Integration von Minderheiten im post-sowjetischen Raum: Lettland und seine russische Minderheit


Seminararbeit, 2001

17 Seiten, Note: 1


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Lettland und seine russische Minderheit

2. Die Verzögerung der Einbürgerung der Russen in Lettland
2.1. Der Elitenwandel in Lettland nach Erlangung der Unabhängigkeit
2.2. Das Staatsangehörigkeitsgesetz
2.3. Wirtschaftliche und soziale Konkurrenz zwischen Russen und Letten
2.4. Rational Choice der lettischen Eliten
2.5. Die Auswirkungen der Strategie der Exklusion
2.6. Gründe für die eingeleitete Liberalisierung der Einbürgerungspolitik
2.6.1. Interne Gründe
2.6.2. Externe Gründe

3. Lettland als stabilisierte Demokratie

4. Literaturverzeichnis

1. Lettland und seine russische Minderheit

Lettland, seit knapp zehn Jahren wieder als unabhängiger Staat anerkannt, besitzt eine der relativ zu seiner Gesamtbevölkerungszahl größten russischsprachigen Minderheiten im postsowjetischen Raum. Letten stellen nur knapp die Mehrheit der Bevölkerung, während ostslawische, überwiegend russischsprachige Minderheiten, fast 40 % der Bevölkerung bilden.[1] Diese Bevölkerungsgruppe ist Lettlands Erbe aus der Zeit der Sowjetunion mit ihrem großangelegten Bevölkerungsaustausch. Deswegen eignet sich Lettland besonders für eine Untersuchung in Bezug auf die Integration dieser starken Minderheit.

Die Debatte, wer die Staatsbürgerschaft eines neuen unabhängigen Staates erhalten sollte und wer nicht, ist in diesem Fall von besonderer Bedeutung.[2] Wie konnte es dazu kommen, dass ein großer Teil der Bevölkerung durch die Verweigerung der lettischen Gesetzgeber, ihnen die Staatsbürgerschaft zu verleihen, von staatsbürgerlichen Partizipationsrechten ausgeschlossen wurde und auch zahlreiche weitere Benachteiligungen erfahren musste? Welche Gründe bewegten die politischen Eliten zu der Entscheidung, die Staatsbürgerschaft exklusiv nur an Letten zu verleihen?

In der akteursbezogenen Betrachtung wird versucht, die Gründe für das Bestreben der lettischen Eliten zu untersuchen, den in Lettland ansässigen Russen die Verleihung der lettischen Staatsangehörigkeit zunächst zu verweigern. Dieses Verhalten lässt sich mit Hilfe Claus Offes Überlegungen zum rational choice ethnischer Gruppen erklären, das vor allem wirtschaftliche und politische Zweckdienlichkeitsüberlegungen als Ursache ethnischer Politik in den Vordergrund rückt, weniger das Bestreben nach ethnischer Dominanz oder Segregation.[3] Zunächst muß dafür jedoch kurz der Wechsel der Führungseliten während der Zeit um die Erlangung der Unabhängigkeit dargestellt werden. Es soll jedoch dabei nicht weiter zwischen einzelnen politischen Parteien und Gruppen unterschieden werden. Dies ist auch nicht notwendig, da über die Grundfrage bezüglich der Einbürgerung der Russen ein erstaunlicher Konsens über Parteigrenzen und spätere Regierungswechsel hinweg zu beobachten war. So erscheint eine Betrachtung der „lettischen Eliten“, womit vor allem also die Vertreter der lettischen mainstream-Politik gemeint sind, als einheitlicher Gruppenakteur legitim.

Systembedingte Ursachen, also die Pfadabhängigkeiten durch das Erbe der sowjetischen Bevölkerungspolitik, werden berücksichtigt, wie auch externe Einflüsse, vor allem die Russlands und der Europäischen Union, die in den letzen Jahren ein Veränderung in Richtung Liberalisierung bewirkten.

Das gewählte Fallbeispiel soll einige Gründe für die bewusste Verhinderung der Integration russischer Minderheiten durch die neuen Eliten in jungen postsowjetischen Nationalstaaten aufzeigen. Diese Problematik ist nicht nur auf Lettland beschränkt. Sicher treten aufgrund der relativen Größe der Minderheit und der besonders belasteten jüngeren Geschichte in dieser Region[4] einige Konfliktlinien klarer hervor. Andererseits hat die Entwicklung in Lettland nicht, wie etwa im Kaukasus, in Moldawien oder Zentralasien, zu Massenmobilisation oder gar gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Volksgruppen geführt, was zeigt, dass wirkliche ethnische Militanz hier kaum zu finden ist. Gerade auch deswegen erscheint die Untersuchung der Problematik unter rational-choice-Aspekten angebracht.

Nichtsdestotrotz lassen sich aber aus diesem Fallbeispiel auch einige für den postsowjetischen Raum allgemein gültige Aussagen zum Verhalten von nationalen Eliten gegenüber russischsprachigen Minderheiten ableiten. Die Bezeichnung „konfliktträchtig“ für Lettlands ethnische Konstellation bleibt allemal berechtigt, wenn man Gottfried Hannes Definition eines latenten Konfliktes benutzt.[5]

Soweit es sinnvoll erscheint, werden in dieser Untersuchung Vergleiche vor allem zu den Nachbarn Litauen und Estland gezogen.

2. Die Verzögerung der Einbürgerung der russischen Minderheit in Lettland

2.1. Der Elitenwandel in Lettland nach Erlangung der Unabhängigkeit

Die Frage „Warum verzögerte Lettland die Einbürgerung seiner russischen Minderheit?“ ist provokativ, da sie eine bewusste Strategie der verantwortlichen Akteure unterstellt. Gleichzeitig wird klar, dass von der Vergangenheit die Rede ist und somit in jüngerer Zeit ein Wandel in der Einbürgerungspolitik stattgefunden haben muß, deren Gründe es näher zu untersuchen gilt.

Zunächst soll kurz verdeutlicht werden, welch radikaler Elitenwechsel erst die anschließende exklusive Staatsbürgerschaftsregelung ermöglichte. Dieser Elitenwechsel fand auf dramatische Weise in Lettland in den Jahren des Kampfes um die Unabhängigkeit und kurz danach statt. In der Regierung, dem Beamtenapparat, in Armee und Polizei waren Russen zu sowjetischen Zeiten überproportional vertreten und besetzten meist wichtige Schlüsselpositionen. Auch die kommunistische Partei Lettlands war von Russen dominiert. Im Zuge des Prozesses der Loslösung von Moskau übernahm die lettische Volksfront schrittweise die Macht, während die gemäßigt reformbereite lettische Kommunistische Partei sich bald auflöste. Im Zuge der Zuspitzung des Konfliktes mit Moskau begannen lettische Hardliner die Meinungsführerschaft zu übernehmen und verdrängten schließlich die russischen Mitglieder vollständig aus der Volksfront-Bewegung, aus der später die meisten heutigen politischen Parteien hervorgingen.[6] Zahlreiche Exilletten kehrten ebenfalls zurück und engagierten sich politisch.[7] Anders als etwa in Litauen spiel(t)en Reformkommunisten keine Rolle mehr.[8] Die russische Bevölkerung wurde dadurch politisch schnell marginalisiert.

Das erste Staatsangehörigkeitsgesetz wurde bereits im Oktober 1991 vom lettisch dominierten Gegenparlament (das dem noch zu Sowjetzeiten von allen Bewohnern gewählten Obersten Sowjet die Legitimität absprach) verabschiedet.[9] In ihm wurden die weiter unten beschriebenen restriktiven Regelungen bezüglich der Staatsangehörigkeit getroffen. Da nur lettischen Staatsbürgern das Wahlrecht auf Landesebene zugestanden wurde, fanden die ersten Wahlen zum Seimas, dem Parlament, 1993 und alle folgenden Wahlen ohne die Beteiligung der russischsprachigen Bevölkerung statt. Die lettische Führung setzte die alte Verfassung von 1922 wieder in Kraft und stellte damit den status quo ante wieder her.[10]

2.2. Das Staatsangehörigkeitsgesetz

Die neuen Eliten bestimmten in der Zeit des Machtvakuums der Umbruchphase nicht nur die „Spielregeln“ im neuen Staat, sondern legten gleichzeitig auch auf demokratisch zweifelhafte Weise die „Mitspieler“ fest.[11]

Auf Grundlage des Staatsangehörigkeitsgesetztes[12] vom Oktober 1991 (abgeändert 1994 und 1998), angelehnt an das alte Staatsangehörigkeitsgesetz von 1938[13] erhielten nur Bewohner Lettlands, die einen eigenen Wohnsitz oder den von Vorfahren in Lettland zum Zeitpunkt der Annexion durch die UdSSR im Jahre 1940 nachweisen konnten, automatisch Anspruch auf die lettische Staatsbürgerschaft.[14] Für Einwohner, auf die dies nicht zutraf, also meist nichtlettische, russischsprachige Zuwanderer der Sowjetzeit wurden zunächst fast unerfüllbare Auflagen zum Erwerb der Staatsbürgerschaft geschaffen und selbst wenn diese erfüllt werden konnten, wurde die Erlangung des lettischen Passes oft unmöglich gemacht. Zum Beispiel wurden bestimmte Bevölkerungsteile wie ehemalige Angehörige der Armee, der Sicherheitsorgane, von Moskau entsandte Funktionäre der Partei und des Komsomol, Sozialhilfeempfänger, Vorbestrafte, Suchtkranke und Nichtsesshafte im Vorhinein als nicht berechtigt festgelegt[15] bzw. von der notwendigen Registrierung ausgeschlossen und hielten sich damit de facto illegal im Land auf.[16] Bewohner, die registriert waren, konnten die Staatsbürgerschaft erlangen, wenn sie einen Test in lettischer Sprache und Geschichte bestanden, sowie den Eid auf die Verfassung geleistet hatten. Doch aufgrund der festgelegten jährlichen Kontingente, die an die (gen null tendierende) Zuwachsrate der lettischen Bevölkerung gekoppelt war, wurden jährlich nur wenige tausend Einbürgerungen vorgenommen. Diese Quotenregelung wurde in der Gesetzesänderung von 1994 durch ein sogenanntes „Fenstersystem“ ersetzt, das jährlich nur bestimmten Jahrgängen die Einbürgerung ermöglichte und deswegen nicht weniger problematisch war.[17] Nicht zuletzt sollten durch diese verzögernden Maßnahmen die Betroffenen zur Ausreise veranlasst werden. Erst seit 1998 gibt es eine neue gesetzliche Regelung, per Volksabstimmung bestätigt, die auch das Fenstersystem abschaffte, die Sprachanforderungen senkte und die Registrierung vereinfachte. Inzwischen konnten viele Nichtletten die Staatsbürgerschaft erlangen und dieser Prozeß setzt sich zur Zeit fort.[18] Auch die Sprachanforderungen in den bestimmten Berufszweigen wurden weiter gesenkt.

[...]


[1] Autorenkollektiv (1999), S.481: Gesamtbevölkerung: 2.666.567 Einwohner, davon 55,3% Letten, 32,5% Russen, 4,0% Weißrussen, 2,9% Ukrainer, 2,2% Polen, 1,3% Litauer, 1,8% Sonstige.

In dieser Betrachtung wird ab sofort der Ausdruck russischsprachige oder russische Minderheit als Gruppenbezeichnung für alle ostslavischen oder russifizierten Bewohner Lettlands verwendet, da ihre Genese und heutige Problematik identisch sind. Die überwiegende Anzahl der nichtrussischen Angehörigen dieser Gruppe spricht Russisch im täglichen Alltag und lebt in demselben sozialen Umfeld wie die Russen. Von daher erscheint eine gemeinsame Betrachtung legitim und sinnvoll.

[2] Die UdSSR kannte nur eine einheitliche Staatsbürgerschaft – Staatsbürgerschaften in den einzelnen Unionsrepubliken gab es nicht.

[3] Vgl. Offe 1994, 135ff.

[4] Ich meine damit insbesondere die gewaltsame, völkerrechtswidrige Inkorporation der damals unabhängigen baltischen Staaten im Jahre 1940 aufgrund des geheimen Zusatzprotokolls des Hitler-Stalin-Paktes. Alle anderen Teilrepubliken der Ex-UdSSR, abgesehen von Russland, besitzen auch keine Tradition als unabhängige Staaten.

[5] Vgl. Hanne 1996, 6.

[6] Vgl. Hanne 1996, 46ff.

[7] Prominentestes Beispiel ist die derzeitige Präsidentin Vaira Vike-Freiberga, die erst Mitte der 90er Jahre aus Kanada zurückkehrte. Sie spricht wie die meisten Exillettten auch kein Russisch.

[8] In Litauen konnten sich, anders als in Lettland oder Estland, die Reformkommunisten politisch neu organisieren und durch breite Unterstützung aus allen Bevölkerungsgruppen zeitweilig wieder in Regierungsverantwortung gelangen. Sie stellten auch 1994-98 mit Algirdas Brasauskas den Staatspräsidenten. Nicht zuletzt ihre starke Position ermöglichte eine inklusive Staatsbürgerschaftsgesetzgebung in Litauen.

[9] Auf die Auswirkungen des in die gleiche Richtung abzielende Sprachgesetzes kann hier nicht weiter eingegangen werden.

[10] Vgl. Shorr 1994, 12ff.

[11] Ausführlich zu dieser Problematik Merkel 1999, 136 ff.

[12] Gesetzestext in: Behlke 1995, 141ff.

[13] Vgl. Shorr 1994, 13.

[14] Lettland wählte damit eine exklusive Regelung wie das Nachbarland Estland, das ebenfalls eine erhebliche russische Minderheit besitzt, anders als Litauen, das die „Nulloption“, also die automatische Einbürgerung aller Einwohner, bei einer relativ kleinen russischen Minderheit, vorsah.

[15] Vgl. Shorr 1994, 31.

[16] Vgl. Shorr 1994, 33.

[17] Vgl. Hanne 1996, 86 ff.

[18] Aktuellere Einschätzung dazu in: Süddeutsche Zeitung vom 10.2.1999, Die Welt vom 31.3.1999

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Integration von Minderheiten im post-sowjetischen Raum: Lettland und seine russische Minderheit
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Osteuropainstitut)
Veranstaltung
GK Politik Osteuropa
Note
1
Autor
Jahr
2001
Seiten
17
Katalognummer
V13418
ISBN (eBook)
9783638190855
Dateigröße
490 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
integration, assimilation, rational choice, EU, OSCE, OSZE, Russian, Russia, Russland, sowjetisch, legacy
Arbeit zitieren
Maximilian Spinner (Autor:in), 2001, Integration von Minderheiten im post-sowjetischen Raum: Lettland und seine russische Minderheit, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/13418

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