Nach einem kurzen Formkapitel sollen im Folgenden die verschiedenen Ebenen der im Narzisslied dargestellten Realität analysiert werden: Welche Bedeutung haben diese jeweils für das Verhältnis von Sänger und Minnedame? Welches Geschlechterverhältnis lässt sich darin erkennen? Inwiefern bemüht sich Morungen um eine Einhaltung der Minnesangkonvention, versucht er diese zu umgehen? Besonderes Augenmerk liegt außerdem auf dem Narzisslied als Produkt der Retextualisierung. Dafür soll die Analyse auch immer im Spiegel der ovidianischen Textvorlage und der dort dargestellten Figurencharakterisierung betrachtet werden.
Ein junger Mann, der von allen begehrt wird, dem zuletzt aber nur er selbst genügt, der sich selbst verfällt und daran zugrunde geht; eine Verwandlung, eine Metamorphose, die vermeintliche Erlösung vom Leiden bringt – der antike Mythos von Narcissus, zuerst verfasst in den Metamorphoses Publius Ovidius Nasos († ca. 17 n. Chr. in Tomis) , fand durch Heinrich von Morungens († ca. 1220 in Leipzig) vierstrophiges Lied Mir ist geschehen als einem kindelîne, einer Nachempfindung des provenzalischen Liedes Aissi m’ave cum al petit, auch Eingang in den Kanon deutschsprachigen Minnesangs. Darin verflechtet der höfische Dichter das Narzissmotiv von ungebrochener Liebe, die in Leid und Tod endet, mit den basalen Konzepten der hohen Minne. Als zu den „am meisten besprochenen Werken Morungens“ zählendes Werk ist das Narzisslied ein besonderes: Im klassischen Minnesang finden sich Antikereferenzen mit eindeutigen Figurenzuschreibungen, trotz der hohen Faszination vieler Dichter für die Werke Ovids und Vergils, nur sehr spärlich – auch, weil beim Publikum kaum breites Wissen über die Figuren und Details der Mythen vorausgesetzt werden konnte. Der Verweis auf den Narzissmythos bleibt allerdings auch bei Morungen inexplizit. Weder spricht der Autor aus, dass es sich bei der von ihm gezeichneten Szenerie um eine Retextualisierung handelt, noch taucht der Name Narziss im Lied auf: Morungen liefert zwar eine kulturelle Referenz für Kenner*innen antiker Mythologie, die sofort verstanden wird, sofern die ovidianische Vorlage bekannt ist; er macht die Kenntnis des Prätextes aber eben nicht zur Voraussetzung des Textverständnisses – eine für die Zeit der höfischen Literatur zumindest beachtenswerte Kunstauffassung.
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG.
- 2. GRUNDSÄTZLICHES ZUM NARZISSLIED.
- 3. REALITÄTSSPHÄREN UND WEIBLICHKEIT BEI MORUNGEN
- 3. ZUSAMMENFASSUNG
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Seminararbeit befasst sich mit dem Narzisslied Heinrichs von Morungen, einem bedeutenden Werk des Minnesangs, das die antike Mythologie von Narcissus mit den Konzepten der hohen Minne verbindet. Die Arbeit analysiert die Darstellung von Realitäts- und Geschlechterverhältnissen im Lied, insbesondere im Kontext des Narzissmythos, und untersucht Morungens Umgang mit den Konventionen des Minnesangs.
- Retextualisierung des Narzissmythos im Minnesang
- Darstellung von Realitäts- und Geschlechterverhältnissen
- Analyse des Verhältnisses von Sänger und Minnedame
- Umgang mit den Konventionen des Minnesangs
- Metrische und sprachliche Bezüge zu Ovids Metamorphosen
Zusammenfassung der Kapitel
- Kapitel 1: Einleitung: Die Einleitung stellt das Narzisslied Heinrichs von Morungen im Kontext des Minnesangs vor und erläutert die Relevanz des Mythos von Narcissus für das Werk.
- Kapitel 2: Grundsätzliches zum Narzisslied: Dieses Kapitel analysiert die formale Gestaltung des Liedes, stellt den Text und die Übersetzung des Liedes vor und beleuchtet die sprachlichen und metrischen Besonderheiten.
- Kapitel 3: Realitäts- und Geschlechterverhältnisse: Dieses Kapitel untersucht die verschiedenen Ebenen der im Lied dargestellten Realität und analysiert die Beziehung zwischen Sänger und Minnedame sowie das Geschlechterverhältnis, das im Werk vermittelt wird.
Schlüsselwörter
Minnesang, Narzisslied, Heinrich von Morungen, Ovid, Metamorphosen, hohe Minne, Geschlechterdifferenz, Realitätsverlust, Retextualisierung, Kulturerinnerung, höfische Literatur, konventionalisierte Formen, metrische Hommage, daktylische Fünf- und Sechsheber, elegische Distichen, Daktylische Hexameter.
- Citar trabajo
- Thies J. Hansberg (Autor), 2022, Realitätsverlust und Geschlechterdifferenz im "Narzisslied" Heinrichs von Morungen, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1337243