Leseprobe
Gliederung
1. Einführung
1.1 Die Viktorianische Zeit
1.2 Prof. Hans G. Kippenberg – eine Kurzbiografie
2. Wege zurück zu den Anfängen von Religion
2.1 Degenerationsthese und Fetischismus
2.2 Edward Burnett Tylor – survivals und Animismus
2.3 William Robertson Smith – archaische Riten in semitischen Stämmen
2.4 Wilhelm Mannhardt – der Vegetationskult des Korndämons
2.5 James George Frazer – „The Golden Bough“
Abbildung 1 (Zeitstrahl)
3. Erläuterungen zu einem religionswissenschaftlichen Zeitstrahl (1832-1918)
Anlagen: Quellen und im Referat verwendetes Bildmaterial
1. Einführung
1.1 Die Viktorianische Zeit
In einer Unterhausrede im Jahre 1901 sprach der Politiker Lord Balfour von einer großen Epoche. Er meinte damit die 64 jährige Herrschaft von Königin Viktoria in der Zeit von 1837 bis 1901. Dieser Zeitraum wird gerne als Epoche betrachtet. Oft wird er mit Begrifflichkeiten wie Bürgertum, Selbstgefälligkeit, Profitstreben, Materialismus und Prüderie in Zusammenhang gebracht. Allerdings gab es in dieser Zeit weitaus mehr Spannungen, Gegensätze und Konflikte als deutliche Gemeinsamkeiten, die dem Viktorianismus einen epochalen Charakter geben würden. In politischer und wirtschaftlicher Hinsicht war eine Vorherrschaft des hohen Bürgertums erkennbar. Diese Vorherrschaft wurde allerdings durch immer stärker werdende Forderungen wie z.B. die nach allgemeinen, freien und geheimen Wahlen, aber auch durch mächtig werdende Gewerkschaftsbewegungen bedroht. In religiöser Hinsicht war die Viktorianische Zeit durch eine wachsende Erstarrung der anglikanischen Kirche und dem Ziel einer religiösen Erneuerung geprägt. Diese ganze Zeit wurde eher durch Konflikt als durch Konsens bestimmt. Es vollzogen sich große soziokulturelle Veränderungen. Außenpolitisch gesehen erlebte England großen Machtzuwachs, insbesondere durch koloniale Expansion und die Ausrufung Königin Viktorias zur Kaiserin von Indien im Jahre 1876. In die Zeit des Viktorianismus gehört auch die Industrialisierung mit einer Phase von zahlreichen Erfindungen, wie die Dampfmaschine, die Eisenbahn, der Elektromotor, der Telegraph und das Telefon. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts war allerdings durch starke soziale Missstände und Verelendung der Industriearbeiter gekennzeichnet. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zu sozialen Reformen wie der „Zehnstundentag“ oder die Abschaffung der Kinderarbeit, sowie die Einführung der allgemeinen Schulpflicht im Jahre 1876.
Trotz aller Konflikte und Wandlungen ist festzustellen, dass es keine Revolutionen oder radikale politische Veränderungen dieser Zeit waren, die das Denken und Handeln in England umgestalteten.
1.2 Prof. Hans G. Kippenberg – eine Kurzbiografie
1939 in Bremen geboren, studierte Professor Kippenberg, der Autor des Quellentextes für dieses Referat, Theologie, Religionsgeschichte, sowie semitische und iranische Sprachen an den Universitäten Marburg (1959/69), Tübingen (1960/62), Göttingen (1962/63), Leeds (Großbritannien, 1966) und Berlin (1969-1976). 1969 promovierte er im Fach Allgemeine Religionsgeschichte an der Theologischen Fakultät Göttingen. An der Freien Universität Berlin habilitierte er 1975 und erlangte die „venia legendi“ für Allgemeine Religionsgeschichte im Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften. Seit 1998 hat er eine halbe Stelle als Fellow am Max Weber – Kolleg Erfurt und ist Professor an Universitäten weltweit. In seiner wissenschaftlichen Tätigkeit legte er die Schwerpunkte insbesondere auf antike pagane Religionen, Judentum, Christentum, Islam (Schia), Religionssoziologie und die Geschichte der Religionswissenschaft.
2. Wege zurück zu den Anfängen von Religion
2.1 Degenerationsthese und Fetischismus
Nicht nur die Mehrheit des einfachen Bürgertums, sondern auch viele gebildete Menschen waren in der Viktorianischen Zeit der Auffassung, dass eine Beschäftigung mit Religionen von Stammesgesellschaften völlig sinnlos ist. Sie meinten, dass diese Stammesgesellschaften nur späte Produkte einer Degeneration sind und untergegangene Hochkulturen repräsentieren. Diese Ansicht kam insbesondere durch die Erfahrungen und Erlebnisse von Kaufleuten und Seeleuten zustande, die mit Verachtung die geschnitzten Kultbilder und magischen Rituale der Bewohner Afrikas und anderer fremder Kulturen betrachteten. Man sprach von „feiticio“, woraus später im Jahre 1769 von de Brosses der Fetischismus als Religionsform und Anfang aller Religionsentwicklung abgeleitet wurde. Die Religionen der Naturvölker seien lediglich ein Verfallsprodukt, argumentierte man. Schaute man sich die Nomaden zwischen den Ruinen altpersischer Reiche oder die Bauern neben den Pyramiden Ägyptens an, so sah man darin einen Beweis dafür, dass die Stammeskulturen nur Überreste untergegangener Hochkulturen waren.
2.2 Edward Burnett Tylor – “survivals” und Animismus
1832 wurde Tylor als Sohn einer Quäkerfamilie in London geboren, machte nach seinem 16. Lebensjahr eine Lehre in der Messinggießerei seines Vaters und arbeitete dort, bis er an Tuberkulose erkrankte. Daraufhin wurde er 1856 auf eine Erholungsreise in die Karibik geschickt, wo er in Havanna den Archäologen Henry Christy kennen lernte. Diesen begleitete er nach Mexiko zum Studium der toltekischen Kultur. Seine Mexikoreise sollte für ihn zum zündenden Funken werden und weckte sein Interesse an Anthropologie.
1861 publizierte Tylor die Erkenntnisse und Studien seiner Mexikoreise in seinem ersten wissenschaftlichen Buch „Anahuac, or Mexico and the Mexicans, ancient and modern“. Als Tylor begann sich mit den Religionen von Stammesgesellschaften zu beschäftigen, gab es schon eine große Debatte über die Degenerationsthese. John Lubbock, ebenfalls Anthropologe, sprach sich 1867 gegen die Degenerationsthese aus. In seinem Buch „Primitive Culture“ schloss sich Tylor den Aussagen Lubbocks an. Er meinte die Argumente für die Degenerationsthese seien eher theologisch als ethnologisch begründet. Für ihn bildeten die Stammesgesellschaften den Anfangszustand der menschlichen Geschichte. Zum Nachweis seiner Theorie wandte sich Tylor simultan der Kultur primitiver Stammesgesellschaften und dem Aberglauben in modernen Gesellschaften zu. Er nahm progressive Stufen sozialer Organisation an: aus den Wilden (den Jägern und Sammlern) entwickelten sich die Barbaren (Viehzüchter und Ackerbauer) und daraus wiederum die Zivilisierten. Nimmt man an, dass die heutige zivilisierte Gesellschaft auf höchster Stufe steht, kann man sagen, dass außereuropäische Gesellschaften auf einer früheren Stufe dieser sozialen Entwicklung stehen. Tylor konzentrierte sich auf die Untersuchung von „Überbleibseln“ früherer Stufen, um nachzuweisen, dass zivilisierte Völker früher Barbaren waren. Diese „Überbleibsel“ bezeichnete Tylor als „survivals“. Kippenberg sagt: „Survivals sind die Kilometersteine, die alle Gesellschaften auf dem Weg zur Zivilisation passiert haben, auch die unsere.“ (Kippenberg, 1997: 87) Für Tylor war Fortschritt nicht gesetzmäßig. Er meinte es würde meistens zu Fortschritt kommen, aber nicht in allen Fällen. Somit war die Degenerationsthese nicht ganz aus der Welt der Anthropologie vertrieben.
In der Bevölkerung gab es zu dieser Zeit jedoch noch keinerlei Verständnis über ethnologische Zusammenhänge. Für Tylor waren sehr genaue Beweisführungen und Untersuchungen notwendig, um seine Erkenntnisse glaubhaft machen zu können. So rekonstruierte er die Kultur früherer Gesellschaften auf der Basis vieler Berichte, die zuvor von der bürgerlichen Oberschicht ignoriert wurden. Unter anderem war diese Ignoranz für Tylor ein Zeichen dafür, dass die Zivilisation einen bornierten Typ bürgerlicher Kultur geschaffen hatte. Die Menschen hatten nichts anderes im Kopf als Geld, Stellung und Wohlstand (vgl. Kippenberg, 1997: 91).
Die primitiven Gesellschaften hingegen sprachen toten Gegenständen eine Form von Leben zu und setzten die Konzeption von Seele voraus. Dieses Seelenkonzept ging von dem Atem als Lebenselixier und den Erscheinungen von Menschen im Traum aus. So entstand die Theorie einer Beseelung, durch die Bestattungsrituale und Opfer für unsere vermeintlich zivilisierte Welt verständlich werden konnten. An die Stelle des Fetischismus trat für Tylor somit Animismus, als ein von ihm gewählter Terminus für den Glauben an die Beseeltheit der Natur und die Existenz von Geistern (vgl. Schlatter, 1999: 61). Der Animismus wurde von Tylor oft als Religion, rohe Philosophie und wilde Theorie beschrieben. Das belebende Prinzip der Seele im Menschen übertrug er selbst auf Tiere und Gegenstände, wodurch die Vorstellung von Geistern und Göttern entstand. Und daraus, so meinte Tylor, entwickelte sich letztlich die Gottesvorstellung. Tylor sah das Seelenkonzept als universelles Grundkonzept menschlichen Erkennens. Diese Erkenntnis sprach ganz eindeutig gegen den Materialismus seiner Zeit, der behauptete der Mensch stehe, wie alles andere, unter der Herrschaft natürlicher Gesetze.
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