nicht um religiöse Wissensvermittlung und genauso wenig geht es darum, allgemeine Lebensprobleme oder auch psychische Störungen in einem therapeutischen Sinne schlicht unter Einbeziehung – auch – religiöser Aspekte zu bearbeiten. Vielmehr geht es in der Geistlichen Begleitung zentral um die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen in seiner persönlichen Gott- oder allgemeiner ausgedrückt Transzendenz-Bezogenheit. Es geht um die Spiritualität des Menschen, Spiritualität in dem Sinne, wie sie das Institut für Spiritualität Münster (2000, S. 10) definiert hat: „Spiritualität ist die fortwährende Umformung eines Menschen, der antwortet auf den Ruf Gottes.“ Und Wayne Teasdale (2004, S. 40) schreibt: „ Spirituell zu sein heißt, sich auf einen Prozess der inneren Entwicklung einzulassen, der uns total, das heißt in unserem ganzen Wesen in Anspruch nimmt. ... Spiritualität ist eine Lebensform, die jeden Moment des Lebens beeinflusst und einbezieht.“ Dieser Umformungsprozess, diese innere Entwicklung, diese Lebensform, auf die ein Mensch, der die Anrufung Gottes – oder auch hier mit Blick auf die Interspiritualität universaler ausgedrückt die Anziehung des Transzendenten – verspürt, sich einlässt oder einzulassen erwägt oder beabsichtigt, steht im Mittelpunkt der Geistlichen Begleitung.
3.2. Geistliche Begleitung, Religion und Menschenbild
Geistliche Begleitung entstammt dem religiösen Kontext und ähnlich wie auch bei den verschiedenen Psychotherapie- und Beratungsansätzen gibt es unterschiedliche Ansätze der Geistlichen Begleitung und besteht ein Zusammenhang mit dem jeweiligen Menschenbild. Das Menschenbild in den Religionen – und zwar nicht nur zwischen den Religionen, sondern gerade auch innerhalb einzelner Religionen – variiert sehr stark. Eine vollständige Darstellung dieser Vielzahl verschiedener Menschenbilder ist im Rahmen dieser Arbeit weder möglich, noch für das Thema, um das es letztlich geht, notwendig. Eine Betrachtung von Menschenbildern mit Blick auch auf unterschiedliche Religionen findet sich beispielsweise bei Jochen Fahrenberg (2007, S. 175ff.). Nur soweit dies für das Verständnis der jeweiligen Begleitungsansätze erforderlich ist, wird deshalb nachfolgend auch auf das dahinter stehende Menschenbild eingegangen.
3.3. Geistliche Begleitung in den monotheistischen Religionen
Der heutige Begriff der Geistlichen Begleitung entstammt der christlichen Tradition und ist auch in allererster Linie durch diese geprägt, insbesondere durch die katholische und die orthodoxe Tradition. Aus diesem Grund soll zunächst die Geistliche Begleitung in den monotheistischen Traditionen, den so genannten Offenbarungsreligionen oder auch abrahamitischen Religionen, betrachtet werden, also in der jüdischen, christlichen und muslimischen Tradition. Hier geht es – insoweit besteht eine Übereinstimmung – immer um die Bezogenheit auf den und die Beziehung des Menschen zu dem einen personalen Gott, der sich seinerseits dem Menschen insbesondere im Wort (jüdisch: im Wort der Tora, des Gesetzes, mit dem es sich auseinanderzusetzen und das es zu ergründen und zu verstehen gilt; christlich: im fleischgewordenen Wort, Jesus Christus, dem es im Glauben nachzufolgen gilt; muslimisch: im Wort als Buch, dem Koran/Qur'an, mit der zentralen Forderung der Hingabe an Gott) offenbart.
3.3.1. Christentum
3.3.1.1. Geistliche Begleitung im Christentum
Im Christentum – West- wie Ostkirche – hat die Geistliche Begleitung eine lange Tradition, die zurückgeht auf die Zeit der Wüstenväter (und auch einiger -mütter) des frühen Christentums. Sie entstammt damit einer monastischen Tradition.
Das Menschenbild der Väter und Mütter der Wüste war von der Grundannahme geprägt, dass „jeder Mensch in seiner konkreten Situation und Verfasstheit ... zur Selbst- und Gotteserkenntnis berufen“ und die entsprechende Entwicklung auf dieses Ziel hin zu fördern sei (Plattig 2001, S. 26). Es geht im alten Mönchtum in der Geistlichen Begleitung in erster Linie nicht um „die Überwindung von Konflikten, die Heilung seelischer Defekte, die Anleitung zu einem moralisch guten Leben, sondern es ist die Hinführung zur Kontemplation, zur Begegnung mit Gott, zur Schau Gottes“ (Bäumer/Plattig 1998, S. 84). Und Anselm Grün (2002, S. 118) führt dazu aus: „Es ist ein mystischer Weg, auf dem die Väter ihre Schüler begleiten. Es geht ihnen nicht zuerst um den moralisch richtigen Weg, nicht zuerst um die Verwirklichung des Willens Gottes und um die richtigen Entscheidungen, sondern um das Einswerden mit Gott.“
Als wesentliche Aufgabe auf diesem Weg sehen die Väter und Mütter der Wüste die Auseinandersetzung mit den Gedanken (logismoi), womit „Vorstellungen und Ideen, ... bestimmte Absichten, Pläne, Intentionen, Wünsche, Einfälle, Gefühle, Motive, Stimmungen“ (Plattig 2001, S. 26) gemeint sind. Ziel der Auseinandersetzung ist die Befreiung von Abhängigkeiten von diesen. „Zunächst wird keine Bewertung vorgenommen, alle Gefühle und Bedürfnisse, alle Sehnsüchte und Stimmungen des Menschen haben ein Recht zu sein, sie haben einen Sinn“ (Plattig 2001, S. 26). Selbsterkenntnis steht zunächst im Vordergrund, aus der dann die Gotteserkenntnis erwächst. Dahinter steht zuvorderst die biblische Grundannahme des Buchs Genesis, dass der Mensch als Gottes Abbild geschaffen ist (Genesis 1,27). Aber auch etwa im – erst 1945 wieder entdeckten, im kirchlichen Kanon nicht enthaltenen, jedoch in frühchristlichen Texten bereits zitierten – so genannten Thomas-Evangelium ist als Jesus-Wort überliefert: „Jesus spricht: Wer das All erkennt, aber sich selbst verfehlt, verfehlt den ganzen Ort des Alls“ (EvThom log 67, Ausgabe Nordsieck 2004, S. 260). Die Selbsterkenntnis ist von zentraler Bedeutung. Das von Rogers kritisierte bzw. abgelehnte Bild vom zutiefst sündhaften Menschen entspricht nicht dem Menschenbild der frühen Christen, sondern entstammt einer späteren, überwiegend auf Augustinus von Hippo zurückgeführten Vorstellung, die auch nicht für das gesamte Christentum übernommen wurde (Palmer 2002, S. 220f.).
Über die Geistliche Begleitung im frühen Christentum sind keine methodischen Konzepte überliefert, sondern Episoden und Beispiele. Eine Sammlung ist erhalten als Apophtegmata Patrum (Deutsche Übersetzung: Miller 2005). Hieraus wird deutlich, dass konkrete Weisungen, Tröstungen und Ermutigungen eine Rolle spielen. Zentral aber ist offenbar, dass der Altvater oder die Altmutter einerseits über große eigene Erfahrung verfügen, die zum Ausdruck kommt und zur Verfügung gestellt wird, und andererseits sich mit voller Aufmerksamkeit dem Rat suchenden Menschen zuwenden und auf dessen konkrete Situation, Gefühlslage und Fähigkeiten eingehen. Bäumer und Plattig (1998, S. 118f.) führen zu den Anforderungen, die an die Person des Altvaters oder der Altmutter zu stellen sind, aus:
„Die Schriften der Mönchsväter fordern vom geistlichen Vater, daß er 'pneumatikos' ist, vom Heiligen Geist erfüllt. Geistlich ist nach Irenäus ein Mensch, bei dem der Hl. Geist Leib und Seele miteinander verbunden und durchdrungen hat. Modern gesprochen, der ganz geworden ist, der jegliche Spaltung in sich und mit sich selbst im Geist überwunden hat. Der geistliche Vater muß bewandert sein in den Geheimnissen Gottes und er muß das menschliche Herz erforscht haben. Kardiognosie nennen die Griechen die Gabe der Herzenserkenntnis. Das gilt zunächst für den Vater selbst, der sein eigenes Herz erforscht haben muß, und dann auch für die, die zu ihm kommen.“
[...]