Von der Konkordanzdemokratie zur Konkurrenzdemokratie? Die Niederlande und Israel im Vergleich


Thesis (M.A.), 2002

85 Pages, Grade: Sehr gut


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Inhaltsverzeichnis

Verzeichnis der Tabellen

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Einführung in die Thematik
1.2 Theoretische Grundlage und Begriffsklärung
1.3 Fragestellungen und Vorgehensweise

2. Lijpharts Prinzipien der Konkordanzdemokratie
2.1 Große Koalitionen
2.2 Das Vetorecht der Minderheiten
2.3 Das Proporzprinzip
2.4 Die Autonomie der Subkulturen

3. Lijpharts Konkordanzdemokratie begünstigende Faktoren
3.1 Isolation der Subkulturen
3.2 Repräsentatives Mehrparteiensystem
3.3 Minderheitsstatus aller Subkulturen
3.4 Die Nation verbindende Elemente
3.5 Traditionell kooperatives Verhalten der Eliten
3.6 Die Größe des Landes und der Bevölkerung

4. Die Niederlande
4.1 Konkordanzdemokratie begünstigende Faktoren in den Niederlanden
4.1.1 Isolation der Säulen in den Niederlanden
4.1.2 Das Parteiensystem der Niederlande
4.1.3 Minderheitsstatus aller Säulen der Niederlande
4.1.4 Die niederländische Nation verbindende Elemente
4.1.5 Traditionell kooperatives Verhalten der Eliten in den Niederlanden
4.1.6 Die Größe der Niederlande und der niederländischen Bevölkerung
4.2 Die Anwendung konkordanzdemokratischer Prinzipien in den Niederlanden
4.2.1 Koalitionsbildung in den Niederlanden
4.2.2 Vetorecht der Minderheiten in den Niederlanden
4.2.3 Die Anwendung des Proporzprinzips in den Niederlanden
4.2.4 Autonomie der Säulen in den Niederlanden

5. Israel
5.1 Konkordanzdemokratie begünstigende Faktoren in Israel
5.1.1 Isolation der Lager in Israel
5.1.2 Das Parteiensystem Israels
5.1.3 Minderheitsstatus aller Lager Israels
5.1.4 Die jüdisch-israelische Nation verbindende Elemente
5.1.5 Traditionell kooperatives Verhalten der Eliten
5.1.6 Die Größe Israel und der israelischen Bevölkerung
5.2. Die Anwendung konkordanzdemokratischer Prinzipien in Israel
5.2.1 Koalitionsbildung in Israel
5.2.2 Vetorecht der Minderheiten in Israel
5.2.3 Die Anwendung des Proporzprinzips in Israel
5.2.4 Autonomie der Lager in Israel

6. Ergebnisse

7. Quellenverzeichnis
7.1 Literatur
7.2 Internet-Adressen
7.3 Private e-mails

Verzeichnis der Tabellen

Tab. 1: Parlamentswahlen zur Zweiten Kammer 1946 –1963

Tab. 2: Parlamentswahlen zur Zweiten Kammer 1967 – 2002

Tab. 3: Regierungskoalitionen in den Niederlanden 1946 – 2002

Tab. 4: Wahlen zur Knesset 1949 – 1973

Tab. 5: Wahlen zur Knesset 1977 – 1999

Tab. 6: Direktwahl des Ministerpräsidenten 1996 – 2001

Tab. 7: Regierungskoalitionen in Israel 1949 – 2002

Tab. 8: Konkordanzdemokratie begünstigende Faktoren in den Niederlanden und Israel im Vergleich

Tab. 9: Die Anwendung konkordanzdemokratischer Prinzipien in den Niederlanden und Israel im Vergleich

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

1.1 Einführung in die Thematik

In den 70er Jahren klassifizierte Arend Lijphart in seinem Buch „Democracy in Plural Societies: A Comparative Exploration“ die Niederlande als Konkordanzdemokratie ( Consociational Democracy) und Israel als Halb-Konkordanzdemokratie ( Semiconsociational Democracy).[1] In jener Arbeit zeigt Lijphart für diese Länder eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten und Unterschieden bezüglich der von ihm formulierten Konkordanzdemokratie begünstigenden Faktoren und der Anwendung der konkordanzdemokratischen Prinzipien auf. Er kommt zu dem Schluss, dass in Israel nicht alle konkordanzdemokratischen Prinzipien Anwendung fanden; daher die Bezeichnung Israels als Halb-Konkordanzdemokratie.

In der vorliegenden Arbeit sollen die Niederlande und Israel nun anhand der von Lijphart entwickelten Kriterien hinsichtlich der Frage untersucht werden, ob sie heute noch als Konkordanzdemokratie bzw. Halb-Konkordanzdemokratie bezeichnet werden können, oder ob es angemessener ist, sie als Konkurrenzdemokratien zu bezeichnen. Dabei sollen auch die heute bestehenden Unterschiede und Gemeinsamkeiten aufgezeigt werden.

1.2 Theoretische Grundlage und Begriffsklärungen

Der Begriff Konkordanzdemokratie bezeichnet in der vergleichenden politischen Systemlehre einen Typus von Demokratie, der vor allem durch Unterschiede zur Konkurrenzdemokratie definiert ist. In Konkordanzdemokratien wird das für die Konkurrenzdemokratie charakteristische Mehrheitsprinzip durch verschiedene Kompromisstechniken ersetzt, in die alle oder zumindest alle politisch relevanten Akteure einbezogen werden, damit Streitfragen gütlich ausgehandelt werden können.[2]

Die Theorie der Konkordanzdemokratie wurde gegen Ende der 60er Jahre als Reaktion auf eine Schwäche der damals einflussreichen vergleichenden Systemlehre entwickelt. Der vergleichenden Systemanalyse zufolge hingen Stabilität und Leistungsfähigkeit demokratischer politischer Systeme eng mit dem Grad politischer Modernisierung zusammen, wozu die Ausbildung konkurrenzdemokratischer Verfahren und einer differenzierten Rollenstruktur[3] zählte. Hierfür galt das Bestehen einer homogenen und säkularisierten politischen Kultur, wie sie in den angloamerikanischen Demokratien auftrat[4], als Voraussetzung. Die Instabilität wichtiger kontinentaleuropäischer Länder, z.B. der Weimarer Republik und der II. und IV. Republik in Frankreich, wurde auf die Fragmentierung der politischen Kulturen in politisch-weltanschauliche Lager zurückgeführt, die auch Interessenverbände, Medien und kulturelle Organisationen erfasste.[5]

Die beiden Politikwissenschaftler Arend Lijphart und Gerhard Lehmbruch beschäftigten sich nun mit der Politik in kleinen kontinentaleuropäischen Ländern, nämlich den Niederlanden, Belgien, der Schweiz und Österreich, und versuchten zu erklären, warum es sich bei diesen Ländern um stabile Demokratien handelte, obwohl ihre Gesellschaften nicht homogen, sondern sozial segmentiert waren.[6] Lijphart stellte die gängige Kategorisierung von Demokratien in entweder den angloamerikanischen, stabilen Typ, der auf einer homogenen Gesellschaftsstruktur beruht, oder in den kontinentaleuropäischen, instabilen Typ mit der ihm zugeschriebenen heterogenen Gesellschaftsstruktur, in Frage. Er argumentierte, dass der kontinentaleuropäische Typ zu ungenau definiert sei, da ihm sowohl sehr unstabile Systeme, wie die Weimarer Republik, als auch sehr stabile Systeme, wie die Niederlande, zugeordnet werden könnten. Die politischen Systeme, die Lijphart untersuchte und die sich durch eine segmentierte Gesellschaftsstruktur auszeichneten und stabile Demokratien waren, bezeichnete er als Consociational Democracies .[7] Lehmbruch benutzte zur Beschreibung der Politik in den stabilen Demokratien mit segmentierter Gesellschaftsstruktur erst den Begriff Proporzdemokratie und später den Begriff Konkordanzdemokratie.[8] Obwohl sich die beiden Politikwissenschaftler mit dem gleichen Phänomen beschäftigen, handelt es sich bei den von ihnen verwendeten Begriffen nicht um austauschbare Synonyme, denn sie betonen unterschiedliche Aspekte der politischen Systeme.[9] Da sich im deutschen Sprachraum der Begriff Konkordanzdemokratie etabliert hat, wird dieser Begriff auch in der vorliegenden Arbeit verwendet.

Während Lehmbruch sich hauptsächlich mit Österreich und der Schweiz beschäftigte, bezog Lijphart sich bei der Entwicklung seiner Theorie der Konkordanzdemokratie nicht nur auf Österreich, Belgien und die Schweiz, sondern vor allem auch auf die Niederlande.[10] Die von Lijphart entwickelten konkordanzdemokratischen Prinzipien, die auch zu einer Standarddefinition von Konkordanzdemokratie geworden sind,[11] wurden daher für diese Arbeit als theoretischer Rahmen gewählt.

Die Theorie der Konkordanzdemokratie geht davon aus, dass die Einheit und politische Stabilität eines Landes mit segmentierter Gesellschaft beibehalten werden kann, wenn die politischen Eliten der gesellschaftlichen Subkulturen zu einer Politik der gütlichen Einigung bereit sind. Die politischen Eliten haben hierbei keine leichte Aufgabe zu meistern: zum einen müssen sie mit den politischen Eliten der übrigen Subkulturen zusammenarbeiten, was ein gewisses Maß an Toleranz erfordert, und zum anderen müssen sie dazu in der Lage sein, die Mitglieder ihrer Subkultur hinter sich zu vereinigen und diese davon überzeugen zu können, dass Kooperation mit den anderen Subkulturen der richtige Weg ist. Ob die Eliten zur gegenseitigen Kooperation bereit sind und inwiefern ihnen am Erhalt der Einheit und der Stabilität eines Landes gelegen ist, spielt für die Anwendung von Konkordanzdemokratie eine große Rolle. Die „richtige“ Einstellung der politischen Eliten ist allerdings schwer messbar und nicht vorhersehbar. Lijphart formuliert jedoch eine Reihe anderer Faktoren, die die Aussicht auf die erfolgreiche Anwendung von Konkordanzdemokratie leichter absehbar machen. Keiner dieser Faktoren ist eine Bedingung bzw. eine Voraussetzung dafür, dass Konkordanzdemokratie möglich ist; sie begünstigen lediglich die Anwendung von Konkordanzdemokratie.[12] Anhand der von Lijphart formulierten Konkordanzdemokratie begünstigenden Faktoren soll untersucht werden, wie günstig oder ungünstig die Rahmenbedingungen für die Anwendung von Konkordanzdemokratie heute in den für diese Arbeit gewählten Ländern sind.

1.3 Fragestellungen und Vorgehensweise

In der vorliegenden Arbeit soll untersucht werden, ob die Niederlande und Israel noch als Konkordanzdemokratie bzw. als Halb-Konkordanzdemokratie bezeichnet werden können, oder ob sie heute eher Konkurrenzdemokratien sind. Es ist hierfür sinnvoll, auch zu analysieren, ob in den gewählten Ländern die Rahmenbedingungen für die Anwendung von Konkordanzdemokratie heute noch so günstig sind, wie in früheren Zeiten. Um dies bewerten zu können, soll überprüft werden, ob Lijpharts Konkordanzdemokratie begünstigende Faktoren in den Niederlanden und Israel heute (noch) erfüllt sind. Sind sie das nicht, bzw. zu geringerem Grad als in früheren Zeiten, muss daraus der Schluss gezogen werden, dass sich die Rahmenbedingungen für die Anwendung von Konkordanzdemokratie gleichsam verschlechtert haben. In einem solchen Fall sollte es nicht erstaunen, wenn das entsprechende Land bzw. beide Länder sich vom Modell der Konkordanzdemokratie entfernt und konkurrenzdemokratische Züge angenommen hätten.

Letztlich wird die Frage, ob die Niederlande und Israel heute noch als Konkordanzdemokratie bzw. Halb-Konkordanzdemokratie bezeichnet werden können, oder ob sie heute eher Konkurrenzdemokratien sind, jedoch anhand der Untersuchung, ob die von Lijphart formulierten konkordanzdemokratischen Prinzipien noch immer angewendet werden, beantwortet werden. Falls die konkordanzdemokratischen Prinzipien heute nicht mehr oder zu geringerem Grad als zu früheren Zeiten angewendet werden, soll daraus der Schluss gezogen werden, dass das entsprechende Land bzw. beide Länder sich vom Modell der Konkordanzdemokratie entfernt und konkurrenzdemokratische Züge angenommen haben.

Es ergeben sich also folgende Fragestellungen:

(i) Werden die von Lijphart genannten Konkordanzdemokratie begünstigenden Faktoren in den Niederlanden und Israel heute noch erfüllt?
(ii) Werden die von Lijphart entwickelten konkordanzdemokratische Prinzipien in den Niederlanden und Israel heute noch angewendet?

In den Teilen zwei und drei der Arbeit werden zunächst die von Lijphart entwickelten Prinzipien der Konkordanzdemokratie und die Konkordanzdemokratie begünstigenden Faktoren dargestellt. In den beiden Hauptteilen der Arbeit wird zunächst für die Niederlande und dann für Israel überprüft werden, ob die Konkordanzdemokratie begünstigenden Faktoren und die konkordanzdemokratischen Prinzipien heute erfüllt sind bzw. noch angewendet werden, und welche Veränderungen in Bezug auf diese Fragen seit Beginn der Anwendung der konkordanzdemokratischen Prinzipien eingetreten sind. Im Schlussteil werden die aufgeworfenen Fragen schließlich vergleichend beantwortet.

2. Lijpharts Prinzipien der Konkordanzdemokratie

2.1 Große Koalitionen

Die Bildung von großen Koalitionen, an denen möglichst alle wichtigen gesellschaftlichen Subkulturen[13] beteiligt sind, ist nach Lijphart das wichtigste konkordanzdemokratische Prinzip. Es steht sowohl im Kontrast zu den Konkurrenzdemokratien, in denen die politischen Repräsentanten entweder der regierenden Mehrheit oder der sich in der Opposition befindenden Minderheit angehören (Britisches Modell), als auch zu denen, wo sogenannte „minimal winning coalitions” gebildet werden.[14] Als „minimal winning coalition” wird nach Abram De Swaan eine Koalition bezeichnet, die ohne eine der sie bildenden Parteien keine Mehrheit mehr hätte.[15] Nach Lijphart ist die Anwendung des britischen Modells oder die Bildung von „minimal winning coalitions” nur für solche Gesellschaften sinnvoll bzw. möglich, in denen ein starker Konsens zwischen der Minderheit und der Mehrheit, dass heißt zwischen der Opposition und der regierenden bzw. den regierenden Parteien, besteht. In sozial segmentierten Gesellschaften mit potentiell feindlich nebeneinanderstehenden Subkulturen besteht eine solcher Konsens für gewöhnlich nicht, daher haben Mehrheitsentscheide das Potential, die Stabilität und Einheit des politischen Systems zu gefährden.[16]

Die Anwendung des Britischen Modells ist für segmentierte Gesellschaften auch deshalb wenig sinnvoll, weil die ihm zugrunde liegende Annahme, dass Regierung und Opposition alternieren, nicht erfüllt ist. Mehrheitsverhältnisse können sich grundsätzlich nur ändern, wenn es eine bedeutende Gruppe von Wechselwählern gibt oder es entscheidende demographische Veränderungen gibt. Da die wichtigen sozialen Konfliktlinien in segmentierten Gesellschaften üblicherweise auch politische Bedeutung haben, kann nicht davon ausgegangen werden, dass es viele Wechselwähler gibt.[17]

Die Beteiligung von Repräsentanten aller wichtigen Subkulturen an der Regierungsbildung gilt als Paradebeispiel einer für die Konkordanzdemokratie typischen großen Koalition. Allerdings kann die Bildung von großen Koalitionen für andere Institutionen die gleiche Funktion erfüllen, nämlich die Beteiligung von Repräsentanten aller wichtigen Subkulturen an der Entscheidungsfindung bei Fragen, die das ganze Land betreffen.[18]

2.2 Das Vetorecht der Minderheiten

Durch die Beteiligung von Repräsentanten aller wichtiger Subkulturen in großen Koalitionen sollen die Minderheiten geschützt werden. Da aber auch von großen Koalitionen Entscheidungen zum Teil anhand des Mehrheitsprinzips getroffen werden, können Minderheiten überstimmt werden und ihre Interessen in den für sie möglicherweise entscheidenden Angelegenheiten verletzt werden.

In Konkordanzdemokratien werden die zentralen Interessen der Minderheiten zusätzlich durch ein Vetorecht geschützt, über das alle „wichtigen“ Minderheiten verfügen. Dies ist wichtig, da bei einer Verletzung der zentralen Interessen einer Minderheit durch einen Mehrheitsentscheid die Bereitschaft der Eliten zu Kooperation beeinträchtigt werden könnte und somit die Stabilität des ganzen Systems in Gefahr wäre.[19]

Die Gefahr, dass das Vetorecht von einer Minderheit missbraucht wird, ist dadurch eingeschränkt, dass eben alle Minderheiten über das Vetorecht verfügen. Eine zu häufige Nutzung des Vetos ist in niemandes Interesse, da dies zu politischer Handlungsunfähigkeit führen würde. So wird nur in den dringendsten Fällen auf das Veto zurückgegriffen. Allein die theoretische Verfügbarkeit gibt so viel Sicherheit, dass die eigentliche Nutzung unwahrscheinlich wird.[20]

Das Vetorecht der Minderheiten ist nicht in allen Konkordanzdemokratien in der Konstitution verankert bzw. gesetzlich geregelt. Häufig besteht es als informelles, nicht kodifiziertes Einverständnis zwischen den Eliten.[21]

2.3 Das Proporzprinzip

In Konkordanzdemokratien wird das Proporzprinzip für die Besetzung von Stellen im Staatsdienst und die Verteilung staatlicher Subventionen an die gesellschaftlichen Subkulturen angewendet. Es ist ein neutrales und unparteiisches Verteilungsprinzip, das zur Beseitigung von Problemen dient, die durch quantitative Zuteilung gelöst werden können. Häufig wird das Proporzprinzip in Konkordanzdemokratien auch angewendet, um die wichtigen Subkulturen gemäß ihrer numerischen Stärke in der Gesellschaft an Entscheidungsfindungen und politischen Verhandlungen zu beteiligen. In diesem Sinne verbessert das Proporzprinzip das Prinzip der Bildung von großen Koalitionen: die Subkulturen werden nicht „irgendwie“, sondern proportional zu ihrer gesellschaftlichen Größe an der Entscheidungsfindung beteiligt.[22]

Einige Probleme können allerdings nicht durch proportionale Beteiligung aller Subkulturen in den entscheidungsfindenden Organen gelöst werden. Um solche Fälle zu lösen, ohne Mehrheitsentscheidungen treffen zu müssen, bei denen die Interessen einer Subkultur unberücksichtigt bleiben könnten, kann auf zwei weitere Methoden zurückgegriffen werden. Wenn verschiedene anstehende Entscheidungen miteinander verbunden werden und gleichzeitig getroffen werden, wobei alle Seiten Zugeständnisse machen müssen, spricht man von einer Paketlösung. Eine zweite Methode ist die Verzögerung von Entscheidungen. Wenn es unmöglich erscheint, in einer Angelegenheit eine Entscheidung zu treffen, ohne dabei die Interessen einer Minderheit zu verletzen, dann ist die Verzögerung einer Entscheidung sinnvoll. Dies kann beispielsweise erreicht werden, wenn Repräsentanten aller Subkulturen beauftragt werden, in einem Komitee oder einem Koalitionsausschuss gemeinsam Lösungsvorschläge auszuarbeiten. In solch einem Rahmen kommen häufig auch Paketlösungen zustande.[23]

Varianten des Proporzprinzips sind die Überrepräsentation und gleichstarke Repräsentation von numerische kleinen Subkulturen bei der Entscheidungsfindung. Besonders wenn eine Gesellschaft in zwei ungleiche Subkulturen geteilt ist, ist die gleichstarke Repräsentation der beiden Subkulturen ein wichtiges konkordanzdemokratisches Prinzip, da in einer solchen Gesellschaft das „Mehrheits-Minderheits-Problem” durch proportionale Beteiligung keineswegs gelöst wird.[24]

2.4 Die Autonomie der Subkulturen

Entscheidungen, die die ganze Nation betreffen, müssen von allen Subkulturen (möglichst durch ihre proportionale Beteiligung am Entscheidungsprozess) gemeinsam getroffen werden. Fragen oder Entscheidungen, die jedoch eine Subkultur allein betreffen, werden in Konkordanzdemokratien von dieser allein geregelt und ausgeführt. Die Autonomie der Subkulturen in solchen Fragen stärkt zusammen mit der proportionalen Verteilung der staatlichen Subventionen die Organisationen der Subkulturen. In diesem Sinne verstärkt Konkordanzdemokratie den heterogenen Charakter einer Gesellschaft, da Konkordanzdemokratie die sozialen Konfliktlinien anerkennt und gerade nicht versucht, sie zu schwächen.[25]

Föderalismus kann auch eine Form subkultureller Autonomie sein, da im Föderalismus die geographischen Einheiten eines Landes in Bezug auf bestimmte Fragen weitreichend autonom sind. Falls die sozialen Konfliktlinien eines Landes mit den regionalen Konfliktlinien übereinstimmen, die Subkulturen in geographischer Hinsicht also von einander isoliert leben, bietet sich Föderalismus als konkordanzdemokratische Lösung an. Besteht umgekehrt allerdings eine geographische Vermischung der Subkulturen, dann ist der Föderalismus als Form subkultureller Autonomie völlig ungeeignet. In solchen Fällen wird den Subkulturen die Autonomie nicht auf geographischer Ebene, sondern auf personeller Ebene übertragen.[26]

3. Lijpharts Konkordanzdemokratie begünstigende Faktoren

3.1 Isolation der Subkulturen

Wie bereits dargestellt wurde, dient Konkordanzdemokratie der Beibehaltung und Festigung der Einheit und politischen Stabilität in Ländern mit sozial segmentierten Gesellschaften. Das Bestehen einer sozial segmentierten Gesellschaft macht die Anwendung der konkordanzdemokratischen Prinzipien gleichsam erst notwendig.[27] Für die Anwendung von Konkordanzdemokratie ist es vorteilhaft, wenn die Subkulturen einer sozial segmentierten Gesellschaft voneinander isoliert leben. So werden Kontakte zwischen Mitgliedern der verschiedenen Subkulturen eingeschränkt, was die Wahrscheinlichkeit mindert, dass es zwischen den Subkulturen zu feindlichen Auseinandersetzungen kommt. Denn anders als in allgemein homogenen Gesellschaften, wo Kontakte zwischen verschiedenen Gruppen gegenseitiges Verständnis und Vertrauen aufbauen können, haben Kontakte zwischen den verschiedenen Gruppen einer segmentierten Gesellschaft das Potential, Feindlichkeiten auszulösen.[28]

Häufig haben die verschiedenen Subkulturen einer sozial segmentierten Gesellschaft vielerlei „eigene” Organisationen, was sich günstig auf die Anwendung von Konkordanzdemokratie auswirkt. Andererseits ermutigt und erleichtert ein konkordanzdemokratisches Prinzip, die Autonomie der Subkulturen, die Etablierung „eigener” Organisationen der Subkulturen. Das Bestehen „eigener” Organisationen der Subkulturen ist also sowohl ein Konkordanzdemokratie begünstigender Faktor als auch Konsequenz der Anwendung eines konkordanzdemokratischen Prinzips.[29]

3.2 Repräsentatives Mehrparteiensystem

In heterogenen Gesellschaften, in denen es freie Wahlen gibt, spiegeln sich die wesentlichen sozialen Konfliktlinien für gewöhnlich im Parteiensystem wider. Die Parteien sind das politische Sprachrohr der verschiedenen Subkulturen. Das Bestehen „eigener” Parteien der wesentlichen Subkulturen ist nach Lijphart ein weiterer Konkordanzdemokratie begünstigender Faktor.[30] Als politische Repräsentanten der Subkulturen sind die Parteien besonders gut geeignet, die Interessen der verschiedenen Subkulturen zu vertreten. Letztlich gehen aus den Reihen der Parteien auch die kooperierenden Eliten hervor. In Konkordanzdemokratien mit Föderalstruktur kann diese Funktion der Parteien auch durch die Repräsentanten der geographischen Einheiten ersetzt bzw. ergänzt werden.

In Zusammenhang mit den für Konkordanzdemokratie günstigen Gesellschaftskonstellationen, die unter 3.3 genauer dargestellt werden, bedeutet dies, dass ein moderates Mehrparteiensystem mit relativ wenig relevanten[31] Parteien für die Konkordanzdemokratie am geeignetsten ist.[32] Es ist allerdings wichtig, dass keine der Parteien über die absolute Mehrheit verfügt. Falls es in einer Gesellschaft jedoch nur zwei wichtige Subkulturen gibt, oder fünf und mehr Subkulturen, dann ist ein moderates Mehrparteiensystem nicht passend. In solchen Fällen würden ein Zweiparteiensystem oder ein extremes Mehrparteiensystem Konkordanzdemokratie eher begünstigen, als ein unpassendes moderates Mehrparteiensystem. Obwohl ein moderates Mehrparteiensystem für die Anwendung der konkordanzdemokratischen Prinzipien also sehr günstig wäre, ist es dennoch am wichtigsten, dass alle wichtigen Subkulturen durch politische Parteien repräsentiert werden.[33]

3.3 Minderheitsstatus aller Subkulturen

Wenn davon ausgegangen wird, dass sich die numerische Stärke einer Subkultur in einer sozial segmentierten Gesellschaft in das Wahlergebnis einer „zugehörigen” Partei übersetzen lässt und dies sich wiederum in Parlamentssitze, dann begünstigt das Bestehen mehrerer, numerisch ungefähr gleichstarker Subkulturen Konkordanzdemokratie eher, als das Bestehen zweier, numerisch ungefähr gleichstarker Subkulturen oder das Bestehen einer Subkultur, die sich numerisch deutlich in der Mehrheit befindet. Denn wenn eine Subkultur die numerische Mehrheit hat, neigt deren politische Elite eher dazu, die Minderheit oder die übrigen Minderheiten zu beherrschen, als mit deren Eliten zu kooperieren. Ebenso ist es wahrscheinlich, dass in einer Situation, in der zwei Subkulturen numerisch gleich stark sind, die Eliten beider Subkulturen versuchen, die absolute Mehrheit zu gewinnen. Wenn es in einer Gesellschaft jedoch mehrere numerisch ungefähr gleich große Subkulturen gibt, alle Subkulturen also Minderheitsstatus haben, dann ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass eine Subkultur versuchen wird, die anderen zu beherrschen, bzw. dass ihr dies überhaupt möglich erscheint.[34]

Das Bestehen von relativ wenig Subkulturen begünstigt Konkordanzdemokratie eher als das Bestehen von zu vielen Subkulturen, denn je mehr Gruppen miteinander verhandeln müssen, um so schwerer gestalten sich die Verhandlungen. Lijphart nennt daher drei oder vier Subkulturen als die günstigste Anzahl.[35] Weiterhin spielt die numerische Stärke der größten Subkultur eine wichtige Rolle. Wenn die größte Subkultur so groß ist, dass sie fast die absolute Mehrheit hat oder es der politischen Elite dieser Subkultur möglich erscheint, die absolute Mehrheit zu gewinnen, dann ist dies ungünstig. Wenn die numerische Stärke der Subkulturen hingegen ausgewogen ist, begünstigt dies die Anwendung von Konkordanzdemokratie.[36]

3.4 Die Nation verbindende Elemente

Die Spannungen in einer heterogenen Gesellschaft können gemildert werden, wenn es Elemente gibt, mit denen sich alle Subkulturen identifizieren und durch die sie miteinander verbunden sind. Ein moderater Nationalismus oder eine Monarchie können beispielsweise solch verbindende Elemente sein. Wenn die verschiedenen Subkulturen nun durch ein oder mehrere Elemente miteinander verbunden sind, dann begünstigt dies die Anwendung von Konkordanzdemokratie.[37]

3.5 Traditionell kooperatives Verhalten der Eliten

Lijphart zählt auch ein traditionell kooperatives Verhalten der Elite zu den Konkordanzdemokratie begünstigenden Faktoren. Es gehört zu den Methoden der Konkordanzdemokratie, dass auf der Ebene der politischen Elite Lösungen für die gesellschaftlichen Konflikte gütlich ausgehandelt werden und nicht durch die Anwendung des Mehrheitsprinzips gelöst werden. Wenn es in einem Land eine „Tradition” gibt, nach der Konflikte durch gütliche Einigung und Kompromissbildung und nicht durch Mehrheitsentscheide beigelegt wurden, dann ist dies ein Faktor, der ein kooperatives Verhalten der Eliten auch in der Gegenwart begünstigen kann.[38]

3.6 Die Größe des Landes und der Bevölkerung

Nach Lijphart ist Konkordanzdemokratie in relativ kleinen Ländern mit relativ kleiner Bevölkerung leichter zu praktizieren als in größeren Ländern mit größerer Bevölkerung. Kleine Länder haben in Bezug auf die Anwendung von Konkordanzdemokratie vielerlei Vorteile:

Für gewöhnlich ist die politische Elite eines kleineren Landes sich vertrauter als dies in einem größeren Land der Fall wäre. Auch die Möglichkeiten, sich häufiger zu treffen stehen in einem kleineren Land besser. Daher gelingt es der politischen Elite eines kleineren Landes wahrscheinlich leichter, Konflikte gütlich auszuhandeln, als dies in einem größeren Land der Fall wäre.[39]

Weiterhin besteht in kleineren Ländern eher ein Gefühl der Bedrohung durch andere Länder. Gefühle der Verletzlichkeit und Bedrohung sind hinsichtlich der Anwendung von Konkordanzdemokratie insofern positiv einzuschätzen, als dass sie zwischen den Subkulturen und den Mitgliedern der Eliten Solidarität schaffen. Die politische Elite ist geneigt zu kooperieren und die Massen, die durch die Eliten repräsentiert werden, sind bereit, die Kooperation der Eliten zu akzeptieren.[40]

Durch die Anwendung von Konkordanzdemokratie wird versucht, die politische Stabilität und Einheit sozial segmentierter Gesellschaften zu erhalten. Allein die Prozesse der Entscheidungsfindung in Konkordanzdemokratien sind für die betroffene politische Elite eine große Belastung. Daher sollten weitere potentielle Belastungen eingeschränkt werden. Hieraus ergibt sich ein weiterer Vorteil kleinerer Länder, da es in kleineren Ländern normalerweise eine geringere Anzahl an Interessengruppen gibt, deren Anliegen in Betracht gezogen werden müssen, als in größeren Ländern.[41]

Ein letzter Vorteil kleiner Länder besteht darin, dass sie für gewöhnlich weniger intensiv in die internationale Politik verwickelt sind bzw. eine weniger aktive Außenpolitik betreiben, und daher auch weniger Entscheidungen in diesem schwierigen Bereich treffen müssen, das heißt, in diesem Bereich ist das Konfliktpotential normalerweise vergleichsweise gering.[42]

4. Die Niederlande

4.1 Konkordanzdemokratie begünstigende Faktoren in den Niederlanden

4.1.1 Isolation der Säulen in den Niederlanden

Die gegenseitige Isolation der Subkulturen in den Niederlanden wird durch den Begriff der „Versäulung“, der von niederländischen Soziologen geprägt wurde, bildhaft deutlich gemacht. Religiös und ideologisch voneinander getrennte Subkulturen existieren in sogenannten Säulen nebeneinander, ohne dass zwischen ihnen ein hohes Maß an Kommunikation oder sozialer Interaktion besteht. Trotz der gegenseitigen Isolation stützen die Säulen ein gemeinsames Dach: den Staat der Niederlande.[43] Jede Säule hat eine eigenständige Struktur von gesellschaftlichen und politischen Organisationen und Institutionen herausgebildet. Wie noch dargestellt werden wird, findet sich die Versäulungsstruktur im Parteiensystem, im Gewerkschafts- und Verbändebereich, in der Presse und in den Massenmedien, im Bildungssystem und sogar im sportlichen und kulturellen Bereich wieder.[44]

Die niederländische Bevölkerung wird durch Religionszugehörigkeit und durch die Klassenstruktur geteilt. Die beiden religiösen Säulen sind die Katholiken und die Protestanten. Der Katholizismus und der Protestantismus hält Mitglieder aller sozialer Klassen in der jeweiligen Säule zusammen. Die säkulare Bevölkerung wird durch keine derartig bindende Kraft zusammengehalten, so dass sie ebenfalls in zwei Säulen organisiert ist, in einer sozialdemokratischen und in einer liberalen Säule.[45] Steininger argumentiert, dass man eigentlich nicht von einer liberalen Säule sprechen könne, da die Liberalen nur über ein sehr kleines Netzwerk angegliederter Organisationen verfügten.[46] Trotzdem sind die Liberalen Teil der Versäulungsstruktur und werden in der vorliegenden Arbeit als Säule bezeichnet.

Die Versäulung in den Niederlanden entstand zwar erst im 19. Jahrhundert im Zuge der fortschreitenden Demokratie- und Parteienentwicklung[47], ihre Wurzeln weisen jedoch weit zurück in die Geschichte. Der katholisch-protestantische Konflikt entstand zur Zeit der Reformation und gewann seine Entschiedenheit und Unduldsamkeit aus der Verschränkung von religiöser Überzeugung und politischem Befreiungskampf.[48]

Nicht nur zwischen Katholiken und Protestanten, sondern auch innerhalb des Protestantismus entstanden schon früh starke Gegensätze. Auf der einen Seite standen die Orthodoxen, die starken Nachdruck auf die wahre Lehre und eine Kirche der wahren Gläubigen legten, auf der anderen Seite die Freisinnigen, die mehr die Einheit der Kirche bei gleichzeitiger Freiheit der Überzeugung betonten. Im 19. Jahrhundert kam es auf dem Hintergrund dieser alten theologischen Auseinandersetzungen schließlich zur Spaltung des niederländischen Protestantismus in die Gereformeerde Kerk (die orthodoxen Protestanten), die Hervormde Kerk (die freisinnigen Protestanten) und eine Anzahl kleiner orthodoxer Denominationen.[49] Aufgrund dieser Spaltung des niederländischen Protestantismus, die bis heute besteht, ist es auch nicht ganz klar, ob man von einer oder von zwei protestantischen Säulen sprechen soll. Für einige Aktivitäten bzw. Bereiche gibt es nur eine protestantische Organisation, für andere jedoch zwei oder mehrere Organisationen.[50]

Die orthodoxen Protestanten waren die ersten, die damit begannen, sich weitreichend zu organisieren. Um 1840 entstand unter der Leitung Groen van Prinsterers die antirevolutionäre Bewegung, die sich gegen die Hervormde Kerk und zugleich gegen die gesamte geistesgeschichtlich-politische Entwicklung des 19. Jahrhunderts richtete[51] und die Emanzipation der orthodoxen Protestanten, die als „kleine Leute“ galten, bezweckte.[52] 1872 gründete Abraham Kuyper die Zeitung „De Standaard”, die zum Propagandainstrument der Antirevolutionären wurde. 1878 organisierte er eine Massenbewegung gegen das damalige Schulgesetz und verfasste schließlich ein Programm, auf dessen Grundlage 1879 die erste niederländische Partei, die Anti-Revolutionaire Partij (ARP), gegründet wurde. Um 1890 begann die Einheit der Partei zu zerbrechen und es kam zu mehreren Abspaltungen. 1908 schlossen sich einige kleinere Gruppen zur Christelijk-Historische Unie (CHU) zusammen. Während die ARP die Partei der Mitglieder der Gereformeerde Kerk war, gehörten die Anhänger der CHU eher der Hervormde Kerk an. Im politischen Bereich blieben diese beiden Parteien die eigentlichen Vertreter des orthodoxen Protestantismus.[53]

Was gesetzliche Regelungen betraf, war die Diskriminierung der Katholiken seit 1795 beendet. Faktisch allerdings blieben Reste der Diskriminierung bestehen. Die protestantische Kirche blieb die einzig offiziell anerkannte Kirche. Eine Auflockerung dieses Verhältnisses erreichten die Katholiken mit Hilfe der Liberalen, die bis zur Jahrhundertswende die beherrschende Kraft in der niederländischen Politik waren. Auch in der Schulfrage unterstützten die Katholiken zunächst die Liberalen. Diese Zusammenarbeit zwischen Katholiken und Liberalen wurde 1868 beendet, als Papst Pius IX. den Liberalismus und die niederländischen Bischöfe die liberale Schulpolitik verurteilten. Es folgte eine auf die Schulfrage begrenzte Phase der Zusammenarbeit zwischen Katholiken und den orthodoxen Protestanten.[54] 1906 gelang es dem Episkopat im Einvernehmen mit den katholischen Parlamentariern jedoch, den Versuch einer Öffnung des katholischen Blocks und eine uneingeschränkte Zusammenarbeit mit den Protestanten zu verhindern. So entstand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei den Katholiken das Bedürfnis, sich in eine offensive Isolation zurückzuziehen. Eine geschlossene katholische Partei wurde allerdings erst 1926 gegründet: die Rooms-Katholieke Staatspartij (RKSP), die nach dem II. Weltkrieg als Katholieke Volkspartij (KVP) wiederauflebte. Trotz starker interner Gegensätze hatten die Katholiken weniger unter politischer Zersplitterung zu leiden als die Protestanten.[55]

Die Industrialisierung setzte in den Niederlanden erst zwischen 1860 und 1870 ein. Die Arbeiterbewegung entwickelte sich entsprechend spät. 1871 entstand der erste weltanschaulich neutrale Arbeiterbund, der Algemeen Nederlands Werkliedenverbond (ANWV), der Organisationen unterschiedlicher Wirtschaftssektoren umfasste. Aufgrund dieser heterogenen Struktur war der ANWV von Anfang an kaum zur Ausarbeitung einer einheitlichen und von allen Gruppen akzeptierten Gewerkschaftsstrategie fähig. Die Einheit des ANWV als zentrale Dachorganisation aller niederländischen Gewerkschaften blieb daher nicht lang bestehen. Da der ANWV für das konfessionslose öffentliche Schulwesen eintrat, formierte sich innerhalb des ANWV eine Gruppe orthodox-protestantischer Arbeiter, die ihre Mitglieder 1877 schließlich dazu aufforderte, den ANWV zu verlassen. Auch eine Gruppe sozialdemokratischer Mitglieder verließ 1881 den ANWV, um anschließend den Sozial-Demokratischen Bund (SDB) zu gründen. Der Austritt dieser beiden Gruppen war der Beginn der Fragmentierung der niederländischen Gewerkschaftsbewegung. Spätestens von 1877 an entwickelten sich drei unterschiedliche Gewerkschaftsbewegungen, nämlich eine protestantische, eine katholische und eine sozialdemokratische.[56]

Die erste protestantische Gewerkschaft entstand 1877.[57] 1909 wurde der protestantische Christlich-Nationale Gewerkschaftsbund (CNV) gegründet. Zwischen dem CNV und der ARP bestanden von Beginn an enge personelle Verbindungen.[58]

Die katholische Gewerkschaftsbewegung entwickelte sich aufgrund der Vorbehalte der kirchlichen Hierarchie gegenüber einer eigenständigen Interessenvertretung der katholischen Arbeiter nur sehr langsam. Nachdem sich katholische Arbeiter jedoch interkonfessionellen oder sozialdemokratischen Gewerkschaften angeschlossen hatten, und das bischöfliche Dekret von 1906 die Zusammenarbeit mit Protestanten untersagt hatte, konnte die Kirche die Notwendigkeit einer eigenständigen katholischen Gewerkschaftsorganisation nicht mehr bestreiten. Dennoch wurde der Römisch-Katholische Arbeiterbund (RKWV) erst 1924 gegründet. Er wurde vollständig in das kirchlich dominierte Netz von Vereinen, Standesorganisationen und Institutionen des niederländischen Katholizismus integriert.[59] 1964 wurde der RKWV durch den Nederlands Katholieke Vakverbond (NKV) als neuem katholischen Gewerkschaftsbund abgelöst.[60]

Auf politischen Gebiet begannen die Sozialdemokraten sich ab 1881 durch die Gründung des linksradikalen Sociaal-Democratischen Bond (SDB) zu organisieren.[61] Als sich innerhalb des SDB zunehmend antiparlamentarische und revolutionäre Strömungen durchsetzen konnten, wurde 1894 als reformerische Bewegung die Sociaal-Democratische Arbeiders Partij (SDAP) gegründet.[62] Nach Ende des II. Weltkrieges wurde eine Nachfolgepartei, die Partij van de Arbeid (PvdA), gegründet.[63] Der Dualismus von revolutionärer und reformerischer Strömung fand sich auch im Bereich der Gewerkschaften wieder. Aufgrund eines 1903 fehlgeschlagenen Eisenbahnerstreiks konnte sich die reformerische Strömung durchsetzen. 1905 schlossen sich mehrere pragmatisch orientierte Einzelgewerkschaften im sozialdemokratischen Gewerkschaftsverband Nederlands Verbond van Vakvereinigingen (NVV) zusammen. Der NVV arbeitete eng mit der SDAP zusammen und konnte daher stark in die Politik hineinwirken.[64]

[...]


[1] Vgl. Lijphart, 1977

[2] Vgl. Michalsky, 1991:53f

[3] Mit „differenzierter Rollenstruktur” ist gemeint, dass Parteien, Interessengruppen, die Medien etc. autonom sind und nicht in die Subkulturen eingebettet, wie dies im kontinentaleuropäischen Typ der Fall ist, vgl. Lijphart, 1969:207

[4] Der Begriff „angloamerikanisch” bezieht sich nicht auf die geographische Lage eines politischen Systems, vgl. Lijphart, 1969:207f

[5] Vgl. Lehmbruch, 1995:351f

[6] Vgl. Daalder, 1984:97f und Obler, Steiner, Dierickx, 1977:5

[7] Vgl. Lijphart, 1969:211

[8] Vgl. Daalder, 1974:605

[9] Vgl. McRae, 1974:3f

[10] Vgl. Lijphart, 1977

[11] Vgl. Andeweg, 2000:512

[12] Vgl. Lijphart, 1977:53f

[13] Lijphart geht nicht näher darauf ein, was eine Subkultur „wichtig“ macht. Es ist allerdings anzunehmen, dass mit der Wichtigkeit vor allem die numerische gesellschaftliche Größe gemeint ist.

[14] Vgl. Lijphart, 1977:25f

[15] Daneben gibt es weitere Definitionen, z.B. von William H. Riker und William A. Gamson, vgl. De Swaan, 1982:231. Der Klassifizierung von „minimal winning coalitions“ liegt in dieser Arbeit allerdings De Swaans Definition zu Grunde.

[16] Vgl. Lijphart, 1977:28

[17] Vgl. Lijphart, 1977:29f

[18] Vgl. Lijphart, 1977:25

[19] Vgl. Lijphart, 1977:36

[20] Vgl. Lijphart, 1977:37

[21] Vgl. Lijphart, 1977:38

[22] Vgl. Lijphart, 1977:38f

[23] Vgl. Lijphart, 1977:39f

[24] Vgl. Lijphart, 1977:40f

[25] Vgl. Lijphart, 1977:41

[26] Vgl. Lijphart, 1977:42f

[27] Die Anwendung der konkordanzdemokratischen Prinzipien bringt durchaus auch Nachteile mit sich. Daher ist es für Länder mit homogener Gesellschaftsstruktur sinnvoller, Entscheidungen anhand des für Konkurrenzdemokratien charakteristischen Mehrheitsprinzips zu treffen. Für eine ausführliche Diskussion der Nachteile von Konkordanzdemokratie vgl. Lijphart, 1977:47-53.

[28] Vgl. Lijphart, 1977:88

[29] Vgl. Lijphart, 1977:89

[30] Vgl. Lijphart, 1977:61 und 83-87

[31] Als „relevant” gilt eine Partei, wenn sie für die Regierungsbildung auf Grund ihrer Stärke bei den Wahlen oder einer gewissen Dauer im System eine Rolle spielen kann, vgl. Beyme, 1995:514

[32] Vgl. Lijphart, 1977:62

[33] Vgl. Lijphart, 1977:64

[34] Vgl. Lijphart, 1977:55

[35] Vgl. Lijphart, 1977:56

[36] Vgl. Lijphart, 1977:57f

[37] Vgl. Lijphart, 1977:81-83

[38] Vgl. Lijphart, 1977:99-103

[39] Vgl. Lijphart, 1977:65

[40] Vgl. Lijphart, 1977:66f

[41] Vgl. Lijphart, 1977:68

[42] Vgl. Lijphart, 1977:69

[43] Vgl. Lepszy, 1999:343

[44] Vgl. Lepszy und Woyke, 1985:162

[45] Vgl. Lijphart, 1975:16 und 23

[46] Vgl. Steininger, 1975:98

[47] An dieser Stelle wird im Zusammenhang mit der Entstehung der Versäulungsstruktur auch kurz auf die Entstehung der Versäulungsparteien eingegangen. In Abschnitt 4.1.2 werden das niederländische Parteiensystem, die Wahlergebnisse und das Wahlverhalten der Niederländer ausführlich dargestellt.

[48] Vgl. Steininger, 1975:62f

[49] Vgl. Steininger, 1975:65f

[50] Vgl. Andeweg und Irwin, 1993:31

[51] Vgl. Steininger, 1975:82f

[52] Vgl. Andeweg und Irwin, 1993:50

[53] Vgl. Steininger, 1975:84f

[54] Vgl. Lepszy, 1979:48f

[55] Vgl. Steininger, 1975:88f

[56] Vgl. Lepszy, 1979:66-69

[57] Vgl. Lepszy, 1979:70

[58] Vgl. Lepszy, 1979:73

[59] Vgl. Lepszy und Woyke, 1985:139f

[60] Vgl. Lepszy, 1979:81

[61] Vgl. Steininger, 1975:94

[62] Vgl. Lepszy, 1979:49

[63] Vgl. Lepszy und Woyke, 1985:122

[64] Vgl. Lepszy und Woyke, 1985:137

Excerpt out of 85 pages

Details

Title
Von der Konkordanzdemokratie zur Konkurrenzdemokratie? Die Niederlande und Israel im Vergleich
College
Carl von Ossietzky University of Oldenburg  (Institut für Politikwissenschaft I)
Grade
Sehr gut
Author
Year
2002
Pages
85
Catalog Number
V13326
ISBN (eBook)
9783638190121
ISBN (Book)
9783638698689
File size
649 KB
Language
German
Keywords
Israel, Niederlande, Demokratie, Politik, Konkordanzdemokratie, Konkurrenzdemokratie, Veränderungen
Quote paper
Mareike Finck (Author), 2002, Von der Konkordanzdemokratie zur Konkurrenzdemokratie? Die Niederlande und Israel im Vergleich, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/13326

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