Die Tagesschau führte seit dem russischen Überfall auf die Ukraine auf ihrer Internetseite einen Liveblog über die Geschehnisse. Die vorliegende Arbeit führt mittels Korpuslinguistik eine Diskursanalyse durch, um die russische Identität zu dekonstruieren und herauszuarbeiten, wie die Konfliktparteien dargestellt werden. Die Arbeit basiert auf der poststrukturalistischen Diskurstheorie von Ernesto Laclau und konzeptualisiert "Russland" als leeren Signifikanten.
Inhaltsverzeichnis
1. EINLEITUNG
2. LITERATURÜBERBLICK
3. DIEPOLITISCHEDISKURSTHEORIE
3.1 Diskurs
3.2 Identität
3.3 Agency
4. DISKURSTHEORETISCHE KORPUSLINGUISTIK
5. RUSSLAND IN DER DARSTELLUNG DER TAGESSCHAU
6. FAZIT
LITERATURVERZEICHNIS
1. Einleitung
„Thisfield of identities 'which never manage to befuUyfixed, is thefield of overdetermination.”
- Laclau/Mouffe2001 1985:lll. Die Analyse von Identitäten und vergleichbaren Konstrukten kannje nach Theoriestrang einen völlig unterschiedlichen Stellenwert haben. Wie das einleitende Zitat andeutet, wird Identität im Poststrukturalismus als ein ausschließlich soziales und relationales Phänomen verstanden. Ihre Untersuchung kann aus dieser Perspektive Rückschlüsse auf das Selbstbild oder die Au- ßenwahmehmung von Akteuren liefern. Auch der Prozess, in dem Identitäten artikuliert bzw. reproduziert werden, bietet zahlreiche Analyse- und Interpretationsmöglichkeiten (vgl. Nymalm 2015: 83ff).
Im Rahmen dieser Arbeit werden die beschriebenen Zugänge genutzt, um die Darstellung der russischen Identität im Ukraine-Liveblog der Tagesschau zu dekonstruieren. Angeleitet von der Frage Wie wird der Signifikant „Russland“ im Diskurs des Tagesschau-Liveblogs artikuliert?, wird die Artikulation von Russland über ein poststrukturalistisches Forschungsdesign untersucht, um herauszuarbeiten, was in diesem Korpus mit russisch gemeint ist: Welches Bild von Russland, russischen Bürgerinnen oder der russischen Identität wird in der diskursiven Struktur konstruiert? Diese Frage ist von besonderer Relevanz, weil die Tagesschau als Medium einen bedeutenden Teil der Bevölkerung erreicht und ihre Darstellung des Russischen weitreichend reproduziert werden könnte.
Das folgende Kapitel gibt einen Überblick zur relevanten Literatur. Der Fokus liegt insbesondere auf poststrukturalistischen Arbeiten, die sich allgemein mit Identitätsbildungsprozessen und speziell mit der russischen Identität befasst haben. In Kapitel 3 folgt die Vorstellung der poststrukturalistischen Konzepte Diskurs, Identität und weiteren, die in diesem Zusammenhang relevant sind. Anschließend folgt die Erläuterung der Korpuslinguistik nach Wolfgang Teubert. Ihre Grundannahmen entsprechen in weiten Teilen denen des Poststrukturalismus, weshalb sie sich in besonderem Maße als Erhebungsmethode eignet. Um die Textmengen in Kapitel 5 analytisch zu bewältigen, wird die Software AntConc 4.0.5 verwendet. Sie ermöglicht es, das Korpus aus rund 1,2 Mio. Worten in kürzester Zeit nach Schlagworten, Wortgruppen oder häufig verwendeten Wortkombinationen zu durchsuchen.
2. Literaturüberblick
Die Literatur zur Erforschung von Identitätsbildungsprozessen ist breit gefächert und hat vor allem im poststrukturalistischen Bereich einige Werke anzubieten, die im Rahmen dieser Arbeit 2 als erste Orientierung und Einordnung verwendet werden können. So spricht Slavoj Zizek in seinem Beitrag We must stop letting Russia define the terms of the Ukraine crisis (2022) für die englische Zeitung The Guardian unter anderem darüber, wie Identitätsvorstellungen dazu beigetragen haben, einen tiefen kulturellen Graben zwischen den Westen und Russland zu ziehen. Zu Beginn beschreibt Zizek, wie die neueste Eskalation des Ukraine-Russland-Konflikts dadurch bestimmt wird, dass westliche Entscheidungsträger Putins wiederholte Reartikulation der Situation unhinterfragt übernehmen, und der diplomatischen Dimension dieses Konflikts somit kontinuierlich hinterherlaufen. Wie die Artikulation bestimmter Identitäten und Kulturen das russisch-westliche-Verhältnis seit Jahrzehnten prägen, erläutert er weiter über die Arbeiten Dostoevskys, „who provided the ,deepest‘ expression of the opposition between Europe and Russia: individualism versus collective spirit, materialist hedonism versus the spirit of sacrifice“ (Zizek 2022). Zizeks Beitrag verdeutlicht, dass Identitätsartikulationen die Grundlage internationaler Diplomatie darstellen können. Wie die kontinuierliche Reartikulation angespannter Situationen, so können auch konstruierte, zugeschriebene Identitäten die Grundlage für politische Entscheidungen oder den individuellen bzw. kollektiven Meinungsbildungsprozess sein.
Eine konkrete Untersuchung der russischen Kultur- und Identitätsartikulation findet sich in Domenico Valenzas Russia’s cultural diplomacy in the post-Soviet space: the making of “one people” (2022). Mithilfe eines poststrukturalistischen Forschungsdesigns untersuchte Valenza offizielle Dokumente und Erklärungen des Präsidenten zwischen 2008-2018, halbstrukturierte Interviews mit politischen Entscheidungsträgern, Kulturschaffenden und Experten sowie teilnehmende Beobachtung. Seine Untersuchung zeigte, dass nach den Präsidentschaftswahlen 2012 eine neue „cultural diplomacy“ (Valenza 2022) etabliert wurde, die Russlands Identität durch 1. die Radikalisierung kultureller Unterschiede zum Westen/zur EU und 2. die Negierung alternativer Identitäten innerhalb des postsowjetischen Raums reproduzierte. Begleitet durch zunehmende politische Proteste, versuchte diese hegemoniale Intervention auf staatlicher Ebene eine antagonistische Abgrenzung des Sozialen (wieder) herzustellen und das Überleben des Regimes zu sichern. Valenza konnte somit zeigen, dass der westlich-russische-Konflikt, aus poststrukturalistischer Perspektive, im Kern aus bewusst antagonistisch konstruierten Identitäten besteht. Wie bereits Zizeks Beitrag verdeutlichte, greift auch Valenzas Arbeit die Bedeutung von Identitätskonstruktionen auf und zeigt darüber, wie gezielte Artikulationen Konflikte beschwören und am Leben halten können.
Unter dem Titel ‘Propaganda Fights’ and ‘Disinformation Campaigns’: the discourse on information warfare in Russia-West relations (2020) veröffentlichte Mario Baumann schließlich eine Untersuchung, die ebenfalls über einen poststrukturalistischen Ansatz herausfand, dass Debatten über die sogenannte Informationskriegsführung sowohl im Westen als auch in Russland an Bedeutung gewonnen haben. Die vergleichende Analyse erörtert, dass die zeitgenössischen Diskurse, die eine konfrontative Haltung sowohl Russlands als auch des Westens gegenüber dem jeweils anderen begünstigen, formbar sind. Langfristig seien die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen daher nicht dazu verurteilt, feindselig zu bleiben. Diese Einschätzung wird weiter damit begründet, dass beide Seiten immer noch bis zu einem gewissen Grad die gleiche Sprache sprechen: „However, if the current cooldown prevails, this common discursive ground may fade and give way to more fundamental confrontational stances“ (Baumann 2020: 6). Wie die vorliegende Arbeit zeigen wird, kann die andauernde Abkühlung unter anderem mit fremdzugeschriebenen Identitätskonstruktionen begründet werden. Die bereits bei Valenza angesprochenen antagonistischen Artikulationen werden diesbezüglich zeigen, dass die Konstruktion gegensätzlicher Identitäten dazu führen kann, dass der jeweils andere als Hindernis zur Erfüllung des eigenen Selbst angesehen wird. Die von Baumann beschriebene Abkühlung könnte schließlich dazu geführt haben, dass die gemeinsame diskursive Basis verschwunden ist und einer grundsätzlicheren konfrontativen Haltung Platz machte.
3. DiePolitischeDiskurstheorie
Die Politische Diskurstheorie (PDT), auch Poststrukturalistische Diskurstheorie genannt, steht im Zusammenhang mit der sogenannten Essex School of Discourse Theory, in der die Schriften von Ernesto Laclau eine zentrale Stellung einnehmen. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe problematisierten in Hegemony and Socialist Strategy (2001 1985) den Essentialismus und Determinismus des Marxismus. Seitdem haben sich Vertreter der Politischen Diskurstheorie bemüht, in ihren Arbeiten die Kontingenz und Historizität dessen, was wir Objektivität nennen, zu betonen, um die Rolle von Politik und Macht bei ihrer Entstehung zu verdeutlichen, wobei sie speziell auf die Arbeiten von Michael Foucault, Jaques Derrida, Jaques Lacan und Slavoj Zizek aufbauten (vgl. Glynos et al. 2009: 7). Der Fokus dieser Arbeit liegt in diesem Sinne auf der Untersuchung der Transformation und Reproduktion von Ordnungen und Praktiken, die für unsere Artikulationen, Repräsentationen oder Kategorisierungen der Welt stehen, indem sie ihren hegemonialen bzw. selbstverständlichen Charakter in Frage stellen. Laclau und Mouffe begannen damit, die klassische marxistische Ontologie zu dekonstruierten, die Identität auf ein Klassenwesen reduziert (vgl. Laclau/Mouffe 2001: Kapitel 1). Die Schriften von Laclau und Mouffe zielten dabei offensichtlich nicht auf eine Theorie diskursiver Prozesse im Sinne von Kommunikation über Sprache oder ähnliche Mittel, sondern auf eine umfassende Theorie des Sozialen und Politischen. Der Begriff des Diskurses umfasst in diesem Zusammenhang nicht nur die Sprache, sondern alle sozialen Phänomene (vgl. Laclau 1990: 100). Die PDT sollte somit einen alternativen Ansatz zum Verständnis der Strukturierung sozio-politischer Räume darstellen, indem ein neuartiges Konzept des Diskurses formuliert wurde (vgl. Laclau 2000, x). In Laclaus Worten also ist die PDT “not just a simple theoretical or epistemological approach; it implies, by asserting the radical historicity of being and therefore the purely human nature of truth, the commitment to show the world for what it is: an entirely social construction of human beings which is not grounded on any metaphysical ‘necessity’ external to it - neither God, nor ‘essential forms’ nor the ‘necessary laws of history’” (Laclau 1990: 129).
In ihrer weiteren Entwicklung hat die PDT ihren Fokus auf den Zusammenhang zwischen Bedeutung, Interpretation und Praxis gelegt. In diesem Sinne versteht sich die PDT nicht als unabhängig von sozialen und politischen Theorien oder als losgelöst von sozialen und historischen Kontexten. Im Gegenteil, sie muss in Verbindung mit demjeweiligen historischen Kontext artikuliertwerden, ,,[to] critically explain problematized objects of research“ (Howarth 2013: 12). Weiter wendet sich die PDT gegen rationalistische Ansätze, die von vollständig selbstbewussten Akteuren mit vorgegebenen Interessen und Präferenzen ausgehen, sowie gegen positivistische Wissens- und Methodenkonzeptionen, die durch die Annahme einer unproblematischen objektiven Realität auf Verallgemeinerungen und Vorhersagen basieren (vgl. Howa- rth/Stavrakakis 2000: 6f). Was dies für die praktische Forschung bedeutet, wird in den folgenden Unterkapiteln (theoretische Perspektive) und Kapitel 4 (Methode) behandelt. Dort werden die Schlüsselbegriffe für diese Arbeit festlegen: Diskurs und Identität sowie die damit verbundenen Konzepte, die als analytische Kategorien im Zusammenhang mit der rhetorischen Analyse artikuliert werden.
3.1 Diskurs
Um Verwirrung zu vermeiden, ist es nützlich, zuerst die Beziehung zwischen Artikulationen, Diskursen und verwandten Konzepten zu klären. In Anlehnung an Laclau und Mouffe wird hier der Begriff der Artikulation verwendet, um sowohl die Praxis der Verknüpfung diskursiver Elemente als auch das zeitweilige Ergebnis dieser Praxis zu bezeichnen. Mit dem Begriff diskursive Formation wird im weitesten Sinne eine zusammenhängende Menge von Artikulationen bezeichnet, während der Begriff Diskurs fürjene größeren diskursiven Formationen reserviert ist, die relativ klar identifizierbar sind, indem sie sich thematisch oder in Bezug auf ihre zeitliche und räumliche Ausdehnung von anderen diskursiven Formationen abgrenzen lassen (vgl. Laclau/Mouffe 2001: 105). Der Begriff Diskurs bezieht sich sowohl auf spezifische Diskurse als auch auf das Diskursive, also die Gesamtheit der sinnstiftenden Praktiken (vgl. Stengel 2020: 34).
In der PDT werden die Begriffe Diskurs und diskursive Struktur außerdem auf der ontologischen als auch auf der ontischen Ebene verstanden. Wie im Folgenden unter den zentralen Merkmalen ausgeführt wird, bedeutet das, der Diskurs ist sowohl eine konstitutive Bedeutungsstruktur im Sinne eines ontologischen Horizonts als auch die konkrete Praxis der Kommunikation im Sinne von sprachlichen und nicht-sprachlichen Elementen (vgl. Laclau 2005: 106; Laclau/Mouffe 2001: 108). Das gesamte Konzept des Diskurses in der PDT lässt sich über vier zentrale Merkmale zusammenfassen: 1. Diskurs als sinnstiftende Praxis, die die soziale Welt durch die Zuschreibung von Bedeutung konstruiert und verständlich macht, 2. Diskurs als ontologischer Horizont, der das Verständnis jeglicher Objektivität und sozialer Beziehungen als Verbindung von Elementen impliziert. Subjekte, Worte oder Handlungen werden daher im Kontext einer bestimmten Praxis verständlich gemacht, und jedes Element erlangt nur in Beziehung und Abgrenzung zu anderen Elementen seine Bedeutung, 3. der Fokus auf Bedeutung und Sprache und das Verständnis des Diskurses als System von Differenzen reduziert nicht alles auf Sprache oder Text, sondern impliziert, dass der differenzielle und relationale Charakter der Sprache für alle Sinn- und Bedeutungssysteme gilt: „the linguistic and non-linguistic elements are not merelyjuxtaposed, but constitute a differential and structured system of positions - that is a discourse” (Laclau/Mouffe 2001: 108) und 4. in Bezug auf die PDT als ontologischen Horizont werden alle Bedeutungssysteme als strukturell unvollständig oder unentscheidbar im Sinne eines fundamentalen Mangels oder einer radikalen Kontingenz verstanden (vgl. Glynos et al. 2009: 8f).
In diesem Zusammenhang kann nicht genug betont werden, dass der Begriff des Diskurses nicht nur die Sprache, sondern alle sozialen Phänomene umfasst:
„The fact that every object is constituted as an object of discourse has nothing to do with whether there is a world external to our thought, or with the realism/idealism opposition. An earthquake or the falling of a brick is an event that certainly exists, in the sense that it occurs here and now, independently of my will. But whether their specificity as objects is constructed in terms of ‘natural phenomena’ or ‘expressions of the wrath of God’, depends upon the structuring of a discursive field. What is denied is not that such objects exist externally to thought, but the rather different assertion that they could constitute themselves as objects outside any discursive conditionof emergence” (Laclau/Mouffe 2001: 108).
3.2 Identität
Identität darf im Kontext der PDT nicht als eine vorab festgelegte Kategorie verstanden werden, die dann auf die empirischen Ergebnisse einer Analyse angewandt wird:
„Identity does not exist ‘in itself’, but only to the extent of being articulated in discourses, or in other words, by being practiced [...] it offers a way of studying identities and their ‘effects’ without presupposing a certain account of identity as a pre-fixed category, attributing it to certain ‘levels of analysis’, or essentializing it throughthe ‘results’ of ananalysis” (Nymalm2015: 54).
Identität wird somit als diskursiv artikuliert verstanden, also als ein durch und durch soziales und relationales Phänomen. Streng genommen gibt es die Identität als solche nicht, sondern sie ereignet sich durch die Identifikation mit Subjektpositionen, die in Diskursen artikuliert werden. Das bedeutet jede Identität konstituiert sich in einem nur temporär fixierbaren Verhältnis zu anderen (vgl. Laclau/Mouffe 2001: lllff). Die Subjektpositionen können als diese zeitlichen und nie vollständigen Fixierungen verstanden werden, was auch bedeutet, dass es in einem PDT-Verständnis kein in sich geschlossenes, stabiles Subjekt gibt. Das Selbst ist das, was es ist, weil es mit etwas anderem kontrastiert wird, das es nicht ist; das gilt sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene (vgl. Jorgensen/Phillips 2002: 40ff). Die Bildung individueller und kollektiver Identitäten geschieht durch diskursive Prozesse, in denen Identitäten akzeptiert, abgelehnt und ausgehandelt werden. Da Bedeutungen nie endgültig festgelegt werden können, besteht ständig die Möglichkeit für soziale Kämpfe um Definitionen von Gesellschaft und Identität (vgl. ebd.: 24ff & 36). Das Selbst und das Andere konstituieren sich also immer in einem differentiellen Verhältnis zueinander, auch impliziert durch das Streben nach unmöglicher Schließung oder Fülle, das den Anderen zum konstitutiven, aber auch antagonistischen Anderen macht: ,,[T]his constitutive outside is inherent to any antagonistic relationship“ (Laclau 1990: 9). Unter Bezugnahme auf den grundlegenden Mangel injeder Struktur wirdjede Identität auf der ontologischen Ebene als „dislocated in so far as it depends on an outside which both denies that identity and provides its condition of possibility at the same time“ (ebd.: 1990: 39) verstanden. Auf der ontischen Ebene kann sich die grundlegende Dislocation durch die Erfahrung eines Ereignisses oder der Konfrontation mit einem Anderen manifestieren, das nicht in das bestehende Bedeutungssystem integriert oder mit den bisher existierenden Artikulationen des Selbst in Einklang gebracht werden kann (vgl. Nymalm 2015: 84f).
Identitäten bestehen nach diesem Verständnis aus Subjektpositionen und weiteren diskursiven Elementen, die miteinander verkettet und von einem gemeinsamen Namen, z.B. russisch, repräsentiert werden. Es kann vorkommen, dass die repräsentative Funktion eines Namens von einer Reihe ähnlicher Signifikanten übernommen wird, was ihn etwas unscharf erscheinen lässt. Eine solche Gruppe von Signifikanten wird als unscharfe leere Signifikanten bezeichnet (vgl. Stengel 2020: 53).
3.3 Agency
Dieser weitreichende Einfluss des Diskurses wirft die Frage nach dem auf, was in den Internationalen Beziehungen gemeinhin als agency bezeichnet wird (vgl. Wendt 1987). Der Begriff meint die Möglichkeit des bewussten, zielgerichteten Handelns von Menschen, das nicht durch soziale Strukturen bestimmt ist. Die Vorstellung, dass Subjekte diskursiv produziert werden, ist nicht auf allgemeine Zustimmung gestoßen, weil sie im Widerspruch zu konventionelleren politikwissenschaftlichen Erklärungen steht. Bei konventionellen Ansätzen erfolgt die Analyse 7 politischer Vorgänge in der Regel durch die Fokussierung auf absichtliche Handlungen rationaler, mit einem freien Willen ausgestatteter Akteure (vgl. Stengel 2020: 34f).
Die naheliegende Kritik am Poststrukturalismus lautet daher, er leugne die Möglichkeit strategischen Handelns und reduziere menschliche Akteure auf passive Träger von Diskursen, wodurch es letztlich keine Möglichkeit für sozialen Wandel geben würde (vgl. Laclau 1990: 35). Gegen diese Kritik können zwei Gründe angeführt werden, warum Menschen keine automatische Umsetzung diskursiver Strukturen sind: 1. Jeder Mensch ist als Subjekt gleichzeitig in mehrere Diskurse eingebettet und konstituiert sich durch sie. Die Vielfältigkeit der Identität einer einzelnen Person zeigt sich in der Identifizierung mit unterschiedlichen Subjektpositionen. Außerdem können sich die mit den verschiedenen Subjektpositionen verbundenen Verhaltenserwartungen überschneiden oder widersprechen. 2. In dem Begriff der Dislocation ist die Grundlage für die Möglichkeit des sozialen Wandels konzeptualisiert. Im Gegensatz zum Strukturalismus nach Ferdinand de Saussure betont die poststrukturalistische Diskurstheorie, dass einerseits prinzipiell jeder Signifikant mit jedem Signifikat verbunden werden kann. Andererseits kann gleichermaßenjedes Signifikat durch eine unendliche Anzahl von Signifikanten repräsentiert werden (vgl. Stengel 2020: 34). Jede Identität ist damit überdeterminiert. Wenn die Bedeutung eines bestimmten Signifikanten in einem diskursiven Kontext fixiert wird, wenn also diskursiv nicht zugeordnete Elemente zu sinnhaften Momenten artikuliert werden, nimmt er eine bestimmte Bedeutung aus einer prinzipiell unendlichen Anzahl möglicher Bedeutungen an, während alle anderen Bedeutungen ausgeschlossen werden. Der Signifikant, vorher ein diskursives Element, wird auf ein Moment eines bestimmten Diskurses reduziert (vgl. Laclau/Mouffe 2001: 104ff; Stengel 2020: 35). Seine Bedeutung wird damit eingegrenzt und temporär fixiert. Dies hat zur Folge, dassjede spezifische Verbindung zwischen einem Signifikanten und einem Signifikat kontextabhängig ist und auf dem Ausschluss von anderen möglichen Bedeutungen basiert. Dies gilt auch für Diskurse als Ganzes. So gibt es aus der Perspektive eines bestimmten Diskurses immer einen „surplus of meaning“ (Laclau/Mouffe 2001: 111), womit auch alle anderen möglichen Bedeutungen gemeint sind, die aus dem betrachteten Text ausgeschlossen wurden (vgl. Stengel 2020: 34f).
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- Arbeit zitieren
- André Will (Autor:in), 2022, Die Konstruktion der russischen Identität im Liveblog der Tagesschau zum Ukraine-Krieg, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1331055
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