Die Mimikresonanz-Methode zur Beurteilung von Schmerz bei Demenz


Akademische Arbeit, 2022

42 Seiten, Note: 3


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

Abstract

Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Problemdarstellung
1.2 Zielsetzung
1.3 Methodik

2 Begriffsklärung
2.1 Grundlagen Schmerz
2.2 Definition Schmerz
2.3 Physiologie des Schmerzes
2.4 Dimension des Schmerzes
2.5 Schmerzmodelle
2.6 Schmerzen bei geriatrischen Patienten
2.7 Total Pain bei Menschen mit Demenz
2.8 Häufigste Demenzformen
2.9 Beurteilung von Schmerz bei Demenz (BESD)
2.9.1 Anwendung des BESD
2.9.2 Pain Assessment in Impaired Cognition (PAIC-15)

3 Schmerzindikatoren
3.1. Mimik bei Schmerzen
3.2 Verwechslungsgefahr mit dem Emotionsausdruck Ekel
3.3 Körpersprachliche Signale bei Menschen mit Schmerzen
3.3.1 Vokalisation bei Schmerzen
3.3.2 Atmung bei Schmerzen
3.3.3 Verhalten bei Schmerzen von Menschen mit Demenz
3.4 Einflussfaktoren auf die mimische Fremdeinschätzung Schmerz

4 Mimikresonanz®-Konzept
4.1 Facial Action Coding System
4.2 Makro-, Mikro- und subtilen Expressionen
4.3 Die Methode der Mimikresonanz®
4.3.1 Wahrnehmungsgrundsätze
4.3.2 Techniken der Emotionserkennung
4.3.3 Der Emotionsdreiklang
4.4 Ein Anwendungsbeispiel für die Technik der Emotionserkennung

5 Implementierung der Methode Mimikresonanz® in die BESD

6 Bedeutung für die Pflegepraxis

7 Literaturverzeichnis

8 Anhang

9 Abkürzungsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Krankheitsbilder bei geriatrischen Patienten, welche Schmerzen verursachen können (Maier, Meyer, 2018; 30)

Abbildung 2: Total Pain bei Menschen mit Demenz (in Anlehnung an Maier, Meyer, 2018; 34)

Abbildung 3: Schmerzmimik (Foto: privat)

Abbildung 4: Ekel (Stöcker, 2022; 72)

Abbildung: 5 Implementierung der mimischen Bewegungen in die BESD

1 Einleitung

Die Zahl der Menschen mit Demenz wird voraussichtlich bis 2050 nach Berechnungen von Experten auf 152 Millionen weltweit ansteigen (Statista. Zugriff: 06.02.2022). Für die Bundesrepublik Deutschland wird eine Zunahme der von Demenz Betroffenen von aktuell 1,6 Millionen auf 2,4 bis 2,8 Millionen Menschen erwartet (Deutsche Alzheimer Gesellschaft. Zugriff: 06.03.2022).

Schon heute stellen die Menschen mit Demenz die Pflegeeinrichtungen der stationären Altenpflege, die ambulanten Dienste und die An- und Zugehörigen vor große Herausforderungen. Eines der Merkmale einer Demenzerkrankung ist die Einschränkung der verbalen Ausdrucksfähigkeit aufgrund der kognitiven Einschränkung. Bewohner*innen, Patient*innen sind nicht mehr in der Lage, eine eindeutige Schmerzauskunft zu geben. Die Betreuenden stehen oft ratlos vor den Menschen und sind unsicher, wie die weitere Versorgung aussehen soll. Eine Schmerztherapie wird gar nicht oder sehr verhalten durchgeführt, da der Schmerz der Betroffenen nur schwer einschätzbar ist. Folglich sind Menschen mit Demenz häufig mit Analgetika unterversorgt oder bekommen erst gar keine Schmerzmedikamente. Sie geben seltener Schmerzen an als kognitiv Gesunde (Sirsch 2020). Die Gefahr, dass ihre Bedürfnisse nicht erkannt werden, ist hoch. Gleichzeitig belastet die Unsicherheit der Schmerzerkennung die Pflegenden und erschwert ihre Arbeit.

Die Selbstaussage über den Schmerz ist der Goldstandard. Bei einer beginnenden Demenz ist es oft noch möglich, eine solche von Bewohner*innen zu bekommen. Beim Fortschreiten der Erkrankung ist der Einsatz einer Fremdeinschätzung unabdingbar. Selbst wenn An- und Zugehörige ihren Eindruck vom Schmerzgeschehen des Bewohners, der Bewohnerin machen können, braucht es weitere Instrumente, um eine möglichst klare Antwort zu bekommen.

Die Pflegewissenschaft beschäftigt sich weltweit seit Jahren mit der Entwicklung verschiedener Fremdeinschätzungsinstrumente; teilweise auf nationaler Ebene, teilweise werden sie in verschiedene Sprachen übersetzt. Für Menschen mit Demenz hat sich in Deutschland eine Skala in den Einrichtungen etabliert: die Beurteilung von Schmerz bei Demenz, kurz BESD. Mit diesem Instrument werden beobachtete Signale aus den Bereichen Atmung, negative Lautäußerungen, Gesichtsausdruck, Körpersprache und Trost in eine Skala eingetragen. Ab einem Punktwert von zwei sind Schmerzen wahrscheinlich.

Im Bereich der Einschätzung der Mimik sind die Indikatoren allgemein gehalten und wenig spezifisch.

Genauer und detaillierter ist die Beobachtung der Mimik bei der Mimikresonanz®-Methode, die ein Instrument der Emotionserkennung ist und ursprünglich nicht für die Pflege konzipiert wurde. Sie beruht auf dem Facial Action Coding System (FACS), das Dr. Paul Ekman und Kollegen erarbeiteten. Die von Dirk W. Eilert entwickelte Mimikresonanz®-Methode befasst sich mit den zuverlässigen Merkmalen der Primäremotionen (Eilert 2013). Genau definierte Bewegungen in der Gesichtsmuskulatur klassifizieren zuverlässige Hinweise auf die jeweilige Emotion.

Auch wenn der Schmerzausdruck keine Emotion darstellt, gibt es dennoch bestimmte (mimische) Hinweise auf die Empfindung, die das Erkennen erleichtern können.

Die Arbeit bezieht sich nicht explizit auf stationäre Einrichtungen der (Alten)Pflege, sondern umfasst den ganzen pflegerischen Bereich, in dem das BESD angewandt wird. Aus diesem Grund werden die Betroffenen als Bewohner*innen oder Patient*innen bezeichnet.

1.1 Problemdarstellung

Für alle mit Pflege Betrauten ist es sowohl im häuslichen Umfeld als auch in den stationären Pflegeeinrichtungen schwierig, Schmerzen bei Menschen mit Demenz zuverlässig zu erkennen. Schmerz ist eine subjektive, individuelle Empfindung, die in ihrer Ausprägung und Intensität nicht sicher zu diagnostizieren und prognostizieren ist. Durch die fehlende Selbstauskunft können Betreuende keine sichere Aussage zum Schmerzerleben erwarten.

Ältere Personen leiden unter vielfachem Schmerzgeschehen aufgrund von Degenerationsprozessen u.ä.. Die Schmerzprävalenz in Pflegeheimen liegt zwischen 49% und 83% (Schwermann et al. 2015; 18). Daneben leiden ältere Menschen unter vielfältigen Organerkrankungen, die ebenfalls Schmerzen verursachen können. Es ist unbedingt erforderlich, ein genaues und rechtzeitiges Schmerzassessment in die Pflegeplanung mit einzubeziehen, um die Lebensqualität der Betroffenen zu erhalten und zu fördern.

Laut einer Studie von Fischer et al. von 2017 (Maier, Meyer, 2018; 40 ff.) gibt es einen direkten Zusammenhang zwischen dem herausfordernden Verhalten bei Menschen mit Demenz und der fehlenden oder mangelhaften Schmerzbehandlung. Insofern stellt eine zuverlässigere Wahrnehmung von Schmerzen bei Menschen mit Demenz und einer anschließenden Schmerzbehandlung einen guten Lösungsansatz für das weitverbreitete Phänomen des herausfordernden Verhaltens dar.

Das BESD ist eines der möglichen Schmerzeinschätzungsinstrumente, das bei Menschen mit Demenz genutzt werden kann. Allerdings sind die Beobachtungsparameter im Bereich der Mimik unspezifisch, was die Beurteilung von Schmerzen vage erscheinen lässt.

1.2 Zielsetzung

In dieser Arbeit wird eruiert, ob die genauere Kenntnis der mimischen Expressionen bei Schmerz für das Schmerzassessment BESD hilfreich sein kann. Als Methode zum Erkennen des Gesichtsausdrucks wird die Mimikresonanz®-Methode gewählt und genauer betrachtet.

Aufgrund der Problemdarstellung und Zielsetzung entwickelt sich folgende Forschungsfrage:

Welche Unterstützung kann die Mimikresonanz®-Methode für die Beurteilung von Schmerz bei Demenz (BESD) leisten?

Daran anschließend wird der Frage nachgegangen, wie kann eine mögliche Implementierung der Mimikresonanz®-Methode in die BESD praktisch aussehen. Ohne diese abschließende Betrachtung hält die Verfasserin die Fragestellung für nicht sinnhaft beantwortet.

1.3 Methodik

Zur Beantwortung der Fragestellung wurde die Methode der systematischen Literaturrecherche verwendet. Die Literaturrecherche wurde online in den elektronischen Fachdatenbanken CINAHL, PUBMED und Google Scholar von Januar 2022 bis Juni 2022 durchgeführt. Der Zeitraum wurde auf die Veröffentlichungen nach dem Jahr 2000 begrenzt, was sich als schwierig erwies. Es wurden auch ältere Veröffentlichungen und Studien berücksichtigt. Daneben wurde eine Vielzahl an Fachbüchern und Fachartikeln gelesen, die per Handsuche gefunden wurden. Dabei waren die Quellenhinweise der spezifischen Artikel und Bücher eine weitere Informationsquelle für tiefer gehende Recherchen.

2 Begriffsklärung

Die Begriffsbestimmung schafft eine einheitliche Grundlage zum Verständnis der einzelnen Termini, die in dieser Arbeit gebraucht werden. Gerade bei vielschichtigen Begrifflichkeiten wie die des Schmerzes ist eine Verständigung auf eine Bedeutung zum Verständnis der vorliegenden Arbeit essentiell.

2.1 Grundlagen Schmerz

„Pain is what the patient says hurts“ (Zitat Cicely Saunders aus FGPD, 2020), was bedeutet, Schmerz ist das, was dem Betroffenen weh tut [Übersetzung durch d. Verf.]. Eine ähnliche Aussage postuliert die Pflegewissenschaftlerin Margo McCaffery, in dem sie die Aussage trifft, dass Schmerz das ist, was der Patient sagt und er existiert, wann immer er es sagt. Beide Aussagen entsprechen einem Grundsatz in der Pflege, definieren aber nicht den Begriff als solchen in seiner ganzen Dimensionalität. Diese ist für das Verständnis für die Betroffenen notwendig und wird im Folgenden beschrieben.

2.2 Definition Schmerz

„Schmerz versteht sich laut der International Association for the Study of Pain (IASP 1979) als ‚ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit einer tatsächlichen oder drohenden Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird‘. Schmerz ist ein komplexes Phänomen, welches sich aus physischen, funktionalen, psychologischen, sozialen und spirituellen Dimensionen zusammensetzt, die alle in der Schmerzbehandlung berücksichtigt werden sollten“ (DNQP, 2020; 66).

Unterschieden werden drei Arten von Schmerz, nämlich die akute, die prozeduale und die chronische Form. Der Vollständigkeit halber ist zu erwähnen, dass der Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege den zu erwartenden Schmerz berücksichtigt. Die Betroffenen haben in diesem Fall keine Schmerzen, jedoch führen bestimmte Umstände dazu, dass ein Schmerz eintreten kann, beispielhaft Eingriffe, Mobilisation und/oder die Versorgung von Wunden.

Die akute Schmerzform tritt ein, wenn es zu einer erwartbaren physiologischen Reaktion auf eine Gewebeschädigung oder pathologische Veränderung der Physiologie der Organe kommt. Es handelt sich hierbei um ein Warnsignal des Körpers, das durch die Aktivierung der Schmerzrezeptoren ausgelöst wird. Es fordert zur Abhilfe der schmerzhaften Reaktion bzw. zur Ursachenbehandlung auf.

Die prozeduale Schmerzform beschreibt akute Schmerzen, die während der Diagnostik und der Behandlung der Patienten auftreten. Das können routinemäßige Versorgungen sein (zum Beispiel Blutabnahmen) oder aber Handlungen, die während einer Therapie notwendig werden (zum Beispiel Infusionen legen).

Als chronischer Schmerz wird ein Zustand bezeichnet, der „dauerhaft oder wiederkehrend für mindestens drei Monate vorhanden ist“ (Expertenstandard Schmerzmanagement in der Pflege, 2020, 68). Er hat keine Warnfunktion für den Körper. Diese Schmerzform kennzeichnet langanhaltende bzw. wiederkehrende Schmerzausbrüche, die nicht bis zur Schmerzfreiheit behandelt werden können. Ziel einer Therapie ist der bessere Umgang der betroffenen Person mit dem Schmerz und die Erträglichkeit der damit in Zusammenhang stehenden Einschränkungen. Der chronische Schmerz beeinflusst die Lebensqualität und die Aktivitäten des täglichen Lebens nachhaltig. Chronische Schmerzen können hilflos machen, führen zu Stimmungsschwankungen, Schlafstörungen und in Einzelfällen bis in eine Depression. Betroffene können ein zentrales Schmerzgedächtnis ausbilden, da die Verstehbarkeit zwischen dem Reiz und dem Schmerz verloren geht; es kommt zu einer Schmerzchronifizierung.

Eine weitere Unterteilung definiert den primär chronischen Schmerz und den sekundär chronischen Schmerz, der seinerseits weiter untergliedert wird. Die Verfasserin verzichtet auf die nähere Erläuterung der Untergruppen, da es den Umfang der Arbeit sprengen würde und für die Forschungsfrage irrelevant ist.

2.3 Physiologie des Schmerzes

Schmerz ist in seiner Ausprägung und Entstehung ein mehrdimensionales Phänomen. Es wird zwischen Nozizeptorschmerzen und neuropathischen Schmerzen unterschieden. Im ersten Fall entsteht er nicht durch einen einzelnen Reiz, der einen Schmerzrezeptor (Nozizeptoren kommen hauptsächlich in der Haut vor) erregt, sondern durch mehrdimensionale Informationen, die im Gehirn verarbeitet werden. Schmerz kann auch ohne einen Reiz empfunden werden wie zum Beispiel bei Phantomschmerzen. Hierbei handelt es sich um eine Schmerzempfindung an einem amputierten Gliedmaß, obwohl es nicht mehr vorhanden ist. Jeder Körper hat „ein eigenes neuronales Netzwerk, bei dem Nervenimpulse in einer „Neuromatrix“ […] zirkulieren“ (Sirsch, 2020; 48). Infolgedessen entsteht ein für jede Person individuelles Schmerzempfinden.

Der neuropathische Schmerz (Nervenschmerz) entsteht durch eine Schädigung von Nerven des peripheren oder zentralen Nervensystems auf. Der Auslöser kann auch eine Fehlfunktion oder Funktionsstörung sein.

2.4 Dimension des Schmerzes

In der neueren Literatur werden zwei Dimensionen zur Einordnung des Schmerzausdrucks besonders genannt: die sensorisch-diskriminative und die motivational-affektive. Bei der erstgenannten Dimension werden Schmerzort und –lokalisation, die Schmerzdauer und die –intensität beschrieben.

In der motivational-affektiven Dimension wird die emotionale Bedeutung des Schmerzreizes aufgrund der Bewertung durch das limbische System eingeordnet. Daraus ergibt sich ein Handlungsantrieb für motorische Reaktionen wie zum Beispiel eine Schonhaltung oder eine Aktivierung des vegetativen Nervensystems wie zum Beispiel der Anstieg des Blutdrucks.

Der Vollständigkeit halber seien noch die beiden weiteren Dimensionen benannt. Zum einen die kognitiv-evaluative Dimension (bewusstes Nachdenken über den Schmerz) und die behavioristische Dimension (Auswirkung des Schmerzes auf das Verhalten einer Person).

Mehrheitlich liegt der Fokus in der Wissenschaft auf den erstgenannten Dimensionen, um Selbst- und Fremdeinschätzung von Schmerz zuzuordnen.

2.5 Schmerzmodelle

Die Mehrdimensionalität des Schmerzes lässt sich anhand von Modellen erklären und erfassen. Das Empfinden ist individuell und von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich, weshalb zum besseren Verständnis eine theoretische Grundlage entwickelt wurde, die dann in zielgerichtete Handlungen übersetzt wird.

Das Bio-psycho-soziale Modell des Schmerzes

Mit dem bio-psycho-sozialen Modell wird das Verständnis für das Schmerzerleben erreicht und es kommt bei chronischen Schmerzen zur Anwendung. Es betrachtet das Geschehen multidimensional. Das erstmals von dem amerikanischen Psychiater George L. Engel 1977 verschriftliche Modell (Engel, G.L., 2011) wird in der Diagnostik und Behandlung von chronischen Schmerzzuständen angewandt. Schmerz wird im Sinne des Modells als Krankheit verstanden. Damit wird die bisherige Vorstellung des mechanischen Ursache-Wirkung-Modells entkräftet. Im Modell wird dem Zusammenspiel vieler Faktoren Rechnung getragen. Biologische, psychische und soziale Faktoren spielen eine Rolle. Das Modell fokussiert auf einen Perspektivwechsel zwischen der Ursache und der Empfindung der Schmerzstärke. Es unterstützt das Selbstmanagement von Schmerzen und die verschiedenen Bewältigungsstrategien bei orientierten Patienten. Kognitiv eingeschränkte Personen profitieren ebenfalls vom Modell, da zum Beispiel das Umfeld in ein positiv stimulierendes verändert wird und es spezielle pflegerische Unterstützung gibt.

Das Total-Pain-Modell

Das Modell des Total Pain wurde in den 1960er Jahren von Dame Cicely Saunders, der Pionierin im Bereich der Hospiz- und Palliativversorgung, geprägt (Kränzle et al, 2014; 58). Es beschreibt die Multidimensionalität des Schmerzempfindens und hilft den Betreuenden, den Schmerz besser zu verstehen. Im Modell werden vier Dimensionen des Schmerzerlebens genannt: die körperliche, die psychische, die soziale und die spirituelle. Der ganze Mensch wird in der Schmerzanamnese und –behandlung betrachtet.

Die Anerkennung der Individualität des Schmerzempfindens (Schmerz ist das, was die Betroffenen dafür halten) ist eine für das Modell unabdingbare Haltung. Damit wird die Einzigartigkeit eines jeden Menschen bekräftigt und seine Biografie und seine Charaktereigenschaften bejaht. Diese Haltung ist bei Personen mit einer kognitiven und/oder verbalen Einschränkung essentiell und unterstützt die Begleitung und bedürfnisorientierte Pflege.

Schmerz ist in erster Linie ein körperlicher Zustand, der auch auf sozialer Ebene ausgelöst werden kann. Menschen fühlen sich abgelehnt und/oder werden aus einer Gruppe oder aus einer Beziehung ausgestoßen. Ausgedrückt wird das im allgemeinen Sprachgebrauch durch Redewendungen wie: „Es hat mir das Herz gebrochen. Das schlägt mir auf den Magen.“ Menschen sind bindungsorientierte Wesen und brauchen den Kontakt zu anderen. Fehlen echte, tiefe Bindungen erhöht sich die Sterbewahrscheinlichkeit stärker als durch andere Risikofaktoren wie zum Beispiel Übergewicht, Bewegungsmangel oder Rauchen (Eilert, 2020, III.3.5.a). Gerade für Menschen mit Demenz ist die Bindung eines ihrer Grundbedürfnisse.

2.6 Schmerzen bei geriatrischen Patienten

Zahlreiche Untersuchungen haben festgestellt, dass alte Menschen an vielfältigen Schmerzen leiden. „Der Anteil der Pflegeheimbewohner, die unter Schmerzen leiden, wird […] mit bis zu 80 % angegeben (Lukas et al, 2015; Der Schmerz). Die Schmerzursachen sind vielfältig und nehmen mit steigendem Lebensalter in der Regel zu. In der Grafik sind die häufigsten Ursachen für Schmerzen bei geriatrischen Patient*innen aufgezeigt.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Bei einem Anteil von 40% bis 60% dementiell erkrankter Menschen in den Pflegeeinrichtungen (Maier, Mayer, 2018; 30), die kaum eine oder keine Selbstaussage zu ihrem Schmerzempfinden machen können, wird die Notwendigkeit einer zuverlässigen Schmerzerfassung bei dieser Patientengruppe deutlich. Ihr Schmerz ist der gleiche wie der der nicht an Demenz erkrankten Senior*innen.

In der Literatur wird von verschiedenen internationalen Studien berichtet, die zeigen, dass Menschen mit Demenz generell weniger Analgetika verschrieben bekommen. Nach einer Schenkelhalsfraktur werden ihnen dreimal weniger Morphiumäquivalent verabreicht als nicht dementiell veränderten Personen (Bernatzky et al. 2012; 42).

2.7 Total Pain bei Menschen mit Demenz

Alle Formen der Demenz (siehe 2.8) haben gemeinsam, dass die Patient*innen nach und nach ihre verbale Sprache verlieren und das Sprachverständnis schwindet. Sie sind nur mehr eingeschränkt zu einer Selbstauskunft fähig. Bei Menschen mit Demenz ist das Modell Total Pain dennoch anwendbar und trägt zum besseren Verständnis der Betroffenen bei.

Im Bereich der körperlichen Schmerzen gibt es keinen Unterschied zu den Ursachen von Schmerzen bei (alten), orientierten Menschen. In den übrigen Dimensionen sind besonders im psychosozialen Sektor Unterschiede festzustellen, die auf die zunehmende Orientierungslosigkeit und die nachlassenden kommunikativen Fähigkeiten zurückzuführen sind.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2 Total Pain bei Menschen mit Demenz (in Anlehnung an Maier, Mayer, 2018; 34)

2.8 Häufigste Demenzformen

Bei der Diagnose Demenz handelt es sich nicht um eine spezifische Erkrankung, sondern um einen Oberbegriff, der verschiedene Krankheitssymptome zusammenfasst. Allen Demenzerkrankungen ist das Hauptsymptom der Hirnleistungsstörung gemein.

„ICD-10-Definition: Demenz (ICD-10-Code: F00-F03) ist ein Syndrom als Folge einer meist chronischen oder fortschreitenden Krankheit des Gehirns mit Störung vieler höherer kortikaler Funktionen, einschließlich Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache, Sprechen und Urteilsvermögen im Sinne der Fähigkeit zur Entscheidung. Das Bewusstsein ist nicht getrübt.“ (S3-Leitlinie „Demenzen“, 2016; 16)

Zu Beginn der Krankheit ist das Kurzzeitgedächtnis gestört und die Merkfähigkeit lässt nach. Später reduziert sich die Leistung des Langzeitgedächtnisses. Es kann auch anfangs eine unerklärliche Gangunsicherheit oder eine plötzliche Inkontinenz auffällig werden. Die Betroffenen verlieren nach und nach ihre kommunikativen Fähigkeiten (Sprachverständnis und verbale Sprachfähigkeit) und ziehen sich immer weiter in ihre eigene Welt zurück. Die Demenz verläuft nicht linear und hat je nach Form und Alter der betroffenen Menschen meist einen sehr individuellen Verlauf.

Eine grundlegende Unterscheidung der Demenzarten ist die zwischen einer primären (hirnorganisch/kortikal) und einer sekundären (nicht-hirnorganisch) Demenz.

Die primäre Demenz kennzeichnet das Absterben von Nervenzellen im Gehirn (degenerativ), so dass neuronale Verknüpfungen verloren gehen. Etwas 90% der Demenzerkrankungen sind hirnorganischer Natur. Eine Heilung ist mit jetzigem Wissensstand nicht möglich, lediglich eine Verzögerung des Krankheitsverlaufs. Die neurodegenerative Demenzform, der Verlust von Nervenzellen, kann durch Eiweißablagerungen, die die Nervenzellen beschädigen (zum Beispiel bei Alzheimer) oder durch Schlaganfälle, wie bei einer vaskulären Demenz, zur Konsequenz haben, dass die Kommunikation zwischen den Nervenzellen gestört ist.

Zur primären Demenz gehören Formen wie Alzheimer, Lewy-Körperchen-Demenz/ Lewy-Body-Demenz und die Frontotemporale Demenz, bei der Nervenzellen degenerieren.

Auch zur primären Demenz zählt die vaskuläre Demenz, die durch Durchblutungsstörungen im Gehirn ausgelöst wird. Sie entstehen in den das Gehirn versorgenden Blutgefäßen durch Verengungen oder Verstopfungen. Durch die Unterversorgung sterben Nervenzellen ab und es kann zu vielen kleinen Schlaganfällen kommen, der Multi-Infarkt-Demenz. Oftmals bleiben die Schlaganfälle lange Zeit unbemerkt. Eine weitere Form der vaskulären Demenz ist Morbus Binswanger.

Bei Morbus Parkinson, der zweithäufigsten neurodegenerativen Erkrankung nach der Alzheimer Demenz, kommt es bei 40% der Betroffenen zu einer Sekundärerkrankung durch eine Demenz. Ursächlich ist der Mangel an einem Botenstoff (Dopamin), der die Reizleitung zwischen den Nervenzellen möglich macht, aufgrund des Morbus Parkinson.

10% aller Demenzerkrankungen gehören zum Themenfeld der sekundären Demenz. Hier tritt die Demenz als Folge einer vorangegangenen Erkrankung (zum Beispiel Depressionen, Stoffwechselerkrankungen) auf. Wird diese Form früh erkannt, ist eine Heilung wahrscheinlich. Ist die Primärerkrankung heilbar, kann sich das Gehirn, je nach Schädigung, regenerieren und die Auffälligkeiten bilden sich zurück.

Die Demenz wird in drei Stadien unterteilt. Im ersten Stadium, der leichten Demenz, werden erste Defizite sichtbar, aber in der gewohnten Umgebung ist ein selbstbestimmtes Leben ohne fremde Hilfe noch möglich. Im zweiten Stadium, der mittelschweren Demenz, treten Orientierungsstörungen deutlich zu Tage. Auch in einer gewohnten Umgebung werden bekannte Tätigkeiten zunehmend schwieriger. Es kann zu einer extremen Unruhe und Zwanghaftigkeit kommen. Im letzten Stadium, der schweren Demenz, braucht der Mensch mit Demenz Hilfe bei allen täglichen Verrichtungen. Dazu kommen weitere körperliche Einschränkungen im motorischen Bereich, so dass sich die körperlichen Schwierigkeiten häufen. Schon im frühen Stadium der Demenz kann ein Fremdeinschätzungsinstrument der Schmerzen sinnvoll sein; in späteren Stadien ist es unabdingbar.

2.9 Beurteilung von Schmerz bei Demenz (BESD)

Die Selbsteinschätzung der Betroffenen hat immer Vorrang vor der Fremdeinschätzung und gilt allgemein als der Goldstandard. Bei Menschen mit Demenz nimmt die Fähigkeit zur Selbsteinschätzung leider immer weiter ab. Nach Möglichkeit wird mit nahen An- und/oder Zugehörigen gesprochen und deren Einschätzung berücksichtigt. Meist muss jedoch zu einem Instrument der Fremdbeurteilung gegriffen werden.

Die Skala BESD ist die deutsche Übersetzung der amerikanischen PAINAD (Pain Assessment in Advanced Dementia Scale, die 2003 von Warden et al. publiziert wurde (Warden et al., 2003; 9-15). Sie wurde speziell für die Schmerzbeobachtung bei Menschen mit Demenz entwickelt. Dieses Schmerzassessment hat sich in Deutschland für Menschen mit Demenz bislang am meisten etabliert (Lautenbacher, Kunz, 2019; 815). Bei diesem Fremdbeobachtungsinstrument werden neben der Mimik, der Körpersprache und der Lautäußerungen auch noch die Bereiche Atmung und Trost (wie reagiert die Person auf das Trösten) evaluiert. In dieser Skala werden die jeweiligen Kategorien mit einem numerischen Wert zwischen 0 und 2 bewertet. 0 bedeutet keine (Schmerz)reaktion und 2 sagt aus, dass die Verhaltensreaktion am stärksten ist. “Ein BESD-Punktwert von ≥2 (maximal 10) weist auf mögliche Schmerzen hin“ (Lautenbacher, Kunz, 2019; 816). Gleichwohl bedeutet ein Punktwert von 0 nicht, das der/die Patient*in keine Schmerzen erleidet; es wird nur kein sichtbares Schmerzverhalten gezeigt (Arbeitskreis Alter und Schmerz der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V., 2013; 2). Zu den einzelnen Kategorien des BESD stellt die Deutsche Schmerzgesellschaft e.V. Lehrvideos zur Verfügung, um die Handhabung des Schmerzassessments zu trainieren (https://www.schmerzgesellschaft.de/hilfseiten/besd-videos). Mit dieser virtuellen Unterstützung werden die Begrifflichkeiten der Skala definiert.

2.9.1 Anwendung des BESD

Der Arbeitskreis Alter und Schmerz der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V. empfiehlt für die Anwendung der BESD, die Schmerzeinschätzung bei Betroffenen immer in Bewegung vorzunehmen, d.h. bei pflegerischen Tätigkeiten oder im Gehen. Sind die Patient*innen bettlägerig oder in einen Rollstuhl mobilisiert, empfehlen sich Transfersituationen. Die entsprechende Situation wird dokumentiert. Sinnvollerweise wird die Beobachtung von einer weiteren Person übernommen, da bei pflegerischen und/oder Hilfestellungen das Gesicht des/der Patient*in nicht in jedem Fall für die begleitende Person sichtbar ist. Der Beobachtungszeitraum soll zwei Minuten dauern, in der in der ausgesuchten Situation nach Signalen Ausschau gehalten wird. Anschließend werden in den einzelnen Kategorien die zugehörigen Verhaltensbeobachtungen angekreuzt. Sollte kein entsprechendes Verhalten sichtbar geworden sein, wird empfohlen, ein „nein“ anzukreuzen. Das dient der Sicherung der Ergebnisqualität. Zum Schluss werden die Werte in der äußeren rechten Spalte addiert.

Die Einschätzung der Schmerzbeobachtung sollte nach Möglichkeit immer in der gleichen Situation erfolgen. Damit wird die Aussagekraft des Assessments bestärkt und Unterschiede im Verhalten werden eher sichtbar.

Bevor die Fremdeinschätzung begonnen wird, empfiehlt sich die genaue Beschäftigung mit der Terminologie, damit eine Bewertung der Beobachtung erfolgen kann (siehe Vorlagebogen BESD im Anhang).

Die Beurteilung von Schmerzen bei Menschen mit Demenz mit der Skala kann auch genutzt werden, um die Wirksamkeit von schmerzlindernden Maßnahmen (medikamentös oder nicht-medikamentös) zu überprüfen. Somit kann ein Verlauf der Maßnahmen protokolliert und die Therapie bei Bedarf angepasst werden.

Nicht bei allen Bewohner*innen kann ein Fremdeinschätzungsinstrument sinnvoll angewandt werden. Bei Menschen, die an Morbus Parkinson leiden, erstarrt die Gesichtsmimik immer mehr, einer Maske gleichend. Leider erkranken viele Personen nach der Diagnose Parkinson auch noch an einer Demenz. Sie zeigen kaum bis gar keine Bewegungen im Gesicht, also auch keine emotionalen Hinweise oder Schmerzzeichen.

Ebenso verhält es sich bei Botoxbehandlungen. Als Medikament gegen zum Beispiel Kopfschmerzen oder aus kosmetischen Gründen verfälscht es die Mimik des Gesichts. Durch das Nervengift werden Gesichtsmuskeln in ihrer Bewegung eingeschränkt. Folglich ist eine eindeutige Aussage zu den beobachteten Bewegungen im Gesicht nicht zu treffen.

[...]

Ende der Leseprobe aus 42 Seiten

Details

Titel
Die Mimikresonanz-Methode zur Beurteilung von Schmerz bei Demenz
Hochschule
Paracelsus Medizinische Privatuniversität
Note
3
Autor
Jahr
2022
Seiten
42
Katalognummer
V1340886
ISBN (Buch)
9783346848352
Sprache
Deutsch
Schlagworte
mimikresonanz-methode, beurteilung, schmerz, demenz, ekel, emotionserkennung, alzheimer, gestik, mimik, ekman, eilert, hospiz, palliativpflege, senioren, pflegekräfte, betreuungskräfte, zugehörige, besd, paic15
Arbeit zitieren
Marlis Lamers (Autor:in), 2022, Die Mimikresonanz-Methode zur Beurteilung von Schmerz bei Demenz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1340886

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