Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Howard Shores Musik zu The Lord of the Rings
2.1 Kurzportrait: Howard Shore
2.2 Tolkiens Roman und seine Verfilmung
2.3 Die Konzeption der Filmmusik
3. Die Leitmotivtechnik: Richard Wagner bis Howard Shore
3.1 Die Leitmotivtechnik Richard Wagners
3.2 Die Leitmotivtechnik in der frühen Filmmusikkomposition
3.3 Die Leitmotivtechnik Howard Shores
4. Das Leitthema der Gefährten und dessen musikalische Antagonisten
4.1 Das Fellowship -Leitthema
4.2 Leitthemen und -motive Isengarts sowie Mordors
4.2.1 Das Five-beat Pattern
4.2.2 The Threat of Mordor
5. Die Einführung und Entwicklung des Fellowship -Themas
5.1 Three is Company: Frodo und Sam als Kern der Gemeinschaft
5.2 The Nazgul: Die Gemeinschaft wächst
5.3 The Council of Elrond: Die Gemeinschaft ist vollzählig
6. Szenenanalysen musikalischer Konflikte zwischen den Gefährten und den Mächten Isengarts sowie Mordors
6.1 Saruman the White
6.2 The Bridge of Khazad-dum
6.3 Farewell to Lorien:
6.4 The Great River
6.5 Parth Galen
7. Einflüsse Richard Wagners auf die Filmmusik von Howard Shore
7.1 Wagners Prinzipien in der Konzeption der Filmmusik
7.2 The Lord of the Rings - Eine Opernkomposition?
7.3 Der Umgang mit der Leitmotivtechnik: Howard Shore und Richard Wagner im Vergleich
8. Schlusswort
9. Quellenverzeichnis
1. Einleitung
Der im fiktiven Mittelerde spielende Roman The Lord of the Rings von J.R.R. Tolkien begeistert seit seiner Publikation in den 1950er Jahren Fantasy Fans weltweit. Der große Erfolg der Romanverfilmung lässt sich allerdings nicht ausschließlich auf die literarische Vorlage Tolkiens zurückführen. Die Filmmusik von Howard Shore leistete hierzu einen bedeutsamen Beitrag. In Umfragen nimmt diese regelmäßig den ersten Platz der beliebtesten Filmmusiken aller Zeiten ein.1
Diese Arbeit widmet sich Shores Nutzung der Leitmotivtechnik zur musikalischen Untermalung der Filmhandlung. Hierzu werden Szenen aus The Fellowship of the Ring, dem ersten Teil der Trilogie, untersucht und ein besonderer Schwerpunkt auf das musikalische Thema der Gefährten gesetzt. Konkret werden die Konflikte der Gefährten mit ihren Widersachern im Hinblick auf deren musikalische Umsetzung analysiert und es wird erörtert, inwiefern diese Konflikte am Leitthema der Gefährten sichtbar werden. Hierbei nimmt vor allem die Leitmotivtechnik eine zentrale Rolle ein und es wird untersucht, inwiefern Einflüsse Richard Wagners zu verorten sind.
Im ersten Abschnitt wird zunächst auf den Komponisten Howard Shore und seine berufliche Laufbahn eingegangen. Anschließend geht es um den Prozess der Verfilmung von Tolkiens Roman und die Konzeption der Filmmusik, bei der musikalische Themen eine große Rolle spielen. Diese werden in Kapitel 3 aufgegriffen und mit dem problematischen Begriff des „Leitmotives“ konfrontiert. Daraufhin wird der ebenso wenig problematische Begriff der „Leitmotivtechnik“ vorgestellt und eine kurze historische Entwicklung anhand von Beispielen Richard Wagners, der Filmmusikkomposition des frühen 20. Jahrhunderts und Howard Shore dargestellt. Darüber hinaus werden die verschiedenen Entwicklungsstufen zueinander in Beziehung gesetzt, da viele Filmmusikkomponisten Gebrauch von der Leitmotivtechnik machten. Gerade der Abschnitt über Richard Wagner ist entscheidend, da hier Kriterien seiner Kompositionsweise mit der Leitmotivtechnik vorgestellt werden, welche am Ende der Arbeit mit Shores Konzeption der Filmmusik und seinem eigenen Gebrauch der Technik verglichen werden.
Im vierten Kapitel wird anfangs das Leitthema der Gefährten vorgestellt, welches im Verlauf des Films Gegenstand zahlreicher leitmotivischer Veränderungen ist. Es wird auf verschiedene musikalische Parameter, wie zum Beispiel Harmonik, Melodik, Rhythmik oder Periodik untersucht. Darüber hinaus finden Leitmotive oder -themen Isengarts und Mordors Erwähnung, welche die Rolle der musikalischen Antagonisten zum Thema der Gefährten einnehmen. Darauf folgt in Kapitel 5 die Einführung und Entwicklung des Themas der Gefährten im Film. Hier wird anhand von drei Szenen der Prozess erläutert, in dessen Verlauf sowohl in der Musik als auch im Film die Gefährten zu ihrer vollständigen Besetzung gelangen. Mit dem nächsten Kapitel ist der Hauptteil der Arbeit erreicht, in dem anhand verschiedener Szenen die Konflikte der Gefährten mit ihren Feinden untersucht werden. In all den zu untersuchenden Szenen ist das Thema der Gefährten stets von hoher Wichtigkeit. Es wird auf verschiedene Weisen verändert, so dass es den dramatischen Kontext der jeweiligen Szene in sich aufnehmen kann. In diesem Zusammenhang kann auch das Wechselspiel mit anderen Leitmotiven sowie - themen oder das Verhältnis von Musik und Bild entscheidend sein.
Im abschließenden Kapitel der Arbeit soll beleuchtet werden, inwiefern die musikalische Umsetzung der Filmmusik Shores von Richard Wagner beeinflusst ist. Dazu ist zunächst die Konzeption der Filmmusik von Interesse, da diese, gerade hinsichtlich der Leitmotivtechnik, Ideale Wagners in sich aufnimmt. Darauf folgt ein kurzer Vergleich zwischen Opernkomposition und Filmmusikkomposition, der zeigen soll, dass sich The Lord of the Rings in mancher Hinsicht von anderen Filmmusiken unterscheidet und somit das Potenzial aufweist, einige Voraussetzungen Richard Wagners Leitmotiv-Kompositionstechnik umzusetzen. Diese Voraussetzungen werden unter Berücksichtigung der Ergebnisse des Analyse-Abschnittes diskutiert. Im letzten Teil soll gezeigt werden, dass Howard Shore Techniken in seine Filmmusik integriert, die bereits Richard Wagner nutzte. Hierbei wird anschließend diskutiert, inwiefern der Einsatz gleicher oder ähnlicher Techniken wirklich auf den Einfluss Richard Wagners zurückzuführen ist.
Die Forschungsliteratur zu der in dieser Arbeit behandelten Fragestellung ist begrenzt. Es gibt viel Literatur zur Leitmotivtechnik, vor allem in Verbindung mit Richard Wagner oder im filmmusikalischen Kontext. Wagners Werke und seine Kompositionstechniken sind ebenfalls sehr gut dokumentiert. Weniger Literatur gibt es jedoch zu Wagners möglichen Einflüssen auf die Filmmusik von The Lord of the Rings, welche in der Forschungsliteratur ohnehin nicht sehr umfangreich beschrieben wurde. Doug Adams ist der einzige Autor, der sich ausschließlich mit der Filmmusik der Trilogie beschäftigt. Dieser geht hierbei äußerst detailliert auf die verschiedenen musikalischen Themen ein, darunter auch das Thema der Gefährten. Die Leitmotivtechnik und deren Anwendung hingegen finden bei ihm keine allzu ausführliche Erwähnung. Dabei ist besonders hervorzuheben, dass er, wenn auch in einem begrenzten Maße, Shores Konzeption der Filmmusik mit Wagnerschen Methoden vergleicht. Monika Retter und Matthew Bribitzer-Stull nehmen einen ähnlichen Vergleich vor, wobei Retter sich ausschließlich auf die Musik von The Lord of the Rings und die verschiedenen Einflüsse Wagners beschränkt. Bribitzer-Stulls Fokus liegt hingegen mehr auf der Beeinflussung des Gebrauchs der Leitmotivtechnik verschiedener Filmmusikkomponisten durch Richard Wagner. Es fand sich keinerlei Literatur dazu, wie in The Lord of the Rings mithilfe der Leitmotivtechnik auf der Ebene der Musik Konflikte erzeugt werden. Hierbei wurden in erster Linie durch Höranalysen Kenntnisse gewonnen, welche durch Beiträge unterschiedlicher Autoren ergänzt wurden. Diese Arbeit trägt somit zum Forschungsstand bei, da sie die zuvor beschriebenen, in der Literatur voneinander separat betrachteten Aspekte zusammenführt und eine neue Perspektive hinsichtlich der Veränderung des Gefährten-Themas und der damit einhergehenden Konflikterzeugung eröffnet.
2. Howard Shores Musik zu The Lord of the Rings
2.1 Kurzportrait: Howard Shore
Howard Leslie Shore, geboren am 18. Oktober 1946 in Toronto, ist ein kanadischer Komponist, Orchestrierer und Dirigent.2 Er begann im Alter von acht Jahren mit dem Musizieren und spielte bereits ab seinem 13. Lebensjahr in verschiedenen Bands.3 Da ihm früh klar wurde, dass er eine musikalische Laufbahn einschlagen will, begann er ein Studium am Berklee College of Music in Boston.4 Im Laufe seiner Karriere ging Shore verschiedenen Tätigkeiten nach. In den Jahren 1969-72 war er Alt-Saxophonist, Songwriter und Arrangeur der kanadischen Jazz-Rock Band Lighthouse.5 Er arbeitete während dieser Zeit außerdem als musikalischer Direktor der kanadischen Fernsehshow The Hart and Lorne Terrific Hour und später für Saturday Night Live.6
Seine erste Filmmusik schrieb Shore zu dem kanadischen Horrorfilm I Miss You, Hugs and Kisses aus dem Jahre 1978. In den folgenden Jahren komponierte er Musik für Psycho-Thriller des kanadischen Filmproduzenten David Cronenberg, mit dem sich eine langjährige Zusammenarbeit entwickelte.7 Darunter Filme wie The Brood (1979), The Fly (1986) oder Dead Ringers (1988).8 Die Filmmusik zu Martin Scorseses Komödie After Hours aus dem Jahre 1985 stellte eine seiner ersten Arbeiten für den amerikanischen und internationalen Film dar. Darüber hinaus schrieb er die Musik für Filme wie Gangs of New York (2002), The Aviator (2004) oder The Departed (2006) des selben Direktors.9 Seine größten Erfolge verzeichnet Howard Shore jedoch mit seiner Musik zu der The Lord of the Rings Trilogie. Neben zahlreichen Auszeichnungen wurden die Partituren zu The Fellowship of the Ring und The Return of the King mit Oskars prämiert. Shores Musik erfreute sich einer so hohen Beliebtheit, dass sie in Form der 2004 fertiggestellten The Lord of the Rings Symphony international auf die Bühne gebracht wurde.10
2.2 Tolkiens Roman und seine Verfilmung
Weder die Filmtrilogie noch die dazugehörige Filmmusik wären ohne die Romanvorlage John Ronald Reuel Tolkiens, welche in drei Bänden zwischen den Jahren 1954 und 1955 publiziert wurde, möglich gewesen.11 The Lord of the Ring war ursprünglich als ein einziger, eigenständiger Roman konzipiert, der zusammen mit dem Silmarillion eine Duologie bilden sollte.12 Finanzielle Bedenken der Verleger führten jedoch zu einer Dreiteilung des Romans.13 Diese bewahrheiteten sich allerdings nicht: Die Bücher verkauften sich gut und wurden später im Zusammenspiel mit dem großen Erfolg der Verfilmungen weltbekannt.14 In Umfragen der BBC (2003) und des ZDF (2004) wählten die Befragten den The Lord of the Rings -Roman auf Platz eins auf einer Liste von insgesamt 200 Romanen.15
In den späten 1990er Jahren begann Regisseur und Drehbuchautor Peter Jackson mit den Co-Autoren Fran Walsh und Philippa Boyens, Tolkiens Roman in drei Drehbüchern umzusetzen.16 Hier beginnt ein kreativer Prozess, in dessen Verlauf große finanzielle Mittel eingesetzt und großer Aufwand betrieben wurde, um Tolkiens Werk zu verfilmen. Es wurden Filmsets gebaut, Kostüme genäht, Tolkien- Sprachwissenschaftler beschäftigt, tausende Masken entworfen und sogar Kettenhemden für ein ganzes Jahr handgebunden.17 Ein Aufwand, welcher mit dem sichergestellt werden sollte, dass man der Buchvorlage gerecht wird. Die Drehbuchautoren realisierten früh, dass die musikalische Umsetzung dieses Projektes sehr herausfordernd sein würde:
„The films required nearly ten hours of musical accompaniment to be composed over an intensive four-year period. Tolkien languages, songs, and poetry had to be reinserted into the films. He [the composer] would need to invent a rich musical history that was every bit as varied and detailed as Middle-earth's own.“18
Im Jahr 1999 wurden Schlüsselszenen aus allen drei Filmen als animierte Sequenzen von Bildern dargestellt und mit provisorischer Musik unterlegt, die von anderen Filmmusiken entliehen wurde. Damit sollte der dramaturgische Gehalt der Szenen erhöht werden.19 Fran Walsh unterlegt die Szenen mit Musik von Howard Shore aus Filmen wie The Fly, The Client, The Silence of the Lambs, Before and after, Seven und Crash.20 Die Entscheidung, welcher Komponist die Musik komponieren sollte, fiel schnell:
„It wasn't until we sat back and listened to the temp score that it struck us: what we had been reaching for all along was Howard Shore. [.] he was our first and only choice to compose the score to The Lord of the Rings.“21
Howard Shore wurde an den Drehort nach Neuseeland eingeladen. Er war sehr bewegt von der Leidenschaft und Hingabe des Teams und akzeptierte sofort das Angebot, die Filmmusik zu komponieren.22
2.3 Die Konzeption der Filmmusik
,The Lord of the Rings is the most complex fantasy world ever created, so I'm holding a mirror up to it, musically, and attempting to create something that's in the image of it‘.23 Mit diesem Zitat Shores lässt sich die Konzeption seiner Filmmusik treffend zusammenfassen. Er ist davon überzeugt, dass ihm als Komponist bei Buchverfilmungen die Aufgabe zukommt, ein musikalisches Abbild des Originals zu schaffen. Aus diesem Grund beginnt Shore sofort mit dem Studium der verschiedenen Bücher, von denen er bald jeweils mehrere Kopien besitzt, um diese mit Notizen oder Illustrationen zu versehen.24 Außerdem widmet er zu Beginn viel Zeit der Recherche von Ring-Mythologien in der westlichen Tradition, um mehr über deren Bedeutung zu erfahren.25
Ein musikalisches Abbild der Worte Tolkiens zu erschaffen, erfordert eine breitgefächerte Palette musikalischer Ausdrucksmittel. Es müssen die unterschiedlichen Völker und Orte Mittelerdes sowie zentrale Themen wie Freundschaft oder Opferbereitschaft musikalisch erfasst werden.26 Hierzu wurden Elemente traditioneller Volksmusik keltischer, orientalischer und afrikanischer Traditionen untersucht, Gastkünstler eingeladen und Instrumente von überall auf der Welt getestet.27 Darüber hinaus schlägt Howard Shore den Filmemachern die Integration von umfangreichen Chorälen vor, welche Gebrauch von den Sprachen Tolkiens machen sollen - Auf diese Weise wird Tolkiens Mythologie in den Film integriert.28 Am lebendigsten jedoch wird Tolkiens Welt durch die Musik mithilfe verschiedener Leitmotive beziehungsweise Leitthemen dargestellt. Shore entwickelt für die Filmmusik über 90 musikalische Themen29, welche die verschiedenen Völker, Orte, Personen etc. in markanten, wiedererkennbaren musikalischen Gebilden klanglich repräsentieren. Diese können je nach Kontext verändert werden und entwickeln sich im Verlauf der Trilogie zum Teil weiter.30
3. Die Leitmotivtechnik: Richard Wagner bis Howard Shore
Die Musik von Howard Shore in The Lord of the Rings - The Fellowship of the Ring lebt vom Einsatz der Themen und Motive. Diese werden im weiteren Verlauf als Leitthemen oder Leitmotive bezeichnet. Der Begriff des Leitmotives ist allerdings problematisch und in der Literatur umstritten. Er ist vor allem in Verbindung mit Richard Wagners Bühnenwerken populär geworden. Es wird versucht, ihn auf Wagners ffiuvre zu beschränken und vom älteren Typus des >Erinnerungsmotives< abzugrenzen.31 Gleichzeitig erfährt der Begriff einen Bedeutungsverlust, was sich darin äußert, dass er häufig nur verwendet wird, um ein >immer wiederkehrendes, bezeichnendes Motiv<32 zu beschreiben. Darüber hinaus weisen Begrifflichkeiten wie >Leitidee<, >Leit-instrumente< oder >Leitharmonie< auf Unsicherheiten in Bezug auf das zu Bezeichnende hin: Es können neben melodischen und rhythmischen Elementen auch die Harmonik oder Instrumentation Bedeutungsträger werden.33 Auch der Terminus „Motiv“ ist nicht immer treffend: Ausgedehnte Themen wie das >Abendmahlthema< aus Wagners Parsifal werden unter dem Begriff des Leitmotives oft genauso zusammengefasst wie kurze melodische Floskeln und oft nicht differenziert.34
Ein, in diesem Zusammenhang ebenso problematischer Begriff ist die „Leitmotivtechnik“. Seine Übertragung auf die Filmmusik ist auch umstritten.35 Das liegt vor allem daran, dass der Begriff eng mit dem Namen Richard Wagners verknüpft ist und Filmmusikkomponisten die Technik nach Wagnerschen Maßstäben häufig zu inkonsequent durchführen. Am Ende der Arbeit wird sich zeigen, ob und inwiefern der Begriff auf die Musik von The Fellowship of the Ring anwendbar ist. In der Zwischenzeit wird er aus Gründen der Einfachheit im Zusammenhang mit der Musik von Howard Shore genutzt.
3.1 Die Leitmotivtechnik Richard Wagners
Wie bereits erwähnt steht Begriff der Leitmotivtechnik in engem Zusammenhang mit dem Namen Richard Wagners, da er in seinen Werken viel Gebrauch von dieser Technik machte. Doch war Wagner nicht der erste, der Leitmotive in seinen Werken einsetzte. Der Begriff des Leitmotives wird noch vor Richard Wagner geprägt. Er „entstammt der Opernkomposition und -ästhetik des 19. Jahrhunderts und wurde zuerst 1871 von Friedrich Wilhelm Jähns auf die musikalische Verarbeitung einzelner Charaktere in den Opern Carl Maria von Webers bezogen.“36 Hans von Wolzogen sprach fünf Jahre später von Leitmotiven in den Opern Richard Wagners, der den Begriff selbst allerdings nicht anwandte; er sprach von >Grundthemen<, >Ahnungsmotiven< u.a.m.37 38 Hier wird abermals die Problematik des Begriffes deutlich. Er wird hier aus Gründen der Einfachheit dennoch verwendet und bezieht sich auf die Art der Handhabung der Technik durch Richard Wagner, welche im Folgenden beschrieben wird. Wagner selbst äußerte sich wie folgt zu seinem Gebrauch der Technik:
„Diese Einheit gibt sich dann in einem das ganze Kunstwerk durchziehenden gewebe [sic!] von Grundthemen, welche sich, ähnlich wie im Symphoniesatz, gegenüberstehen, ergänzen, neu gestalten, trennen und verbinden: nur dass hier die ausgeführte und aufgeführte dramatische Handlung die Gesetze der Scheidungen und Verbindungen gibt.“38
Dieses Zitat lässt sich in drei Grundaussagen zusammenfassen:
1. ) Die Einheit des Kunstwerks wird durch ein Gewebe verschiedener Leitmotive geschaffen
2. ) Die Leitmotive treten in gegenseitige Wechselwirkung
3. ) Die dramaturgische Handlung bestimmt diese Wechselwirkungen
Wagners Gebrauch der Leitmotivtechnik sieht es vor, die Musik vollends in den Dienst der dramatischen Handlung zu stellen (Punkt 1), was vor allem der letzte Satz des obigen Zitates unmissverständlich verdeutlicht (Punkt 3): „[...] nur dass hier die ausgeführte und aufgeführte dramatische Handlung die Gesetze der Scheidungen und Verbindungen [der Leitmotive] gibt.“ Es handelt sich bei der Musik also um funktionale Musik. Sie ist nicht Selbstzweck, sondern unterstützt die Handlung. Ein wichtiger Aspekt sowohl bei Richard Wagner als auch bei Howard Shore ist die Veränderung der Leitmotive, welche durch die Handlung bedingt ist (Punkt 2): „[.] Grundthemen, welche sich, ähnlich wie im Symphoniesatz, gegenüberstehen, ergänzen, neu gestalten, trennen und verbinden [.].“ Hierfür gibt es verschiedene Techniken wie Augmentation, Diminution, Variation der Takt- oder Tonart oder Besetzungswechsel und noch viele weitere, die im weiteren Verlauf dieser Arbeit eine zentrale Rolle spielen werden. Modifikationen an Leitmotiven können die dramaturgische Aussage in einem hohen Maße bestimmen. Durch dieses Netzwerk von Leitmotiven, die in ihrer musikalischen Form oder Textur durch die Handlung bedingt sind, in gegenseitiger Wechselwirkung zueinanderstehen und sich stetig verändern, entsteht bei Wagner letzten Endes die Einheit des Kunstwerkes. Hierin besteht auch der Hauptunterschied des Begriffes des Leitmotives zu Termini wie dem Erinnerungsmotiv: In Wagners frühen Werken bis einschließlich Lohengrin werden Erinnerungsmotive genutzt, welche die Form des Kunstwerkes betonen, jedoch nicht bestimmen.39 Die Aufgabe Wagners Leitmotive ist wesentlich umfassender.
3.2 Die Leitmotivtechnik in der frühen Filmmusikkomposition
Mit dem Beginn der Tonfilm-Ära, dessen Beginn der Film The Jazz Singer 1929 kennzeichnet40, entwickelten sich in den 1930er und 40er Jahren verschiedene Kompositionstechniken, um Tonfilme mit Musik zu begleiten.41 Erwähnenswert sind Namen von Komponisten wie Erich Wolfgang Korngold und Max Steiner, die in Los Angeles auf eine Art komponierten, welche „flexibel wechselnde Affekte zu begleiten und auszudrücken [vermochte].“42 Diese Komponisten, die als erste Musik zum Tonfilm schrieben, nutzten verschiedene Techniken, um das Bild musikalisch zu unterstützen. Es soll hier jedoch in erster Linie auf die Leitmotivtechnik eingegangen werden.
Viele der Komponisten in Los Angeles waren europäische Emigranten, so wie auch die zuvor erwähnten Erich Wolfgang Korngold und Max Steiner, „die aus Europa wegen der verheerenden politischen Umstände insbesondere in Deutschland und Russland nach Hollywood emigrierte[n].“43 Besonders geeignet erschien „die Symphonik und die dramatische Musik des 19. Jahrhunderts“ für die musikalische Unterlegung des Films.44 Diese Musik beinhaltet Expressivität und eignet sich daher besonders gut, um Affekte auszudrücken, „Bewegungen und Handlungen musikalisch zu begleiten und möglichst realistisch abzubilden.“45 Bei Filmmusik handelt es sich, wie auch bei Wagners Musikdrama, um funktionale Musik. Diese ist nicht unabhängig, sondern in ihrer Funktion eng mit dem Film verbunden: Sie hat „sehr schnell und eindeutig verständlich zu sein, denn ihre Einsätze und Dauern werden durch den Film vorgegeben.“46 Filmmusik steht im Grunde, wie die Musik Richard Wagners auch, vollends im Dienst der Dramaturgie der Handlung und soll diese sowohl verstärken als auch verständlich machen. Sie ist also in ihrer Grundfunktion sehr ähnlich.
Es fand eine Assimilierung der Leitmotivtechnik in die Filmmusik statt, „da viele der (nicht nur europäischen) Filmkomponisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus der Wagner- bzw. späteren musikdramatischen Tradition hervorgegangen sind.“47 Die Motivtechnik bietet sich vor allem im Rahmen der Filmmusikkomposition an, da „prägnante musikalische Gebilde der Forderung nach Erinnerbarkeit und Transportfähigkeit einer Idee am ehesten Rechnung tragen können.“48 Viele der ersten Tonfilm-Komponisten arbeiteten mit der Leitmotivtechnik und verknüpften durch prägnante, musikalische Figuren bestimmte Personen, Orte, Gefühle etc. miteinander. Leitmotive schaffen also in erster Linie Struktur und Erinnerbarkeit ähnlich wie in Wagners Opern. Eine weitere Parallele zu Wagner stellen die Veränderungen dieser Motive im Laufe des Filmes dar, was wiederum „Veränderungen [...] des bezeichneten Gegenstands oder der bezeichneten Person der Filmhandlung anzeigt.“49
Dies bedeutet keinesfalls, dass der Gebrauch von Leitmotiven durch Filmkomponisten zwangsweise zu einer Filmmusik führt, welche die Voraussetzungen für eine Wagnersche Leitmotivkomposition erfüllt. An dieser Stelle soll nur festgehalten werden, dass sich die Musik zum Film und die Musik des Musikdramas vor allem in der Hinsicht ähneln, dass deren primäres Ziel die Unterstützung der Handlung darstellt. Aussagen verschiedener Filmmusikkomponisten erklären die Nähe der beiden Gattungen. Max Steiner behauptet: „Wenn Wagner in unserem Jahrhundert gelebt hätte, wäre er die Nummer Eins unter den Filmkomponisten gewesen.”50 Der Filmproduzent Stephen W. Bush geht noch weiter und sagt: „Every man or woman in charge of the music of a moving picture theatre is, consciously or unconsciously, a disciple or follower of Richard Wagner.”51
Der hohe Stellenwert der Leitmotivtechnik in den 1930er und 40er Jahren kann an der Musik Max Steiners zu Filmen wie The Informer (1935), King Kong (1933) oder Casablanca (1943) beobachtet werden.52 Das Schaffen von Max Steiner und auch Komponisten wie Erich Wolfgang Korngold oder Alfred Newman ist, gerade in Hinblick auf den Einsatz der Leitmotivtechnik, für zahlreiche Filmkomponisten wie Howard Shore, James Newton Howard oder Hans Zimmer vorbildlich geworden.53
3.3 Die Leitmotivtechnik Howard Shores
Howard Shore macht von der Leitmotivtechnik zur Darstellung der vielen Kontraste in J.R.R. Tolkiens Welt Gebrauch. Er weist den verschiedenen Völkern, Personen oder Orten Mittelerdes unterschiedliche, markante musikalische Themen zu, variiert diese und entwickelt sie im Laufe der Trilogie weiter. An dieser Stelle ist eine Differenzierung der Begriffe Motiv und Thema sinnvoll. Das Motiv ist die kleinste, sinntragende musikalische Einheit54, während das Thema mit einer Periodik und verschiedenen Phrasen vom Umfang deutlich ausgedehnter ist. Shore nutzt in The Lord of the Rings häufiger Themen, jedoch auch Motive.
Das Fellowship -Thema55 nimmt unter den musikalischen Themen eine Sonderstellung ein. Es handelt sich bei den Gefährten um eine Gemeinschaft, deren Mitglieder den verschiedenen freien Völkern Mittelerdes angehören.56 Die meisten von Shores Leitthemen beziehen sich auf ein Land und sein Volk oder auf eine bestimmte Person. Das Thema der Gefährten hingegen bezieht sich auf mehrere Personen diverser Herkunft.
Nachfolgend werden einige Motive und Themen der Mächte Isengarts und Mordors beschrieben, welche für die Analyse der Konfliktdarstellungen später relevant sein werden. Shore stellt häufig das Fellowship -Thema der Musik Mordors oder Isengarts gegenüber oder lässt diese nacheinander erklingen, um durch die Musik einen Konflikt zu suggerieren. Hierbei wird das Leitthema der Gefährten jeweils an den dramatischen Kontext angepasst. Er nutzt dabei eine große Vielfalt an Techniken, auf die zu einem späteren Zeitpunkt eingegangen wird.
[...]
1 Vgl. Tobias M. Eckrich: „Tolkiens Mittelerdebücher“, in: Deutsche Tolkien Gesellschaft e.V. (Hrsg.), <https://www.tolkiengesellschaft.de/j-r-r-tolkien/tolkiens-werke/die-mittelerdebuecher/> 02.01.2021.
2 Durrell Bowman: „Shore, Howard Leslie“, Updated Version (25.11.2018), <https://www.oxfordmusiconline.com/grovemusic/view/10.1093/gmo/9781561592630.001.0001/o mo-9781561592630-e-1002087595>, 02.01. 2021.
3 Marcy Donelson: „Howard Shore“, <https://www.allmusic.com/artist/howard-shore- mn0000278644/biography> 18.12.2020.
4 Durrell Bowman: „Shore, Howard Leslie“, Updated Version (25.11.2018), <https://www.oxfordmusiconline.com/grovemusic/view/10.1093/gmo/9781561592630.001.0001/o mo-9781561592630-e-1002087595>, 02.01. 2021.
5 Bowman: „Shore, Howard Leslie“, (Wie Anm. 3), 02.01. 2021.
6 Ebd., 02.01. 2021.
7 Ebd., 02.01. 2021.
8 Ebd., 02.01. 2021.
9 Ebd., 02.01. 2021.
10 Ebd., 02.01. 2021.
11 Pat Reynolds: „ The Lord of the Rings: The Tale of a Text”, o.J., S. 2., https://www.tolkiensociety.org/app/uploads/2016/11/LOTR-The-Tale-of-a-Text.pdf heruntergeladen am 25.11.2020.
12 Reynolds: „ The Lord of the Rings: The Tale of a Text” (wie Anm. 10), S. 1.
13 Vgl. Tobias M. Eckrich: „Tolkiens Mittelerdebücher“, in: Deutsche Tolkien Gesellschaft e.V. (Hrsg.), <https://www.tolkiengesellschaft.de/j-r-r-tolkien/tolkiens-werke/die-mittelerdebuecher/> 02.01.2021.
14 Vgl. Eckrich: „Tolkiens Mittelerdebücher“ (wie Anm. 12), 02.01.2021.
15 Vgl. ebd., 02.01.2021.
16 Vgl. Doug Adams, Howard Shore und Fran Walsh: The Music of the Lord of the Rings Films. A Comprehensive Account of Howard Shore's Scores, Van Nuys 2010. S. 1.
17 Vgl. Adams: The Music of the Lord of the Rings Films (Wie Anm. 12), S. 1.
18 Vgl. ebd., S. 1.
19 Vgl. ebd., S. XII.
20 Vgl. ebd., S. XII.
21 Ebd., S. XII.
22 Vgl. ebd., S. 2.
23 Ebd., S. 2.
24 Vgl. ebd., S. 2.
25 Vgl. ebd., S. 2.
26 Vgl. ebd., S. 1.
27 Ebd., S. 2.
28 Ebd., S. 2.
29 Ebd., S. 11. Doug Adams bezeichnet diese als „themes“. Es handelt sich bei ihnen zum Teil um Themen, jedoch auch um Motive. Einzelheiten dazu werden im folgenden Kapitel ausgeführt.
30 Vgl. ebd., S.11.
31 Joachim Veit: Art. „Leitmotiv“, in: MGG2, Bd. 5, Kassel u. a. 1996, Sp. 1079.
32 Veit: Art. „Leitmotiv“, in: MGG2 (wie Anm. 30), Sp. 1079.
33 Ebd., Sp. 1079.
34 Ebd., Sp. 1079.
35 Matthias Bückle und Manuel Gervink (Hrsg.): Art. „Leitmotiv, Leitmotivtechnik“ in: Lexikon der Filmmusik. Personen - Sachbegriffe zu Theorie und Praxis - Genres, Laaber 2012, S. 301.
36 Bückle und Gervink: Art. „Leitmotiv, Leitmotivtechnik“ (wie Anm. 35), S. 301.
37 Vgl. ebd., S. 301.
38 Stephan Kunze: „Über den Kunstcharakter des Wagnerschen Musikdramas“, in: Richard Wagner. Von der Oper zum Musikdrama, Bern und München 1978, S. 16 f.
39 Arnold Whittall: Art. „Leitmotif“, in: Grove Music Online, <https://www.oxfordmusiconline.com/grovemusic/view/10.1093/gmo/9781561592630.001.0001/o mo-9781561592630-e-0000016360?rskey=JNZ5Bm> 04.01.2021.
40 Vgl. Elmer Bernstein: Art. „Berlin, Irving (eigentl. Israel Baline)“ in: Lexikon der Filmmusik. Personen — Sachbegriffe zu Theorie und Praxis — Genres, Laaber 2012, S. 72.
41 Vgl. Josef Kloppenburg (Hg.): Das Handbuch der Filmmusik. Geschichte - Ästhetik - Funktionalität, Laaber-Verlag 2012, S. 89.
42 Kloppenburg (Hg.): Das Handbuch der Filmmusik (wie Anm. 40), S. 89.
43 Ebd., S. 90.
44 Vgl. ebd., S. 92 f.
45 Vgl. ebd., S. 92 f.
46 Ebd., S. 90.
47 Matthias Bückle und Manuel Gervink (Hg.): Art. „Leitmotiv, Leitmotivtechnik“ in: Lexikon der Filmmusik. Personen — Sachbegriffe zu Theorie und Praxis — Genres, Laaber 2012, S. 301.
48 Josef Kloppenburg (Hg.): Das Handbuch der Filmmusik. Geschichte — Ästhetik — Funktionalität, Laaber-Verlag 2012, S. 202.
49 Vgl. Kloppenburg: Das Handbuch der Filmmusik (wie Anm. 47), S. 202.
50 Tony Thomas: Music for the Movies, Beverly Hills 1997, S.122.
51 Joe Jeonwon und Gilman L. Sander (Hg.): Wagner & Cinema, Bloomington 2010, S. 3.
52 Vgl. Josef Kloppenburg (Hg.): Das Handbuch der Filmmusik. Geschichte - Ästhetik - Funktionalität, Laaber 2012, S. 202.
53 Vgl. Kloppenburg: Das Handbuch der Filmmusik (wie Anm. 51), S. 202.
54 William Drabkin: Art. „Motif [motive]“, in: Grove Music Online, 2001, <https://www.oxfordmusiconline.com/grovemusic/view/10.1093/gmo/9781561592630.001.0001/o mo-9781561592630-e-0000019221?rskey=RjxiLC> 05.01.2021.
55 Die Bezeichnungen der Leitmotive und Leitthemen in dieser Arbeit sind von Doug Adams übernommen.
56 Monika Retter: Filmmusik als Wagners Erbe. Eine vergleichende Analyse von Howard Shores Filmmusik zu Peter Jacksons Filmtrilogie The Lord of the Rings, Teil 1, mit Wagners Dramaturgie und Tonsprache, Wien 2008, S. 58.