Achtsamkeit versus Selbstkontrollanforderungen im Studium

Eine empirische Untersuchung zu protektiven Ressourcen im Stressprozess von Studierenden


Bachelorarbeit, 2022

113 Seiten, Note: 1,7

Anonym


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretischer Hintergrund
2.1 Achtsamkeit
2.1.1 Der Ursprung der Achtsamkeit
2.1.2 Komponenten der Achtsamkeit
2.1.3 Achtsamkeitsdefinition nach Brown & Ryan
2.1.4 Zwei Komponenten Modell
2.2 Wohlbefinden
2.2.1 Hedonisches & eudaimonisches Wohlbefinden
2.2.2 Mental Health Theory
2.2.3 Well-Being Theory
2.3 Selbstkontrollanforderungen
2.3.1 Konzept der Selbstkontrolle
2.3.2 Selbstregulationsmodell
2.3.3 Ressourcenmodell der Selbstkontrolle
2.4 Aktueller Forschungsstand
2.5 Hypothesenentwicklung

3 Methode
3.1 Stichprobe
3.2 Untersuchungsdesign
3.3 Untersuchungsdurchführung
3.4 Erhebungsinstrumente
3.4.1 Mindful Attention Awareness Scale
3.4.2 Flourishing Scale
3.4.3 Self-Control Demands Questionnaire

4 Ergebnisse
4.1 Datenaufbereitung
4.2 Deskriptivstatistische Analyse
4.3 Inferenzstatistische Analyse
4.4 Weitere explorative Analysen

5 Diskussion
5.1 Interpretation der Ergebnisse
5.2 Limitation
5.3 Implikation für die Praxis und Ausblick

6 Fazit

Anhangsverzeichnis

Literaturverzeichnis

Zusammenfassung

Die vorliegende Forschungsarbeit untersucht im Rahmen einer Online-Befragung den Einfluss der Achtsamkeit auf das Wohlbefinden und auf die Selbstkontrollanforderungen im akademischen Kontext. Das Ziel der quantitativen Untersuchung liegt der Forschungsfrage zugrunde, ob Achtsamkeit als mögliche Intervention zur Stressbewältigung bei Studierenden eingesetzt werden kann. Zu diesem Zweck werden N = 209 Studierende befragt, die an einer Universität bzw. Hochschule immatrikuliert sind. Zur Operationalisierung der zu untersuchenden Konstrukte Achtsamkeit, Wohlbefinden und Selbstkontrollanforderungen werden die deutsche Version der Mindful Attention Awareness Scale (MAAS; Michalak et al., 2008), die deutsche Version der Flourushing Scale (FS-D; Esch et al., 2013) und die Skalen zur Erfassung verschiedener Formen wahrgenommener Selbstkontrollanforderungen (Neubach & Schmidt, 2010) als standardisierte Messinstrumente verwendet. Die Ergebnisse der Untersuchung ergeben eine positiv moderate Korrelation zwischen der Achtsamkeit und dem Wohlbefinden von Studierenden. Zusätzlich wird der negative Zusammenhang zwischen den Selbstkontrollanforderungen und dem Wohlbefinden, welcher bereits von Rivkin, Diestel und Schmidt (2015), Konze, Rivkin und Schmidt (2017) sowie Gombert, Rivkin Schmidt (2016) aufgezeigt wird, statistisch falsifiziert. Die inferenzstatistische Auswertung ergibt einen positiv moderaten Zusammenhang zwischen den Selbstkontrollanforderungen und dem Wohlbefinden von Studierenden. Weiterhin wird eine Interaktion zwischen den Altersklassen und dem Geschlecht beobachtet. Weibliche Studierende zeichnen sich gegenüber männlichen Studierenden durch reduzierte Selbstkontrollanforderungen aus. Mit einem höheren Alter verringern sich die Selbstkontrollanforderungen bei beiden Geschlechtern. Die statistische Auswertung zeigt zudem, dass kein moderierender Einfluss der Achtsamkeit auf den Zusammenhang zwischen den Selbstkontrollanforderungen und dem Wohlbefinden von Studierenden vorliegt. Aus den berichteten Ergebnissen lässt sich schlussfolgern, dass im Achtsamkeitstraining keine ressourcenorientierte Intervention zum Zwecke der Prävention von Stressbewältigung im akademischen Kontext gesehen werden kann.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1. Datenaufbereitung

Abb. 2. Histogramm der Mindful Attention Awareness Gesamtskala

Abb. 3. Histogramm der Flourishing Gesamtskala

Abb. 4. Histogramm zu den Selbstkontrollanforderungen Gesamtskala

Abb. 5. Interaktionsdiagramm zwischen den Altersklassen und dem Geschlecht auf die Selbstkontrollanforderungen

Abb. 6. Fragebogen: Rücklauf-Statistik

Abb. 7. Fragebogen: Items MAAS

Abb. 8. Fragebogen: Items FS-D

Abb. 9. Fragebogen: Items IK

Abb. 10. Fragebogen: Items ÜW

Abb. 11. Fragebogen: Items AW

Abb. 12. Fragebogen: Einleitung

Abb. 13. Fragebogen: Datenschutz

Abb. 14. Fragebogen: Einwilligung

Abb. 15. Fragebogen: sozidemographische Daten

Abb. 16. Fragebogen: Mindful Attention Awareness Scale

Abb. 17. Fragebogen: deutsche Version der Flourishing Scale

Abb. 18. Fragebogen: Selbstkontrollanforderungen-IK

Abb. 19. Fragebogen: Selbstkontrollanforderungen-ÜW

Abb. 20. Fragebogen: Selbstkontrollanforderungen-AW

Abb. 21. Fragebogen: Danksagung

Abb. 22. Datenaufbereitung

Abb. 23. Histogramm der Mindful Attention Awareness Gesamtskala

Abb. 24. Histogramm der Flourishing Gesamtskala

Abb. 25. Streudiagramm von Selbstkontrollanforderungen und Wohlbefinden

Abb. 26. Streudiagramm von Achtsamkeit und Wohlbefinden

Abb. 27. Moderationsanalyse zwischen Achtsamkeit, Selbstkontrollanforderungen und Wohlbefinden

Abb. 28. Interaktionsdiagramm zwischen den Altersklassen und dem Geschlecht auf die Selbstkontrollanforderungen

Tabellenverzeichnis

Tab. 1. Charakteristika der Stichprobe

Tab. 2. Deskriptive Statistiken der Konstrukte

Tab. 3. Zweifaktorielle Varianzanalyse auf Selbstkontrollanforderungen

Tab. 4. Item-Skalen-Statistik MAAS

Tab. 5. Deskriptive Statistik der einzelnen Items FS-D

Tab. 6. Item-Skalen-Statistik FS-D

Tab. 7. Item-Skalen-Statistik Selbstkontrollanforderungen

Tab. 8. Kolmogrof-Smirnov-Test auf Normalverteilung

Tab. 9. Spearman-Korrelation Selbstkontrollanforderungen und Wohlbefinden

Tab. 10. Spearman-Korrelation Skalen der Selbstkontrollanforderungen und Wohlbefinden

Tab. 11. Spearman-Korrelation Achtsamkeit und Wohlbefinden

Tab. 12. Zweifaktorielle Varianzanalyse auf Achtsamkeit

Tab. 13. Zweifaktorielle Varianzanalyse auf Wohlbefinden

Tab. 14. Zweifaktorielle Varianzanalyse auf Selbstkontrollanforderungen

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

In einem zunehmend komplexen und dynamischen Arbeitsumfeld müssen sich Mitarbeiter mit regulatorischen Anforderungen wie emotionaler Arbeit, Zeitdruck, Problemlösungs- und Selbstkontrollanforderungen auseinandersetzen, die sie zur Selbstkontrolle veranlassen. Aber nicht nur das berufliche Setting, sondern auch der akademische Kontext umfasst hohe Anforderungen an die Selbstkontrolle und kann so psychische Belastungen verursachen (Externbrink, Diestel & Krings, 2019). Stress stellt eine Thematik dar, mit welcher jeder Student früher oder später im Studium konfrontiert wird. In den Längsschnittstudien von Oateng und Cheng (2005) wird von zunehmenden Belastungsindikatoren wie emotionaler Belastung und psychosomatischen Symptomen sowie Selbstkontrollversagen während akademischen Prüfungsphasen im Vergleich zu Studierenden ohne Prüfungsstress berichtet. Gemäß der „Integrative Self-Control Theory“ deuten diese Befunde darauf hin, dass Zeitdruck, Lern- und Problemlösungsanforderungen sowie akademische Prüfungen aversive Effekte aufweisen und somit die Kontrollkapazität der Studenten erfordern (Kotabe & Hofmann, 2015). Wissenschaftliche Aufgaben setzen im Allgemeinen eine hohe Selbstkontrolle voraus, da die Komplexität der Vorlesungsinhalte zunimmt, die Zeitpläne in der Regel keine flexible Planungswege erlauben und die wissenschaftlichen Projekte aufwendiger werden (Thomas & Mengel, 2008). Infolgedessen können schlechte Leistungen resultieren, die sich wiederum auf das Stresserleben auswirken, besonders wenn sie schlechter ausfallen als erwartet (Ross, Niebling & Heckert, 1999). Nach Middendorf, Poskowsky und Isserstedt (2012) soll es einen Zusammenhang zwischen der zeitlichen Belastung und dem wahrgenommenen Leistungsdruck bei den Studierenden geben. Eine zusätzliche Erwerbsarbeit und hohe Arbeitsbelastungen im Studium können weitere Stressoren darstellen (Holm-Hadulla, Hofmann, Sperth & Funke, 2009; Ross, Niebling & Heckert, 1999). Weitere Untersuchungen zeigen, dass sich mehr als ein Drittel der Studierenden von psychosozialen Problemen betroffen fühlt und ca. 40% der Studierenden vermuten, dass diese Probleme durch ihr Studium oder zu einem großen Teil durch ihr Studium verursacht werden (Barthel, Ernst, Rawohl, Körner, Lehmann & Brähler, 2011).

Um präventiv gegen Stressbelastungen vorzugehen und das Wohlbefinden der Studierenden zu steigern, konnte sich Achtsamkeit bereits in den verschiedensten Bereichen des Stressmanagements bewähren. Achtsamkeitsbasierte Ansätze werden aufgrund ihrer empirischen belegten Wirksamkeit auch in der Psychotherapie eingesetzt (Berking, 2012). In einer Feldstudie konnte durch ein Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR) basiertes Achtsamkeitsprogramm neben der Verbesserung des psychischen Wohlbefindens und der Achtsamkeit auch die Burnout-Rate der Probanden reduziert werden (Kersemaekers et al., 2018). Zudem konnten Shapiro, Astin, Bischop und Cordova (2005); Taylor et al. (2016) nachweisen, dass achtsamkeitsbasierte Interventionen zu einer Abnahme des Stressniveaus führen.

Das Ziel der quantitativen Studie liegt in der empirischen Untersuchung der Beziehung zwischen Achtsamkeit, Selbstkontrollanforderungen und dem Wohlbefinden im akademischen Kontext. Der vorliegenden Abschlussarbeit liegt daher die Forschungsfrage zugrunde, ob Achtsamkeit als mögliche Intervention zur Stressbewältigung bei Studierenden eingesetzt werden kann. In diesem Zusammenhang soll untersucht werden, ob Achtsamkeit einen Einfluss auf das Wohlbefinden und auf die Selbstkontrollanforderungen von Studierenden einnimmt. Die Ergebnisse der Studie könnten Anhaltspunkte dafür liefern, dass Achtsamkeit als mögliche Intervention zur Stressbewältigung bei Studierenden eingesetzt werden kann. Träfe dies zu, kann im Achtsamkeitstraining eine ressourcenorientierte Intervention zum Zwecke der Prävention von studentischem Stress gesehen werden. Demzufolge würde ein relevanter Mehrwert für Handlungsempfehlungen resultieren, aus dem sich ableiten ließe, dass eine erhöhte Achtsamkeit bei Studierenden, eine Reduzierung bzw. Vorbeugung des Belastungsempfindens im Studium hervorruft.

Zu Beginn der Untersuchung werden im ersten Schritt die theoretischen Grundlagen vorgestellt, welche das Fundament für die Generierung der zu untersuchenden Hypothesen bilden. Die thematischen Schwerpunkte Achtsamkeit, Wohlbefinden und Selbstkontrollanforderungen werden erläutert und theoretisch fundiert. Aufbauend auf der Theorie sowie dem aktuellen Forschungsstand erfolgt in Kapitel 2.5 die Hypothesenformulierung. Mittels der in Kapitel 3 aufgeführten Methodik erfolgt die Überprüfung der theoriefundierten Präsumtionen. Im vierten Kapitel werden die zentralen Forschungsergebnisse systematisch beleuchtet. Anschließend werden in Kapitel 5 die statistischen Ergebnisse vor dem Hintergrund, der eingangs beschriebenen Theorien diskutiert und interpretiert. Rückblickend auf die methodische Vorgehensweise endet das Diskussionskapitel, neben einer kritischen Reflexion der empirischen Arbeit, mit möglichen Implikationen für Praxis und Forschung. Die vorliegende Arbeit schließt mit einem Fazit, auf dessen Basis die Beantwortung der Forschungsfrage erfolgt.

„Das in dieser Arbeit gewählte generische Maskulinum bezieht sich zugleich auf die männliche, die weibliche und andere Geschlechteridentitäten. Zur besseren Lesbarkeit wird auf die Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Alle Geschlechtsidentitäten werden ausdrücklich mitgemeint, soweit die Aussagen dies erfordern“. In der vorliegenden Bachelorarbeit wird der Leitfaden zur formalen Gestaltung von Seminar- und Abschlussarbeiten nach Jäger, Kümpel und Seng (2021) verwendet.

2 Theoretischer Hintergrund

Das nachfolgende Kapitel gibt zunächst den bisherigen Forschungsstand zu den Themen der vorliegenden Arbeit wieder, um die relevanten Konstrukte epistemologisch zu fundieren und ein Verständnis für die methodische Vorgehensweise der Untersuchung zu vermitteln. Es beginnt mit der theoretischen Einordnung des Konstrukts Achtsamkeit. Den Fragen, über den Ursprung, was unter dem Begriff Achtsamkeit zu verstehen ist, welche Komponenten sie umfasst, der Achtsamkeitsdefinition nach Brown und Ryan und dem zwei Komponenten Modell, wird hier nachgegangen. Daraufhin wird das Konstrukt Wohlbefinden näher beleuchtet. In diesem Kontext werden mehrere relevante Modelle, die eine bedeutsame Rolle einnehmen, vorgestellt. Darüber hinaus wird auf das Konstrukt Selbstkontrollanforderungen eingegangen. In diesem Unterkapitel werden die Erkenntnisse aus der einschlägigen Forschungsliteratur sowie Ergebnisse spezifischer Studien zur Selbstkontrolle beschrieben. Anschließend wird der aktuelle Forschungsstand dargestellt. Das Kapitel schließt mit der Herleitung der Forschungshypothesen, die der vorliegenden Arbeit zugrunde liegen.

2.1 Achtsamkeit

Das Konzept der Achtsamkeit gewinnt aufgrund seiner nachgewiesenen Wirksamkeit in den letzten Jahren immer mehr an Bedeutung. Anfang der 1990er Jahre war die Auseinandersetzung mit diesem Thema noch oft esoterisch, doch mit der Zeit konnten kontinuierlich qualitativ hochwertige Studien zu diesem Themenkomplex dokumentiert werden. Ebenso werden in den letzten Jahren achtsamkeitsbasierte Interventionen - wie die „Mindfulness Based Relapse Prevention“ oder die „Mindfulness Based Cognitive Therapy“ (MBCT) - erfolgreich in therapeutische Maßnahmen integriert. Darüber hinaus findet Achtsamkeit zunehmend Anwendung im Rahmen der Organisationsentwicklung (Au & Seidel, 2017). Dieser Aspekt stärkt die Auffassung des Zukunfts- und Trendforschers Matthias Horx (2016), dass sich Achtsamkeit im organisatorischen Umfeld zu einem Megatrend entwickelt. Seinen Prognosen zufolge wird diese in den nächsten 20 bis 30 Jahren in allen Bereichen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens präsent sein. Nicht ohne Grund interessiert sich auch die Wirtschaft für das Thema Achtsamkeit. Der hohe Ökonomisierungsdruck auf die Unternehmen, lässt deren Führungskräfte und Mitarbeiter nicht gleichgültig, sondern bedroht unmittelbar deren psychosoziale Gesundheit. Daher ist die Prävention und das Management von Gesundheitsrisiken für Unternehmen von entscheidender Bedeutung. Achtsamkeit eröffnet hier neue Möglichkeiten. Organisationen haben bereits damit begonnen, achtsamkeitsbasierte Trainingsprogramme anzubieten. Diese können jedoch nur effektiv sein, wenn die Mitarbeiter die darin vermittelten Übungen auch tatsächlich in ihre tägliche Arbeit einfließen lassen. Vor dem Hintergrund, dass Achtsamkeit nicht konsumiert werden kann, muss sie konsequent praktiziert werden, um effektiv zu sein (Hülsheger et al., 2018). Im Rahmen dieser Untersuchung wird Achtsamkeit nach Michalak et al. (2008) erfasst.

2.1.1 Der Ursprung der Achtsamkeit

Achtsamkeit ist längst zu einem Trend geworden und stärkt seit Jahren ihre mediale Präsenz. Allein im Sommer 2017 veröffentlichte die Neue Zürich Zeitung vier Artikel zum Thema Achtsamkeit im Arbeitsalltag und der Spiegel publizierte seit 2013 elf Beiträge zum Thema Achtsamkeit. Gerade mit der Verbreitung des Programms MBSR gewinnt Achtsamkeit nicht nur in der Wissenschaft, sondern vor allem auch am Arbeitsplatz immer mehr an Bedeutung. Viele Personalentwickler führen Achtsamkeit in Unternehmen ein, um die Unternehmenskultur zu reformieren. Große multinationale Firmen wie Apple, Facebook oder Google nutzen es als ein Mittel zur Steigerung der Kreativität, Effizienz und emotionalen Kompetenz ihrer Mitarbeiter (Jardine, 2017).

Achtsamkeit ist kein neues Konzept, sondern eine tausendjährige spirituelle Tradition aus ostasiatischen Ländern und das zentrale Konzept der buddhistischen Philosophie. Der Begriff Achtsamkeit kommt vom buddhistischen Word „Sati“ und bedeutet in direkter Übersetzung „Die Absicht des Geistes“ (Glomb, Yang, Bono & Duffy, 2011). Um das Jahr 1870 übersetze der britische Magistrat und Pali-Forscher Thomas William Rhys Davids das Pali-Wort Sati als „Mindfulness“ ins Englische. Mindfulness deckt jedoch nur einen kleinen Teil der Bedeutung des Wortes Sati ab, dass Buddhisten als siebten Zweig des „Edlen Achtfachen Pfades“ verstehen, dem zentralen Element in der buddhistischen Lehre, welches zur Beendigung des Leidens führt. Achtsamkeit ist ein zentrales Element in der buddhistischen Lehr- und Weltanschauung, welches darauf abzielt den Menschen vom Leid zu befreien und den Geist zu öffnen (Rose & Walach, 2009).

Im Allgemeinen wird Achtsamkeit am häufigsten mit dem Buddhismus in Verbindung gebracht, doch auch in der westchristlichen-jüdischen Kultur gibt es eine lange Tradition der Achtsamkeit. Von den Wüstenvätern und -müttern, die im 4. Jahrhundert in der ägyptischen Wüste lebten, stammt das sogenannte „Jesus Gebet“, dass sich im Mittelalter in der Kirche ausbreitete und bis heute im Territorium der orthodoxen Kirche gepflegt wird, um sich selbst und Gott zu finden. Das bewusste Warten und Beten beinhaltet in deren Tradition das Beobachten von Körperhaltung, Atmung und Herzschlag (Altner, 2007).

Die Einführung der Achtsamkeit in die westliche Medizin und Psychologie geht auf das wachsende Interesse am Zen-Buddhismus in Amerika in den 1950er und 1960er Jahren zurück. In den frühen 1969er Jahren interessierten sich Kliniker, insbesondere Psychoanalytiker, für die Verwendung von Meditationstechniken in der Psychotherapie (Segall, 2012; Rubin, 2013). Zu dieser Zeit entstand die humanistische Psychotherapie, darunter auch die Gestalttherapie, in der Achtsamkeit, bekannt als „Awareness“, explizit als zentrale Faktor aufgeführt wurde (Doubrawa & Stämmler, 2003). In den 1960er und 1970er Jahren bestand Interesse an experimenteller Psychologie sowie an der Forschung verschiedener Methoden zur Bewusstseinsbildung, einschließlich der Meditation.

Die Anwendung der Achtsamkeitsmeditation, losgelöst von ihrem spirituellen Kontext, als eine Form der Verhaltensintervention bei klinischen Problemen, begann in den 1970er Jahren mit der Arbeit von Jon Kabat-Zinn in der Behandlung von chronischen Schmerzpatienten, die heute als MBSR bekannt ist. Jon Kabat-Zinns Definition von Achtsamkeit, die heute den meisten westlichen Anpassungen zugrunde liegt, bezieht sich auf einen spezifischen, trainierbaren Bewusstseinszustand, der auf eine wertfreie Wahrnehmung des gegenwärtigen Moments abzielt (Kabat-Zinn, Wheeler, Light, Skillings, Scharf, Cropley et al., 1998). Laut Kabat-Zinn (2003a) ist einer der wichtigsten Gründe für das wachsende Interesse an Achtsamkeit in Forschung und klinischer Anwendung das Aufkommen neuer Dimensionen des therapeutischen Nutzens und neuer Einsichten in die Wechselwirkung zwischen Geist und Körper. Die Überlegungen von Gremer, Siegel und Fulton (2005) weisen ebenfalls darauf hin, dass klassische psychotherapeutische Ansätze, Prinzipien enthalten können, die der Verfahrensweise der Achtsamkeit ähnlich sind. Neben der von Kabat-Zinn entwickelten MBSR-Therapie werden auch andere Therapieformen, wie die MBCT (Segal, Williams & Teasdale, 2002), die „Acceptance and Commitment Therapie“ (Hayes, Luoma, Bond, Masuda & Lillis, 2006) sowie die „Dialektische-Behavoriale Therapie“ (Linehan, 1993a) zur Behandlung von spezifischen affektiven Störungen eingesetzt. In den letzten 20 Jahren erlangen diese Achtsamkeitsinterventionen eine breite internationale Akzeptanz (Heidenreich & Michalka, 2003).

2.1.2 Komponenten der Achtsamkeit

Bereits Ende der 1970er Jahre nutzte der amerikanische Verhaltensmediziner und Psychosomatiker Jon Kabat-Zinn Achtsamkeitsübungen zur Gesundheitsförderung von Patienten und war damit der erste, der Achtsamkeitsübungen in der westlichen Industriegesellschaft einsetzte. Im Rahmen seiner ersten Veröffentlichung mit dem Titel „Full Catastrophe Living“ definierte er Achtsamkeit als eine aus der alten asiatisch­buddhistischen Tradition abgeleitete Mediationsform, die ein wertfreies Bewusstsein für den gegenwärtigen Moment fördert (Kabat-Zinn, 1990). Dies kann sowohl für aktuelle innere Zustände als auch für äußere Wahrnehmungen gelten. Im deutschsprachigen Raum führt der Begriff Achtsamkeit leicht zu Verwirrungen. Aufgrund der etwas unglücklichen Namensgebung wird es dort oft als „Achten auf etwas“ im Sinne von Aufmerksamkeit fokussieren verstanden (Metten, 2020).

Das Beobachten des Atems ist eine wesentliche Vor-Achtsamkeitsübung, bei der es wichtig ist, sich auf die Atmung zu konzentrieren. Diese wird jedoch bei tatsächlicher Achtsamkeit losgelassen und der Geist im Sinne eines offenen Monitorings erweitert (Lutz et al., 2008). Letzteres beinhaltet den Prozess, eventuell aufkommende Gedanken oder Gefühlen weder nachzujagen noch sie zu vertreiben, sondern lediglich den Inhalt gleichgültig aufzunehmen (Sauer, 2009) und sofort loszulassen - letztlich bis zur Gedankenleere (Analayo, 2015). Entscheidend für die Definition von Achtsamkeit ist nicht die einschränkende Fokussierung auf Aspekte des gegenwärtigen Moments. Vielmehr charakterisieren diese die Erweiterung und Offenheit des Geistes sowie das Loslassen von Gedanken und Gefühlen. Es ist erwiesen, dass es in Achtsamkeit einfacher ist, aus vertrauten Denkmustern auszubrechen und so entspannter zu bleiben (Brown & Ryan, 2003; Shapiro et al., 2006).

Kabat-Zinn (2011) vergleicht Achtsamkeit mit einem Muskel, der trainiert werden kann. Dafür entwickelte er ein auf Achtsamkeit basierendes Stressreduktionsprogramm, (MBSR). Im Rahmen dieses Programms finden an sechs Tagen in der Woche 45-minütige Trainingseinheiten mit verschiedenen Achtsamkeitsübungen statt. Neben dem Inspizieren des Körpers, welcher die Achtsamkeit in Bezug auf Körperempfindungen schult, konzentriert sich die Sitzmeditation auf die Beobachtung der Atmung. Abgesehen von diesen statischen Übungseinheiten umfasst das Programm nach Kabat-Zinn (2011) auch einfache Bewegungsübungen wie die Geh- und Stehmeditation. Ebenso sind informelle Meditationspraktiken, die darauf abzielen, bei täglichen Aktivitäten wie beispielsweise des Zähneputzens, Duschens oder Essens ungeteilte Aufmerksamkeit zu erlangen, ein wesentlicher Bestandteil von MBSR. Die ersten Erkenntnisse zur Achtsamkeit von Kabat-Zinn zeigen, dass die Anwendung von MBSR bei Menschen mit chronischen Schmerzsymptomen zu einer Verringerung der Desensibilisierung und emotionalen Reaktionen auf die entsprechenden Schmerzempfindungen führt, obwohl keine tatsächliche Schmerzreduktion beobachtet wird (Kabaz-Zinn, 1982). Ein Jahr später zeigt seine wissenschaftliche Forschung, dass achtsamkeitsbasierte Interventionen eine positive Wirkung auf Angst- und Panikstörungen haben - möglicherweise durch die Verringerung der emotionalen Resonanz (Kabat-Zinn et al., 1992).

Zahlreiche Studien stützen mittlerweile die Hypothese, dass sich achtsamkeitsbasierte Interventionen für eine Vielzahl von Erkrankungen als wirksam und hilfreich erweisen - etwa bei chronischen Schmerzen, Depressionen, generalisierten Angstzuständen, Essstörungen, Sucht oder Krebs. Achtsamkeit soll eine entscheidende Rolle bei der Verbesserung der Stressbewältigung, der körperlichen Belastbarkeit und der Konzentrationsfähigkeit spielen, ebenfalls soll es die Stressempfindlichkeit reduzieren (Shapiro et al., 1998; Segal et al., 2002; Bowen et al., 2011; Janssen et al., 2018). Grossmann et al. (2004) resümieren in ihrer Metaanalyse zu achtsamkeitsbasierten Interventionen, dass es ein erhebliches Potenzial gibt, Menschen zu befähigen, Stress und Alltagsprobleme besser zu bewältigen und ihr geistiges und körperliches Wohlbefinden zu verbessern.

Zu Beginn ging es in der Achtsamkeitsforschung vor allem darum, die Frage zu beantworten, ob achtsamkeitsbasierte Interventionen die psychische und/ oder körperliche Gesundheit fördern. Müller und Ziehen (2012) kommen in ihrer Metaanalyse zu einem zentralen Entschluss, dass die Wirksamkeit achtsamkeitsbasierter Interventionen von der Gesundheit der Teilnehmenden abhängt. Während das Achtsamkeitstraining bei gesunden Probanden zu stärkeren Effekten führt, profitieren Probanden mit Krankheitssymptomen weniger. Daher scheint es, dass achtsamkeitsbasierte Interventionen nicht nur klinische Maßnahmen unterstützen, sondern auch wirksam sein können, insbesondere bei der Prävention von Krankheiten.

2.1.3 Achtsamkeitsdefinition nach Brown & Ryan

Mehrere Autoren (Averill, 1992; Mayer, Chabot & Carlsmith, 1997) haben das Bewusstsein von anderen Formen der mentalen Verarbeitung - nämlich Kognition, Motivation und Emotion - unterschieden, die es Menschen ermöglichen, effektiv zu handeln. Auf diese Weise werden Gedanken, Motivationen und Emotionen sowie Sinnes­und Wahrnehmungsreize bewusst. Das Bewusstsein umfasst sowohl die Achtsamkeit als auch die Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit ist das Hintergrundradar des Bewusstseins, das ständig die innere und äußere Umgebung überwacht. Man kann sich der Reize bewusst sein, ohne dass sie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen. Aufmerksamkeit ist ein fokussierter Bewusstseinsprozess, der die Sensibilität für eine begrenzte Bandbreite von Erfahrungen erhöht (Westen, 1999). Tatsächlich sind Bewusstsein und Aufmerksamkeit miteinander verflochten, sodass die Aufmerksamkeit ständig Figuren vom Boden des Bewusstseins zieht und sie für unterschiedliche Zeiträume fokussiert hält. Während Aufmerksamkeit und Bewusstsein relativ konstante Merkmale des normalen Funktionierens sind, kann Achtsamkeit als ein erhöhter Fokus für aktuelle Erfahrungen angesehen werden. Ein Kernmerkmal von Achtsamkeit wird als offenes oder rezeptives Bewusstsein beschrieben (Deikman, 1982; Martin, 1997), was sich in einem regelmäßigen oder anhaltenden Bewusstsein für laufende Ereignisse und Erfahrungen äußern kann. Wenn man beispielsweise mit einem Freund spricht, kann man die Kommunikation sehr aufmerksam verfolgen und sich des möglicherweise subtilen Tons, der ihr zugrunde liegt, bewusst werden. In ähnlicher Weise kann man sich beim Essen auf ein augenblickliches Geschmackserlebnis einstimmen, während peripher ein zunehmendes Völlegefühl im Magen wahrgenommen wird. Dies steht im Gegensatz zu einem auf verschiedene Weise abgestumpften oder eingeschränkten Bewusstsein. So können beispielsweise Grübeln, Versinken in der Vergangenheit oder Zukunftsphantasien von dem ablenken, was in der Gegenwart vor sich geht. Das Bewusstsein oder die Aufmerksamkeit kann auch geteilt werden, z.B. wenn Menschen mit mehreren Aufgaben beschäftigt sind oder sich mit Dingen befassen, die die Qualität des Engagements beeinflussen, unabhängig davon, worauf ihr Fokus liegt. Die Achtsamkeit kann auch beeinträchtigt werden, wenn sich Menschen zwanghaft oder automatisch verhalten, ohne sich ihres Verhaltens bewusst zu sein oder darauf zu achten (Deci & Ryan, 1980, zitiert nach Brown & Ryan, 2003). Schließlich kann Achtsamkeit defensiv motiviert sein, wenn eine Person sich weigert, einen Gedanken, ein Gefühl, eine Motivation oder ein Wahrnehmungsobjekt anzuerkennen oder darauf zu achten. Diese Bewusstseinsformen bilden somit eine konkrete Antithese zur Präsenz von Achtsamkeit und der damit verbundenen Aufmerksamkeit für aktuelle Erfahrungen innerhalb und außerhalb des Individuums (Brown & Ryan, 2003).

Die introspektive Achtsamkeit unterscheidet sich von anderen Ansätzen dadurch, dass ihre Funktionsweise wahrnehmungsbezogen ist, d.h., dass sie auf die Gedanken, Gefühle und andere Bewusstseinsinhalte einwirkt. Anstatt mentale Berichte über das Selbst zu erstellen, bietet die Achtsamkeit „eine bloße Darstellung dessen, was gerade geschieht“ (Shear & Jevning, 1999). Während sich andere Formen des reflektierenden Bewusstseins auf kognitive Operationen konzentrieren, befasst sich die Achtsamkeit mit der Qualität des Bewusstseins selbst und es wird angenommen, dass es wenig oder gar keine inhärente Beziehung zum reflektierenden Denken hat. Brown und Ryan (2003) betonen eine offene und ungeteilte Beobachtung dessen, was innerlich und äußerlich vor sich geht und nicht eine bestimmte kognitive Herangehensweise an äußeren Reizen.

2.1.4 Zwei Komponenten Modell

Achtsamkeit beginnt damit, die Aufmerksamkeit auf die aktuelle Erfahrung zu lenken - indem der Fokus der Aufmerksamkeit reguliert wird, um den sich verändernden Bereich der Gedanken, Gefühle und Empfindungen zu beobachten und darauf zu achten. Dies führt zu einem Gefühl, sehr wachsam zu sein für das, was hier und jetzt vor sich geht. Es wird oft als ein Gefühl beschrieben, vollkommen präsent zu sein und im Moment zu leben. Um ein Bewusstsein für aktuelle Erfahrungen zu bewahren ist die Fähigkeit einer anhaltenden Aufmerksamkeit, erforderlich. Anhaltende Aufmerksamkeit bezieht sich auf die Fähigkeit, über einen längeren Zeitraum einen Wachheitszustand aufrechtzuerhalten (Parasuraman, 1998; Posner & Rothbart, 1992). Die auf die Atmung gerichtete Aufmerksamkeit hält somit die Aufmerksamkeit in der aktuellen Erfahrung verankert, sodass Gedanken, Gefühle und Empfindungen erkannt werden können, wenn sie im Bewusstseinsstrom auftauchen. Fähigkeiten im Umschalten erlauben es der Person ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Atmung zu lenken, sobald ein Gedanke, ein Gefühl oder eine Empfindung identifiziert wurde. Das Umschalten ist mit der Flexibilität der Aufmerksamkeit verbunden, so dass man den Fokus von einem Objekt auf ein anderes verschieben kann (Jersild, 1927; Posner, 1980).

Die Selbstregulierung der Achtsamkeit fördert auch die nicht- laborative Wahrnehmung von Gedanken, Gefühlen und Empfindungen, sobald sie entstehen. Anstatt in einem nachdenklichen, gut durchdachten Gedankenstrom über die eigenen Erfahrungen und deren Ursprünge, Bedeutungen und Assoziationen gefangen zu sein, beinhaltet Achtsamkeit die direkte Erfahrung von Ereignissen in Geist und Körper (Teasdale, Segal, Williams & Markt, 1995). Achtsamkeit ist keine Praxis der Gedankenunterdrückung. Alle Gedanken oder Ereignisse werden als Beobachtungsobjekt betrachtet, nicht als Ablenkung. Sobald dies jedoch anerkannt wird, kehrt die Aufmerksamkeit zur Atmung zurück und verhindert eine weitere Ausarbeitung. Achtsamkeitspraktiken werden daher mit der Verbesserung der kognitiven Hemmung, insbesondere auf der Ebene der Reizauswahl, in Verbindung gebracht. Dies kann objektiv anhand von Aufgaben gemessen werden, die eine semantische Verarbeitungshemmung erfordern (Williams, Mathews & MacLeod, 1996).

Da die Aufmerksamkeitskapazität begrenzt ist, stehen außerdem mehr Ressourcen für die Verarbeitung von Informationen zur Verfügung, die für die aktuelle Erfahrung relevant sind, wenn sie vom elaborativen Denken befreit werden (Schneider & Shiffrin, 1977). Dies verbessert den Zugang zu Informationen, die andernfalls außerhalb des Bewusstseins bleiben würden, was zu einer breiteren Perspektive der Erfahrung führt. Anstatt Erfahrungen durch die Filter unserer Überzeugungen, Annahmen, Erwartungen und Wünsche zu beobachten, betrachtet die Achtsamkeit verschiedene Objekte direkt, als wäre es das erste Mal - eine Eigenschaft, die oft als Anfängergeist bezeichnet wird. Diese Fähigkeit kann an Aufgaben gemessen werden, bei denen eine erfolgreiche Ausführung davon abhängt, Reize in unerwarteten Umgebungen zu erkennen (Henderson, Weeks & Hollingworth, 1999).

Achtsamkeit wird teilweise als die Selbstregulierung der Aufmerksamkeit definiert, die das Aufrechterhalten der Aufmerksamkeit, das Wechseln der Aufmerksamkeit und das Hemmen elaborativer Verarbeitungen beinhaltet. Achtsamkeit kann in diesem Zusammenhang als metakognitive Fähigkeit angesehen werden (Flavell, 1979). Es wird angenommen, dass Metakognition auf zwei miteinander verbundenen Prozessen besteht - Überwachung und Kontrolle (Nelson, Stuart, Howard & Crowley, 1999; Schraw & Moshman, 1995). Die erste Komponente beinhaltet somit die Selbstregulierung der Aufmerksamkeit, sodass sie bei unmittelbarer Erfahrung aufrechterhalten wird, wodurch eine erhöhte Wahrnehmung mentaler Ereignisse im gegenwärtigen Moment ermöglicht wird (Bishop et al., 2004).

Achtsamkeit wird weiter durch eine Erfahrungsorientierung definiert, die in der Praxis der Achtsamkeitsmeditation empfangen und kultiviert wird. Diese Orientierung beginnt mit der Verpflichtung, eine neugierige Haltung darüber aufrechtzuerhalten, wohin der Geist wandert, wenn er unweigerlich vom Atem abweicht und über die verschiedenen Objekte der eigenen Erfahrung in jedem Moment. Alle Gedanken, Gefühle und Empfindungen, die auftauchen, werden zunächst als relevant und damit als Gegenstand der Beobachtung angesehen. Die Person versucht also nicht, einen bestimmten Zustand zu erreichen, wie z. B. Entspannung herbeizuführen oder seine Stimmung in irgendeiner Weise zu verändern. Vielmehr wird die Person angewiesen, einfach zu versuchen, jeden Gedanken, jedes Gefühl und jede Empfindung, die im Bewusstseinsstrom auftauchen, wahrzunehmen (Bishop et al., 2004). Auf diese Weise wird eine Haltung der Akzeptanz gegenüber jedem Moment der eigenen Erfahrung eingenommen. Akzeptanz wird als Offenheit für die Realität des gegenwärtigen Augenblicks definiert (Roemer & Orsillo, 2002). Dazu gehört die bewusste Entscheidung, die eigenen Pläne für eine andere Erfahrung loszulassen, sowie der positive Prozess des Zulassens der eigenen aktuellen Gedanken, Gefühle und Empfindungen (Hayes, Strosahl & Wilson, 1999). Es ist ein aktiver Prozess, bei dem die Person sich dafür entscheidet, das, was ihr angeboten wird, mit einer Haltung der Offenheit und Empfänglichkeit für alles, was im Bewusstseinsfeld auftaucht, anzunehmen. Achtsamkeit kann also als ein Prozess des offenen Umgangs mit Erfahrungen begriffen werden (Bishop et al., 2004).

Sich mit Neugier und Akzeptanz dem eigenen Erleben zu nähern, unabhängig von Wertigkeit oder Erwünschtheit, schafft die Voraussetzungen für eine intensive Selbstbeobachtung. Achtsamkeit kann somit als ein Prozess des forschenden Gewahrseins konzeptualisiert werden, der die Beobachtung des sich ständig verändernden Flusses privater Erfahrungen beinhaltet. Der Begriff Untersuchung bezieht sich auf eine bewusste Anstrengung, die Natur von Gedanken und Gefühlen zu beobachten und besser zu verstehen. Die Person wird angewiesen, sich zu bemühen, jedes Objekt im Bewusstseinsstrom z. B. ein Gefühl wahrzunehmen, zwischen verschiedenen Elementen der Erfahrung - einer emotionalen Gefühlsempfindung von einer körperlichen Berührungsempfindung zu unterscheiden. Zudem wird beobachtet, wie eine Erfahrung eine andere hervorruft - ein Gefühl, das einen wertenden Gedanken hervorruft und dann der wertende Gedanke, der die Unannehmlichkeit des Gefühls verstärkt (Bishop et al., 2004).

Die zweite Komponente des Modells ist eine besondere Orientierung an den eigenen Erfahrungen im gegenwärtigen Moment, die durch Neugier, Offenheit und Akzeptanz gekennzeichnet ist. Achtsamkeit ist ein Prozess , in dem man Einsicht in die Natur des eigenen Geistes gewinnt und eine dezentrierte Perspektive (Safran & Segal, 1990) auf Gedanken und Gefühle einnimmt, sodass sie in ihrer Subjektivität und Vergänglichkeit erlebt werden können (Bishop et al., 2004).

2.2 Wohlbefinden

Die moderne empirische Psychologie untersucht primär das Konstrukt „Wohlbefinden“ bzw. well-being und nicht „das Glück“, welches dem Bereich der Philosophie zugeordnet wird (Eid, 2014). Norman Bradburn (1969) war einer der ersten Forscher, der sich in seinem Buch „The structure of psychological well-being“ sowohl wissenschaftlich als auch psychologisch mit dem Thema befasste. Sein ursprüngliches Forschungsinteresse gilt der Frage, wie sich große gesellschaftliche Veränderungen, wie beispielweise das Bildungsniveau, die Erwerbstätigkeit oder die politische Situation, auf die Lebenssituation des Einzelnen und sein psychologisches Wohlbefinden auswirken (Ryff, 1989). Zu dieser Zeit basiert die meiste Forschung zum Wohlbefinden auf Umfragen. Dies ändert sich erst in den 1980er Jahren mit der Arbeit von Ed Diener, der versucht, das Konstrukt well-being zu definieren und systematisch zu messen (Larsen & Eid, 2008). Sein Artikel „Subjective Well-Being“ (Diener, 1984) gilt als Meilenstein auf dem Gebiet der Forschung zum Wohlbefinden. „Subjective well-being is a broad category of phenomena that includes peoples's emotional responses, domain satisfaction and global judgements of life satisfaction” (Diener et al., 1999).

Im Rahmen dieser Untersuchung wird Wohlbefinden nach Seligman (2021) als Flourishing erfasst. Flourishing bedeutet wörtlich übersetzt „Aufblühen“ und es beschreibt den biologischen Wachstumsprozess. Aus psychologischer Sicht ist das Aufblühen durch eine erfolgreiche psychische Entwicklung im Sinne der Selbstverwirklichung gekennzeichnet. Als eines der Kernkonzepte der positiven Psychologie umfasst Flourishing das subjektive Wohlbefinden, persönliches Wachstum und psychische Leistungsfähigkeit, was in der Umgangssprache als „Glück“ bezeichnet wird. Eines der Hauptziele der positiven Psychologie ist es, Flourishing zu erhöhen (Seligman, 2021).

2.2.1 Hedonisches & eudaimonisches Wohlbefinden

Brandburn (1969) übersetzt die Aussage von Aristoteles aus der Nikomachischen Ethik mit „das höchste Gut menschlichen Handelns sei eudaimonia“ (Ryff, 1989). Happiness wird somit zum Forschungsgegenstand erklärt. Allerdings ist Bradburns Übersetzung des griechischen Begriffs „eudaimonia“ als „happiness“ nicht ganz korrekt, da „eudaimonia“ weniger „Glück“ im Sinne von „happiness“ bedeutet, sondern vielmehr „Glückseligkeit“ in Bezug auf ein göttliches Geschenk. Für Aristoteles ist die zentrale Frage der menschlichen Existenz, was ein gutes Leben ausmacht. Menschen, die ein gutes Leben führen, haben „eudaimonia“ erlangt. Dies kann jedoch nur von außen beurteilt werden, nicht von den Akteuren selbst und immer nur im Rückblick auf ihr gesamtes Leben. Für Aristoteles sind Tugenden durch die goldene Mitte gekennzeichnet, in der das eigene Handeln weder von Überschuss noch von Mangel bestimmt werden soll (Aristoteles, 2007). Norton (1976) definiert „Eudaimonismus“ daher wenige Jahre nach Bradburns Erstveröffentlichung als ein sinnvolles Leben, das durch Selbsterkenntnis und Eigenverantwortung sowie das Streben nach persönlicher Exzellenz gekennzeichnet ist. Diesem Verständnis von eudaimonia steht das hedonistische Verständnis von „happiness“ als „pleasure“ gegenüber, das auf Bradburns ungenau Übersetzung zurückgeführt werden kann.

Wohlbefinden wird derzeit in hedonic und eudaimonic well-being unterteilt (Ryan & Deci, 2001; Seligman & Csikszhentmihalyi, 2000). Hedonisches Wohlbefinden bzw. Glück wird durch hohe positive Affekte und niedrige negative Affekte charakterisiert. Ein weiterer Aspekt dieses „Wohlfühlglücks“ (Blickhan, 2015) ist der Grad der persönlichen Lebenszufriedenheit. Hedonisches Wohlbefinden entspricht in diesem Verständnis dem subjektiven Wohlbefinden nach Diner et al. (1999). Eudaimonisches Wohlbefinden bzw. Glück hingegen stellt den Sinn des eigenen Handelns in den Mittelpunkt und wird von Blickhan (2015) als „Werteglück“ bezeichnet. Es basiert auf der Konzeptualisierung von Waterman (1993), die sich wiederum auf dem Glücksbegriff von Aristoteles orientiert. Die Forschung in diesem Bereich konzentriert sich auf „die Bedingungen eines gelingenden Lebens und auf menschliche Stärken“ (Eid, 2014), die Hauptvertreterin ist Carol Ryff (1989). Damit steht sie in der aristotelischen Tradition der Eudaimonia und versteht, wie oben erwähnt, die Entwicklung und Selbstverwirklichung des Individuums als zentrale Faktoren seines Wohlbefindens.

Forscher aus dem subjektiven, hedonischen und eudaimonischen Bereich präsentieren oft widersprüchliche Argumente in Diskussionen über ein besseres Verständnis des Konzepts des menschlichen Glücks. Ryan und Deci (2001) fassen diese Debatte zwischen den beiden Parteien zusammen. Die Vertreter von „Psychological Well-Being“ (PWB), Ryff und Singer (2008), kritisieren das „Subjective Well-Being“ (SWB) als ein zu eingeschränktes Modell menschlichen Wohlbefindens, wodurch dieses nur bedingt aussagekräftig ist, wenn es um positive Leistungen geht. SWB-Vertreter Diener et al. entgegnen, dass Experten bei PWB Kriterien verwenden, um zu definieren, was Wohlbefinden ist, während Menschen den SWB-Ansatz verwenden können, um zu sagen, was ihr Leben gut macht. Ob beide Konzepte wirklich eigenständige Dimensionen menschlichen Wohlbefindens darstellen, wird heute kritisch diskutiert (Kashdan, Biswas- Diener & King, 2008). Die interindividuellen Unterschiede im hedonischen und eudaimonischen Wohlbefinden sind nicht unabhängig, sondern eng miteinander verbunden (Eid, 2014).

2.2.2 Mental Health Theory

Im Jahr 2002 verwendet Corey Keyes als erster Vertreter der zeitgenössischen Psychologie den Begriff Flourishing. Eine zentrale Aussage von ihm lautet, dass die Abwesenheit von psychischen Erkrankungen nicht psychische Gesundheit bedeutet (Keyes, 2002). Die Methode von Keyes wird aus dem „Diagnostischen und statistischen Manual psychischer Störungen“ (DSM) abgeleitet. So wie bestimmte Kriterien erfüllt sein müssen, um eine psychische Störung zu diagnostizieren, erfordert Flourishing das Vorhandensein von „hedonic symptoms and positive functioning“ (Hone et al., 2014). Der Begriff functioning lässt sich am besten mit Leistungsfähigkeit ins Deutsche übersetzen. Er lässt sich auf Rogers (1961) Konzept der „fully function person“ zurückführen.

Die Weltgesundheitsorganisation definiert psychische Gesundheit (mental health) als einen Zustand des Wohlbefindens, in dem eine Person in der Lage ist, ihre Stärken zu nutzen, mit den normalen Belastungen des Lebens fertig zu werden, produktiv zu arbeiten und einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten (Hermann, Saxena & Moodie, 2005). Keyes erweitert in seinem Ansatz explizit das Verständnis positiver psychologischer Leistung von einer individuumszentrierten auf die zwischenmenschliche, soziale Sphäre. Er baut auf Ed Dieners Arbeit zum emotionalen Befinden auf, beginnend mit seinem bahnbrechenden Artikel „Subjective Well-Being“ (Diener, 1984). Darüber hinaus verwendet Keys - Carol Ryffs Unterscheidung zwischen hedonischem (emotionalem) und eudaimonischem (psychologischem) Wohlbefinden in seinem Ansatz und ergänzt es mit seinem Konzept des sozialen Wohlbefindens. Subjektives Wohlbefinden besteht nach Keyes (2002) aus zwei Symptomclustern, die er als emotionales Wohlbefinden (emotional well-being) und funktionales Wohlbefinden (positve function) bezeichnet.

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Ende der Leseprobe aus 113 Seiten

Details

Titel
Achtsamkeit versus Selbstkontrollanforderungen im Studium
Untertitel
Eine empirische Untersuchung zu protektiven Ressourcen im Stressprozess von Studierenden
Hochschule
FOM Hochschule für Oekonomie & Management gemeinnützige GmbH, Dortmund früher Fachhochschule
Note
1,7
Jahr
2022
Seiten
113
Katalognummer
V1328242
ISBN (Buch)
9783346818324
Sprache
Deutsch
Schlagworte
achtsamkeit, selbstkontrollanforderungen, studium, eine, untersuchung, ressourcen, stressprozess, studierenden
Arbeit zitieren
Anonym, 2022, Achtsamkeit versus Selbstkontrollanforderungen im Studium, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1328242

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