Widerstreit der Gesetze

Das Medien-Dilemma in Kafkas 'In der Strafkolonie'


Hausarbeit, 2009

24 Seiten

Anonym


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Deutungslinien
2.1 Deportationsdebatte und Weltkrieg
2.2 Religion
2.3 Recht
2.4 Technik
2.5 Literatur

3 Das Medium Maschine
3.1 Handschrift vs. Schreibmaschine
3.2 Schreiben vs. Abschreiben
3.3 Großer Lärm
3.4 Der Wendepunkt

4 Antinomie und Paradox
4.1 Die Paradoxien in der »Strafkolonie«
4.2 Die Logik der Antinomie
4.3 Die Antinomie in der »Strafkolonie«
4.4 Maschine defekt – Literatur perfekt

5 Schluss

Literaturverzeichnis

KAPITEL 1 Einleitung

Aber es tut gut, wenn das Gewissen breite Wunden bekommt, denn dadurch wird es empfindlicher für jeden Biß. Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit ei-nem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch?1

(Franz Kafka)

Kafka interpretieren bedeutet in vielen Fällen Eulen nach Athen tragen. Und schlimmer noch: Ständig läuft man Gefahr, dass sich das gute Tier als Kauz entpuppt. Und wenn dann noch alle Wege nach Rom führen, ist es um die Interpretation geschehen.

Dennoch möchte ich mich in dieser Arbeit mit Kafkas Erzählung »In der Strafkolonie« auseinandersetzen, die sicherlich in die Kategorie »Faust-schlag« gehört. Im Zentrum der Arbeit soll eine poetologische Interpre­tation stehen, die versucht die Bedeutung des »Mediums Maschine« zu beleuchten. Dabei werde ich der Analyse der von WOLF KITTLER be-schriebenen Antinomie des »Urteil[s] über alle Urteile«2 besondere Auf-merksamkeit schenken. Vorangestellt ist ein Überblick über ausgewählte Interpretationsansätze der Literaturwissenschaft.

KAPITEL 2 Deutungslinien

Nun besteht die Gefahr, daß wir auch etwas völlig Sinnlosem einen Sinn unterlegen können, einen Sinn, der nicht in der Erzählung liegt, sondern im Deuter. Jede Deutung von Kunstwerken ist die-ser Gefahr ausgesetzt und es wäre unaufrichtig, wenn wir das ver-schweigen wollten.1

(Walter Biemel)

Zu Kafkas Strafkolonieist geradezu ein Krieg der Interpretationen aus-gebrochen. Wie viele Texte Kafkas, lädt »In der Strafkolonie« durch seine Widersprüchlichkeit ein zur Interpretation, insbesondere auch zu wider-sprüchlichen Interpretationen.

Die Deutungswut aller Beteiligten, eingeschlossen der Leser, wird gerade durch den kalkulierten Sinnzersetzungsprozeß der zentralen Begriffe ange-stachelt. Gerade die pedantisch - ausführlichen Erklärungen des Offiziers in der >Strafkolonie< wie auch die Präzision der Texte Kafkas überhaupt verleiten zu der Hoffnung, eine sichere Deutungsbasis etablieren zu kön-nen.2

Um es vorweg zu nehmen: Diese Hoffnung wird nicht erfüllt werden. Deshalb möchte ich, ohne auf die chronologische Abfolge einzelner Positio-nen verschiedener Interpreten einzugehen, wie es Peter Höfle vornimmt3, im Folgenden einige der vorgeschlagenen Deutungslinien vorstellen.

2.1 Deportationsdebatte und Weltkrieg

HARALD NEUMEYER bezeichnet den Ort, den Kafka in »In der Straf-kolonie« beschreibt, als das »Land der Paradoxa« und zitiert damit den Forschungsreisenden Robert Heindl, der im Jahr 1912 seinen Reisebericht

»Meine Reise nach den Strafkolonien« veröffentlicht4. Zur Zeit Kafkas ist die Deportation, die insbesondere von England, Russland und Frankreich praktiziert wurde5, umstritten. WALTER MÜLLER-SEIDEL nimmt an, dass Kafka die Diskussion zu den Strafkolonien wenigstens durch das Buch von Robert Heindl bekannt war6. Heindl stellt darin fest, dass die Deportation kein geeignetes Mittel der Bestrafung ist7.

HANS DIETER ZIMMERMANN geht in seiner Interpretation noch einen Schritt weiter: Er betont, dass Kafka »diese Erzählung im Oktober 1914 kurz nach Ausbruch des Weltkriegs«8 schrieb. Weiter heißt es:

So bleibt die Frage: wo sonst werden mit raffinierter Technik konstruierte Apparate zum einzigen Zweck der Folterung und Ermordung von Men-schen benutzt? Im Krieg! Der Erste Weltkrieg setzte zum ersten Mal eine gigantische Tötungsmaschinerie in Gang, die den gesamten Kriegsverlauf bestimmte. Zum ersten Mal kam diese Verbindung von technischer Ratio-nalität und äußerster Barbarei zustande, die der Offizier in der Strafkolo-nie anpreist. [... ] Hier im modernen Krieg gilt die Formel, die der Offizier nennt: >>Die Schuld ist immer zweifellos.9

»In der Strafkolonie« lässt sich also als Kommentar sowohl zur Depor-tationsdebatte, als auch zum beginnenden Ersten Weltkrieg lesen.

2.2 Religion

Wie still wird dann aber der Mann um die sechste Stunde! Verstand geht dem Blödesten auf.10

Die theologische Interpretation vermutet hinter der »sechsten Stunde« ei-ne Anspielung auf die Marter Jesu. Die sechste Stunde »ist die dunkle Zeit der Ferne Gottes«11. Der Text wird verstanden als Gottesgericht, der Offizier wäre damit Moses, der erste Gesetzgeber Gottes. Die Rolle des ab-wesend anwesenden Gottes übernimmt der alles in sich vereinende frühere Kommandant12:

Hat er denn alles in sich vereinigt? War er Soldat, Richter, Konstrukteur, Chemiker, Zeichner?13

Es finden sich weitere Anspielungen, z.B. das Händewaschen als biblische Geste des Pilatus zur Bezeugung seiner Unschuld14 oder die

Prophezeiung, daß der Kommandant nach einer bestimmten Anzahl von Jahren auferstehen und aus diesem Hause seine Anhänger zur Wiederer-oberung der Kolonie führen wird.15

Dem Begriff der »Erkenntnis« wird in dieser Deutungslinie besondere Be-deutung beigemessen16.

HANS HELMUT HIEBEL merkt jedoch an, dass ungeklärt bleibt, wie dieser Ansatz mit der sarkastisch-satirischen Perspektive der Erzählung vereinbar ist.17

2.3 Recht

Ein Aufeinanderprallen verschiedener Rechtssysteme in einem literarischen Werk, geschrieben von einem Juristen: Der Leser wird geradezu gezwungen diesem Aspekt besondere Aufmerksamkeit zu schenken.

Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, S. 219.

HIEBEL erkennt in dem Rechtssystem des alten Kommandanten den »Bezug zu den frühen Despotien, den magische-klerikalen Fürstentümern des Mittelalters und zum Absolutismus«18. Legislative, Judikative und Exekutive fallen in der Person des früheren Kommandanten zusammen. Demgegenüber steht »das moderne räsonierende und abwägende Gerichts-verfahren«19, das der Forschungsreisende vertritt.

KITTLER macht auf die Bedeutung der Maschine für das Rechtssystem aufmerksam20. BIEMEL betont, dass das Rechtssystem in der Maschine auf den Strafvollzug reduziert wird21. Er spricht von der »totale[n] Perversion der Idee der Gerechtigkeit.«22

2.4 Technik

In einem »Wettlauf um die ›zwingendste Vorlage‹«23 für Kafkas Folterap-parat hat die Forschung von der Hobelmaschine über den Phonographen bis hin zur Sortiermaschine für Kaffeebohnen die verschiedensten Appa-rate in Erwägung gezogen.24 Bei näherer Betrachtung scheinen mir die von KITTLER vorgeschlagene Dupliziermaschine25 sowie die von BENNO WAGNER verteidigte Hollerith Maschine26 in Aufbau und Funktion Kaf-kas »eigentümliche[m] Apparat« am nächsten zu kommen.

WALTER BAUER-WABNEGGS Reduktion des Folterapparats auf ein Ab-bild einer einzigen Vorlage:

Der >>Apparat<< der >>Strafkolonie<< ist nämlich nichts anderes als eine Du-pliziermaschine, wie Wolf Kittler zweifelsfrei nachgewiesen hat.27,28

erscheint mir zu einseitig und absolut. Kafka hat sich offensichtlich Teile von unterschiedlichen Geräten geliehen und daraus seinen eigenen Apparat konstruiert.

2.5 Literatur

Schreiben bedeutet für Kafka die Reflexion über den eigenen Schreib-prozeß, bei dem er mit kreischenden Lauten, mißtönenden Wörtern und sperrigen Sätzen auf der Bühne des Schreibtischs mit Feder, Papier und Tinte kämpft.29

So formuliert es KLAUS MLADEK in seiner Interpretation von Kafkas »In der Strafkolonie«. Aber diese Beobachtung lässt sich nicht nur beim Lesen der »Strafkolonie« machen: In vielen Texten Kafkas spielen Brie-fe oder überhaupt Botschaften eine wichtige Rolle (bspw. »Der Heizer«, »Das Urteil«, »Die kaiserliche Botschaft« uvm.). Eine poetologische Inter­pretation wird dort sehr schnell augenfällig. In der »Strafkolonie« ergibt sich die poetologische Deutungslinie durch die Maschine, die gleichzeitig Schreibwerkzeug ist.

Weitere Hinweise gibt Kafka dem Leser durch seine Wort- und Buch-stabenspiele: Die Maschine ist der verlängerte Arm des Offiziers30 in Uni-form31, der der letzte Vertreter der Ideen des früheren Kommandanten32 ist. Die Erzählung spielt in den Tropen33 und Offizier und Reisender spre-chen Französisch34.

HANS DIETER ZIMMERMANN: >>[... ] und es kann wohl kein Zweifel darüber sein, daß das Erlebnis des Kriegsbeginns in diese Erzählung eingegangen ist [... ]<< Siehe ZIM-MERMANN: In der Strafkolonie - Die Täter und die Untätigen, S. 165f.

[...]


1 FRANZ KAFKA; HANS-GERD KOCH (Hrsg.): Briefe 1900–1912. New York: S. Fischer, 1999, Franz Kafka: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, S. 36.

2 WOLF KITTLER: Schreibmaschinen, Sprechmaschinen. Effekte technischer Medien im Werk Franz Kafkas. In: WOLF KITTLER und GERHARD NEUMANN (Hrsg.): Franz Kafka: Schriftverkehr. Freiburg: Rombach Verlag, 1990, S. 136.

1 WALTER BIEMEL: Philosophische Analysen zur Kunst der Gegenwart. In: Phaenome-nologica. Den Haag: Martinus Nijhoff, 1968, S. 20f.

2 KLAUS MLADEK: >Ein eigentümlicher Apparat< - Franz Kafkas >In der Strafkolonie<. Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband, 1994, S. 117.

3 Vgl. PETER HöFLE: Franz Kafka. In der Strafkolonie. Suhrkamp Verlag, 2006, S. 80ff.

4 Vgl. HARALD NEUMEYER: >>Das Land der Paradoxa<< (Robert Heindl). Franz Kafkas >>In der Strafkolonie<< und die Deportationsdebatte um 1900. In: CLAUDIA LIEBRAND und FRANZISKA SCHößLER (Hrsg.): Textverkehr. Kafka und die Tradition. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004, S. 291.

5 Vgl. KLAUS WAGENBACH: In der Strafkolonie. Eine Geschichte aus dem Jahre 1914. Mit Quellen, Abbildungen, Materialien aus der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt. Berlin: Wagenbach, 1975, S. 69.

6 Vgl. WALTER MÜLLER-SEIDEL: Die Deportation des Menschen. Kafkas Erzählung In der Strafkolonie im europäischen Kontext. Stuttgart: J.B. Metzlersche Verlagsbuch-handlung, 1986, S. 141.

7 KITTLER bestreitet, dass Kafka den Grundgedanken der Erzählung Heindls Bericht entnommen hat. Vgl. KITTLER: Schreibmaschinen, Sprechmaschinen, S. 140.

8 HANS DIETER ZIMMERMANN: In der Strafkolonie - Die Täter und die Untätigen. In: MICHAEL MÜLLER (Hrsg.): Franz Kafka. Romane und Erzählungen. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1994, S. 165.

9 Ebd., S. 166f.

10 FRANZ KAFKA: In der Strafkolonie. In: HANS-GERD KOCH, WOLF KITTLER und GERHARD NEUMANN (Hrsg.): Drucke zu Lebzeiten. New York: S. Fischer, 1994, Franz

11 HANS DIETER ZIMMERMANN: Kafka für Fortgeschrittene. Bremen: Verlag C.H. Beck oHG, 2004, S. 90.

12 Vgl. HANS HELMUT HIEBEL: Die Zeichen des Gesetzes. Recht und Macht bei Franz Kafka. 2. Auflage. München: Wilhelm Fink Verlag, 1989, S. 132.

13 KAFKA: In der Strafkolonie, S. 210.

14 Vgl. JOSEF HERMANN MENSE: Die Bedeutung des Todes im Werk Franz Kafkas. Band 4, Kasseler Arbeiten zur Sprache und Literatur. Frankfurt a. M.: Verlag Peter Lang GmbH, 1978, S. 47.

15 KAFKA: In der Strafkolonie, S. 247.

16 Vgl. HIEBEL:Die Zeichen des Gesetzes, S. 138.

17 Vgl. ebd., S. 132.

18 HIEBEL: Die Zeichen des Gesetzes, S. 129.

19 Ebd., S. 130.

20 Vgl. KITTLER: Schreibmaschinen, Sprechmaschinen, S. 129.

21 Vgl. BIEMEL: Philosophische Analysen zur Kunst der Gegenwart, S. 25ff.

22 Ebd., S. 25.

23 BENNO WAGNER: Die Majuskel-Schrift unsres Erden-Daseins. Kafkas Kulturversi-cherung. Hofmannsthal Jahrbuch. Zur Europäischen Moderne, 12 2004, S. 349.

24 Vgl. ebd., S. 331f.

25 Vgl. KITTLER: Schreibmaschinen, Sprechmaschinen, S. 123.

26 Vgl. WAGNER: Kafkas Kulturversicherung, S. 337-363.

27 WALTER BAUER-WABNEGG: Monster und Maschinen, Artisten und Technik. In: WOLF KITTLER und GERHARD NEUMANN (Hrsg.): Franz Kafka: Schriftverkehr. Frei­burg: Rombach Verlag, 1990, S. 367.

28 BAUER-WABNEGGS Wortwahl ist - bezugnehmend auf die Aussage des Offiziers >>Die Schuld ist immer zweifellos<< besonders ungeschickt. Ähnlich unglücklich formuliert auch

29 MLADEK: >>Ein eigentümlicher Apparat<<, S. 116.

30 Man beachte die Ähnlichkeit der Wörter >>Offizier<< und >>Offizin<< (alte Bezeich-nung für eine Buchdruckerei). Vgl. GüNTER SAMUEL: Vom Ab-schreiben des Körpers in der Schrift. Kafkas Literatur der Schreiberfahrung. In: HANS JOACHIM PIECHOT-TA, RALPH-RAINER WUTHENOW und SABINE ROTHEMANN (Hrsg.): Die Literarische Moderne in Europa. Ercheinungsformen literarischer Prosa um die Jahrhundertwende. Band 1, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1994, S. 461.

31 Möglicherweise ein Hinweis auf die Uniformität der gedruckten Typen.

32 Verschiedene Autoren haben auf die Übereinstimmung der Initialen des früheren Kommandanten mit denen Franz Kafkas aufmerksam gemacht. Vgl. z.B. ebd.

33 Zum Doppelsinn der Tropen vgl. z.B. ebd.

34 Die >>Vor-namenssprache<< Franz Kafkas. Vgl. ebd.

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Details

Titel
Widerstreit der Gesetze
Untertitel
Das Medien-Dilemma in Kafkas 'In der Strafkolonie'
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften)
Jahr
2009
Seiten
24
Katalognummer
V133840
ISBN (eBook)
9783640415809
ISBN (Buch)
9783640407958
Dateigröße
503 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kafka, In der Strafkolonie, Medien, Paradox, Antinomie
Arbeit zitieren
Anonym, 2009, Widerstreit der Gesetze, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/133840

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