Verbürgerlichung der politischen Elite in Deutschland?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2009

34 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretischer Hintergrund
2.1 Kurze Einführung in die Elitesoziologie
2.2. Elitestudien in der BRD
2.3. Verbürgerlichung der politischen Elite bei Michael Hartmann

3. Verbürgerlichung der politischen Elite in Deutschland?
3.1. Methodisches Vorgehen
3.2. Soziale Herkunft der politischen Elite im Zeitverlauf
3.3. Zusammenfassung und Fazit

I. Literaturverzeichnis

II. Anhang

1. Einleitung

„Politische Elite hat sich von Bevölkerung sehr stark entfernt“, so lautet der Titel eines Interviews mit dem Eliteforscher Michael Hartmann, welches im November 2008 in der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“ erschien1. In diesem diagnostiziert Hartmann eine zunehmende Geschlossenheit der politischen Elite Europas sowie, insbesondere in Deutschland und Italien, eine Angleichung der Politik an die Wirtschaft, welche sich traditionell aus Bürgertum und GroI3bürgertum zusammensetzt, während die Politik bisher eher durch Vertreter aus der breiten Bevölkerung repräsentiert wurde.

Ganz allgemein betrachtet offenbart die Existenz einer Elite zunächst soziale Ungleichheit in einer Gesellschaft und hat damit weitreichende Folgen für die Sozialstruktur, z. B. ungleichen Zugang zu Bildung und damit ungleiche Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Im Fokus dieser Arbeit steht jedoch nicht die Elite als solche, sondern ein ganz bestimmter Teilbereich der Elite: die politische Elite, deren Zusammensetzung und „Zirkulation“ besonders in der „politischen Soziologie“ ein wichtiges Thema sind (vgl. Wasner 2004: 13). Interessant an der politischen Elite einer Demokratie (insbesondere im Vergleich zu anderen Eliten, wie der wirtschaftlichen) ist vor allem, dass sie (direkt oder auch indirekt) durch das Volk gewählt wird, damit also durch dieses legitimiert ist. Für die Politiker in einer Demokratie, insbesondere für die direkt vom Volk gewählten, liegt es damit nahe, dass sie in ihren Eigenschaften, Einstellungen und Zielen ihrer Wählerschaft sehr nahe stehen. Für die beiden groI3en deutschen Volksparteien – CDU/CSU und SPD – bedeutet dies, dass sie vermutlich groI3e Ähnlichkeit zur breiten Bevölkerung aufweisen und ihre Vertreter damit aus allen Bevölkerungsschichten (Unterschicht, Mittelschicht, Oberschicht), insbesondere aber aus der breiten Mittelschicht stammen. Eine Verbürgerlichung der politischen Elite von CDU und SPD müsste demzufolge eine Verbürgerlichung der Bevölkerung voraussetzen. Dem entgegen stellt Hartmann eine zunehmende Entfernung der politischen Elite von der breiten Bevölkerung (Mittelschicht) in Richtung des gehobenen Bürgertums (Oberschicht) fest.

Die These von der Verbürgerlichung der politischen Elite Deutschlands soll in der vorliegenden Arbeit untersucht werden. Ist eine solche Tendenz empirisch tatsächlich auffindbar? Und welche Schlüsse lassen sich daraus für Politik, „Wählerschaft“ und Gesellschaft ziehen? Dabei orientiert sich die Arbeit in ihrem Vorgehen insbesondere an den Arbeiten des in Deutschland durch seine Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Elitesoziologie bekannt gewordenen Eliteforschers Michael Hartmann. Zur empirischen Überprüfung seiner These werden die Lebensläufe der Mitglieder des Kabinetts sowie einer Zufallsauswahl der Mitglieder des Deutschen Bundestages (MdBs) über fünf Wahlperioden hinweg untersucht.

Die vorliegende Arbeit gliedert sich in drei Teile. Nach der Einleitung wird der theoretische Hintergrund der Arbeit vorgestellt. Dazu erfolgt zunächst eine kurze Einführung in die Elitesoziologie und daran anschließend ein Überblick über den bisherigen Forschungsstand zum untersuchten Thema in der BRD gegeben, mit einem Schwerpunkt auf den Studien Hartmanns. Im Verlauf dieser Erläuterungen werden auch die für die vorliegende Arbeit zentralen Begriffe – Elite, Funktionselite und Verbürgerlichung – entwickelt. Im nächsten Schritt wird die These der Verbürgerlichung der politischen Elite Deutschlands empirisch überprüft, die Ergebnisse dargestellt und interpretiert. Schließlich werden die Ergebnisse zusammengefasst und ein Fazit gezogen.

2. Theoretischer Hintergrund

2.1 Kurze Einführung in die Elitesoziologie

„Was unter Elite verstanden wird, ist der Sache nach so alt, wie die ersten systematischen Entwürfe einer gesellschaftlichen Ordnung“ (Schäfers, 2004: 3)10.

Elite als analytisches Konzept gibt es erst seit ca. 200 Jahren (vgl. Schäfers, 2004: 3) 10. Es stammt vom französischen „élite“ (Auswahl) bzw. vom lateinischen „eligere“ (auswählen). Die Wortbedeutung ist zugleich das Gemeinsame der verschiedenen Elitetheorien. Sie gehen sämtlich davon aus, dass die Elite von einem Personenkreis gebildet wird, der einen bestimmten Ausleseprozess durchlaufen hat (Wasner 2004: 16).

Da sich die vorliegende Arbeit in erster Linie auf die Untersuchungen des Eliteforschers Hartmann bezieht, scheint es angebracht, für diese Arbeit seine Definition von Elite zu übernehmen (Hartmann 2002: 25), welche wiederum an diejenige von Dreitzel angelehnt ist (Dreitzel 1962: 71): „Unter Eliten werden [...] ganz allgemein die Inhaber von Herrschaftspositionen verstanden, die /€ raft der Macht, die mit der von ihnen besetzten Position verbunden ist, in der Lage sind, wichtige gesellschaftliche Entscheidungen maßgeblich zu bestimmen bzw. zu beeinflussen oder »zur Erhaltung oder Veränderung der Sozialstru /€ tur und der sie tragenden Normen unmittelbar beizutragen«.“

Die Elitesoziologie lässt sich grob in drei Ansätze unterteilen: die klassische Elitesoziologie, die funktionalistische Elitesoziologie und die kritische Elitesoziologie (Hartmann 2004).

Die klassische Elitesoziologie

Die Wurzeln der klassischen Elitesoziologie reichen zurück ins Ende des 19. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit stellte der Elitebegriff den Gegenpart zum Begriff der Masse dar und bezeichnete „eine kleine Gruppe wertbewusster, der Zukunft zugewandter Männer, die zur Herrschaft berufen sind“ (Schäfers, 2004: 3)10, auch als Wert-Elite bezeichnet . Das Verb „berufen“ macht deutlich, dass Eliten damals als etwas (Gott-)Gegebenes erachtet wurden. Man wurde bereits als zur Elite gehörend geboren. Die Masse, genauer „das Phänomen der städtischen Massen“, welches als Folge der Industrialisierung und der damit einhergehenden Urbanisierung sowie einer „Bevölkerungsexplosion“ aufgrund der sich zunehmend verbessernden Lebensumstände auftrat, beunruhigte das Bürgertum und insbesondere die bürgerlich akademische Intelligenz (Hartmann 2004: 13). Ihre Befürchtungen gegenüber der sich entwickelnden industriellen Arbeiterklasse waren zweierlei: Zum einen vermuteten sie eine Zunahme der allgemeinen Kriminalität, zum anderen befürchteten sie politische Unruhen und Revolutionen, wie in Frankreich (1789) oder Russland (1905) und sahen ihre existierende Herrschaftsordnung gefährdet (Hartmann 2004: 15).

Als wichtiger Vertreter der klassischen Elitesoziologie ist neben den Vorreitern LeBon („Psychologie des foules“, 1895) und Machiavelli („Il principe“, 1513) insbesondere Mosca zu nennen, der in „Die politische Klasse“, dem zweiten Kapitel seines Hauptwerkes („Elimenti di scienza politica“, 1896) feststellt, dass es in allen Gesellschaften stets zwei Klassen gibt: die zahlenmäßig kleine herrschende und die zahlenmäßig große beherrschte. Weiterhin zu nennen sind Pareto („Tratato di sociologia generale“ 1916) mit seinem Konzept vom „Kreislauf der Eliten“ als „unabänderlichem Gesetz der Geschichte, dem sich keine Gesellschaft entziehen könne“ (Hartmann 2004: 25) und Michels („Zur Soziologie des Parteiwesens und der modernen Demokratie“, 1911), welcher das „eherne Gesetz der Oligarchie“ als „unausweichliches Grundelement jeglicher Parteiorganisation“ erkannte.

Funktionalistische Elitesoziologie

Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Elitebegriff der klassischen Elitesoziologie vor allem in Deutschland stark belastet. Insbesondere der den Klassikern gemeinsame Gedanke von der „Überlegenheit einer auserwählten Minderheit“ (Hartmann 2004: 43) wurde von den Nationalsozialisten genutzt und Elite gleichgesetzt mit „Herrenrasse und Herrenmenschen“ (Schäfer, 2004: 310). In der Auseinandersetzung mit dem Faschismus kam es zu einer Neudefinition des Elitebegriffs, den Funktionseliten. Die funktionalistische Elitesoziologie geht von der Existenz verschiedener Elitetypen in den sich ausdifferenzierenden Bereichen moderner Gesellschaften aus. Diese Eliten stehen in der Regel über „personelle Verflechtungen, Kooperation, Konkurrenz und Konflikte“ miteinander in Verbindung (Hillmann/Hartfiel 2007: 177). Des Weiteren, so die Vertreter dieses Ansatzes, wird sich in der demokratischen Massengesellschaft das Leistungsprinzip durchsetzen und die bisherigen Auswahlprinzipien – Geburt und Besitz – ersetzen (Hartmann 2004: 44ff.). Damit wird der Zugang zu den Eliten prinzipiell jedem möglich sein, der die im entsprechenden Bereich erforderlichen Funktionen erfüllen kann. Zu den wichtigsten Vertretern dieser Richtung gehören Karl Mannheim, Otto Stammer, Ralf Dahrendorf, Hans Peter Dreitzel und Suzanne Keller.

Die Funktionselite ist eine Elite durch Leistung. Während man in der „klassischen Elitetheorie“ die Elite, auch als Wertelite bezeichnet, als Gegenstück zur Masse sah, gekennzeichnet durch besondere soziale, sittliche, geistliche und politische Qualität (Stammer 1969: 217) und „von der Naturnotwendigkeit einer Elitenherrschaft“ (Hartmann 2002: 10) ausging, ist die funktionalistische Sichtweise in der modernen Elitesoziologie heute weitestgehend anerkannt (Wasner 2004: 16). Stammer versteht Funktionseliten in seinem Beitrag über Elite und Elitenbildung im „Wörterbuch der Soziologie“ (Stammer 1969: 218), als „Führungsgruppen der Gesellschaft und des Staates“, bestimmt durch ihre Funktionen, „die sie im gesellschaftlich politischen Wirkungszusammenhang übernehmen. Zur Teilnahme an der Führung ist der einzelne dann nicht kraft einer exklusiven gesellschaftlichen Qualität, nicht als Träger vorgegebener kultureller Werte berechtigt, sondern auf Grund seiner beruflich-fachlichen Fähigkeiten und seiner Leistungen in Hinsicht auf eine objektive gesellschaftliche oder politische Funktion.“ Diese Elite ist eine „im Prinzip [...] offene Elite, die in ihrem personellen Bestand jederzeit auswechselbar und abberufbar ist.“

Eine konkrete Benennung der zentalen Funktionsbereiche moderner Gesellschaften findet sich bei Dahrendorf (Dahrendorf 1968): 1. Wirtschaft; 2. Politik und öffentliche Verwaltung; 3. Forschung, Wissenschaft und Bildung; 4. Kirchen; 5. Kultur, Kunst und Freizeitindustrie; 6. Justiz und 7. Militär. Die vorliegende Arbeit betrachtet lediglich die Elite eines dieser (Teil-) Bereiche: die politische Elite.

Kritische Elitesoziologie

Die kritische Elitesoziologie setzt sich kritisch mit dem funktionalistischen Ansatz auseinander. Ihr „zentraler Bezugspunkt“ ist „das Verhältnis zwischen Eliten und Klassen“ (Hartmann 2004: 76). Sie versucht insbesondere, die Eliten und deren Legitimation aus ihrem Verhältnis zu den anderen gesellschaftlichen Klassen heraus zu erklären. Vertreter dieser Richtung sind, neben anderen, C. Wright Mills („Power Elite“, 1956) und Pierre Bourdieu („La distinction“, 1979), welcher „kulturelle und symbolische Determinanten“ als „verborgene Mechanismen der Macht“ aufdeckt (Wasner 2004: 60). Ferner ist diesem Ansatz auch der Autor zuzurechnen, der im Folgenden die größte Beachtung erfährt: Michael Hartmann. Seine Kritik an der funktionalistischen Elitesoziologie formuliert er in seinem 2002 erschienen Werk „Der Mythos von den Leistungseliten“, in dem er behauptet: „Für Spitzenkarrieren in Deutschland ist noch immer die soziale Herkunft ausschlaggebend, nicht die individuelle Leistung.“

Zu den zentralen Fragen der Elitesoziologie, unabhängig vom gewählten Ansatz, gehören die Frage nach der Identifikation der Eliten, die Frage nach dem „sozialen Hintergrund/Umfeld“ der Eliten, die Frage nach Karriereverlauf, persönlichen Merkmalen und Denkmustern der Eliten, die Frage nach der Elitenzirkulation oder auch die Frage nach Arbeitsweise und Kommunikation der Eliten (Wasner 2004: 23–27). Um etwaige Verbürgerlichungstendenzen aufzudecken, beschäftigt sich die vorliegende Arbeit in erster Linie mit der Frage nach dem sozialen Hintergrund der politischen Elite, bezogen auf soziale Herkunft (Beruf des Vaters) und sozialen Status (eigener Beruf) der Personen in politischen Elitepositionen.

2.2. Elitestudien in der BRD

Die Neudefinition des Elitebegriffs durch die funktionalistischen Theoretiker konnte die Skepsis der breiten Bevölkerung gegenüber diesem Begriff nicht beseitigen. Nach den Arbeiten von Dahrendorf, Stammer und Dreitzel in den 1960er Jahren gab es zunächst kaum mehr nennenswerte Elitestudien in den Sozialwissenschaften. Zu nennen sind an dieser Stelle jedoch die vier großen politikwissenschaftlichen Elitestudien aus Mannheim (1968, 1972, 1981) bzw. Potsdam (1995). Das übereinstimmende Credo dieser Studien lautet, dass die „Zugangschancen zu den Elitepositionen in der Bundesrepublik formal gesichert sind“ (Belwe 2004: 210; Bürklin/Rebenstorf 1997: 98) . Insbesondere die Bildungsexpansion führte zu einer Verbreiterung der Rekrutierungsbasis der Elite, sodass nicht die soziale Herkunft, sondern die formale Qualifikation bzw. Leistung zunehmend entscheidendes Kriterium für den Zugang zu Elitepositionen geworden sei.

Zu einer Wende bezüglich der Elitenthematik in den Sozialwissenschaften kam es Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre, bedingt durch das Aufkommen des Neoliberalismus und den Untergang des „real existierenden Sozialismus“ (Hartmann 2002: 14), der bis dahin, zumindest für einen Kreis von Personen, als Alternative zum Kapitalismus galt. Deutschland nahm in der Weltpolitik eine neue Stellung ein. Der Ruf nach Eliten wurde laut, um internationale Wettbewerbsfähigkeit zu gewährleisten (Hartmann 2002: 12–14). Besonders deutlich macht dies ein Ausspruch des ehemaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder aus dem Jahr 1998 - „Unsere Gesellschaft braucht Eliten“ – den er mit der Forderung von Eliteuniversitäten bekräftigte, welche 2005 in der „Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder zur Förderung von Wissenschaft und Forschung an deutschen Hochschulen“ ihre Umsetzung fand. Der Elitebegriff wurde wieder „salonfähig“, in der Bevölkerung konnte eine zunehmende Akzeptanz der Existenz von Eliten und damit auch der Existenz sozialer Ungleichheit beobachtet werden (Hartmann 2002: 13).

Seither beschäftigt sich wieder eine ganze Reihe von Arbeiten mit Eliten und ihrer Rolle in der Gesellschaft. Dazu gehören neben Hartmann (2002; 2007; 2008) unter anderen Münch (2007; 2009), Lenhardt (2005) und Mayer (2006). Auch in der populärwissenschaftlichen Literatur stößt das Thema auf großes Interesse. Genannt werden können hier die Werke von Friedrichs (2008), Schmoll (2002) sowie von Preisendörfer (2008). Insgesamt ist die „Elitenproblematik“ in den letzten Jahren damit zu einem wichtigen und viel diskutierten gesellschaftlichen Thema geworden.

2.3. Verbürgerlichung der politischen Elite bei Michael Hartmann

Der insbesondere durch seine Forschung auf dem Gebiet der Elitesoziologie bekannt gewordene Soziologe Michael Hartmann, erregte große Aufmerksamkeit mit seiner Veröffentlichung „Der Mythos von den Leistungseliten“ aus dem Jahr 2002. In diesem widersprach er der zentralen These der Potsdamer und Mannheimer Elitestudien von der formalen Sicherung der Zugangschancen zu den Eliten in Deutschland. Hartmann führte im Rahmen seiner Veröffentlichung eine empirische Studie über die Bedeutung der sozialen Herkunft (bezogen auf den vom Vater ausgeübten Job) für Spitzenkarrieren in der BRD durch, indem er die Lebensläufe von ca. 6.500 Promovierten der Jahrgänge 1955, 1965, 1975 und 1985 der Fächer Ingenieurwissenschaften, Jura und Wirtschaftswissenschaften untersuchte. Entgegen den Ergebnissen der Potsdamer und Mannheimer Elitestudien stellt er fest, dass nach wie vor ein sehr starker Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und dem Zugang zu Spitzenpositionen in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft besteht. Karriere allein kraft individueller Leistung bezeichnet er als „Mythos“. Die Bildungsexpansion führte zwar zu einer sozialen Öffnung des Bildungssystem, nicht aber zu einer sozialen Öffnung der Eliten (Hartmann 2002: 20–22). Auf die „Geschlossenheit“ als zentrales Merkmal der deutschen Eliten verwies indes vor über 40 Jahren bereits Ralf Dahrendorf (Dahrendorf 1968: 293 ff.). Zwischen den von Hartmann untersuchten Bereichen bestehen jedoch Unterschiede. So ist der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Spitzenkarriere im Bereich der (Privat-)Wirtschaft am stärksten, nimmt dann über (die staatlichen Sektoren) Justiz und Politik bis hin zur Wissenschaft an Stärke ab. Da für die Bearbeitung der Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit die Bereiche Politik, aber auch die Wirtschaft (Annäherung der politischen Elite an die wirtschaftliche Elite) zentral sind, werden die Ergebnisse Hartmanns bezüglich dieser zwei Bereiche im Folgenden kurz vorgestellt.

Die Wirtschaftselite nimmt in Hartmanns Veröffentlichung den größten Platz ein, da sie, so Hartmann, „unzweifelhaft den größten Einfluss auf die gesellschaftliche Entwicklung besitzt“ (Hartmann 2002: 61). Wie bereits erwähnt, hängt das Erreichen einer Spitzenposition in der Wirtschaft - im Vergleich zu Politik, Justiz und Wissenschaft - am stärksten von der sozialen Herkunft ab. Es gilt: je „höher“ die soziale Herkunft (des Promovierten), desto wahrscheinlicher eine Karriere in einer Spitzenposition der deutschen Wirtschaft. „Soziale Auslese wirkt nicht nur vermittels der ungleichen Bildungsbeteiligung der verschiedenen Klassen und Schichten der Gesellschaft, sondern ganz direkt“ (Hartmann 2002: 70f.). Dieser „Herkunftseffekt“ wird weder durch Studienfachwahl, noch durch Kohortenzugehörigkeit, die beide einen Einfluss auf die Karrierewahrscheinlichkeit ausüben, verringert (Hartmann 2002: 73). In der Besetzung von Spitzenpositionen in der Wirtschaft beobachtet Hartmann über die Zeit trotz Bildungsexpansion gar einen Prozess der sozialen Schließung (Hartmann 2002: 79). Sein abschließendes Fazit lautet „[...] je näher man an die eigentlichen Schaltstellen der Macht kommt, umso schärfer fällt die soziale Selektion aus“ (Hartmann 2002: 81). Den entscheidenden Grund für den hohen Erfolg der Kinder aus Bürger- und Großbürgertum im Gegensatz zu Kindern aus Arbeiter- und Mittelschicht sieht Hartmann im Habitus, oder auch im „kulturellen Kapital“ (Bourdieu, 1979). Entscheidend für eine Karriere in den Spitzenpositionen der Wirtschaft sind, so Hartmann, Persönlichkeitsmerkmale, die in frühester Kindheit im Rahmen der Sozialisation in der Familie ausgebildet bzw. geprägt wurden. Zu diesen gehören „die Vertrautheit mit den in den Vorstandsetagen gültigen Dress- und Verhaltenscodes, eine breite bildungsbürgerlich ausgerichtete Allgemeinbildung, eine ausgeprägte unternehmerische Einstellung [...] und als wichtigstes Element persönliche Souveränität und Selbstsicherheit“ (Hartmann 2002: 122). Da dies die Eigenschaften sind, die die Topmanager selbst aufweisen, entsteht durch Bewerber mit gleichen bzw. ähnlichen Persönlichkeitsmerkmalen ein Gefühl der Vertrautheit und Sicherheit bei den Managern, die ihre Entscheidungen oft unter hohem Druck und auf der Basis unsicherer Informationen treffen müssen (vgl. Hartmann 2002: 120). Bewerber, die diese Verhaltensweisen erst erlernen müssen – sprich insbesondere Bewerber, die aus der Arbeiter- oder Mittelschicht stammen – werden diese niemals so sicher beherrschen und niemals so souverän mit ihnen umgehen, wie Bewerber, die bereits von Geburt an mit ihnen vertraut sind (vgl. Hartmann 2002: 126). Weitere, die Bewerber aus dem bürgerlichen Niveau unterstützende Faktoren sind die Erwartungen der Familie, ihre Informationen und Informationsquellen sowie die finanziellen Ressourcen der Familie (Hartmann 2002: 129f.). Entscheidend für den Erfolg der Bewerber aus Bürger- und Großbürgertum in der Wirtschaft und den Misserfolg der Bewerber aus Arbeiter-und Mittelschicht ist damit das „familiäre Erbe“ (Hartmann 2002: 131.)

Im Bereich der Politik ergibt sich indes ein anderes Bild. Zunächst macht Hartmann darauf aufmerksam, dass sich eine deutlich geringere Zahl der betrachteten Promovierten für eine Karriere in der Politik entscheidet (Hartmann 2002: 96). Des Weiteren stellt er fest, dass die Zahl der Juristen in der Politik die Zahl der Ingenieure und Wirtschaftswissenschaftler weit übertrifft, im Unterschied zur Wirtschaft (Hartmann 2002: 97). Der entscheidende Unterschied der politischen Elite im Unterschied zur wirtschaftlichen besteht jedoch darin, dass erstere zum Großteil von Promovierten der „Normalbevölkerung“, d. h. der breiten Mittelschicht gebildet werden (Hartmann 2002: 97). Promovierte, die aus der Arbeiterklasse stammen, sind damit in der Politik wesentlich erfolgreicher als in der Wirtschaft, wo sie nahezu erfolglos sind. Eine bürgerliche Herkunft kann sich indes in der Politik sogar negativ auswirken. So kann Hartmann für Promovierte, die aus dem gehobenen Bürgertum stammen, einen „nachteilige[n] Herkunftseffekt“ ermitteln (Hartmann 2002: 101).

Ein weiterer Unterschied zwischen Politik und Wirtschaft besteht in der Geschlechterverteilung. Während in den Spitzenpositionen der Wirtschaft eindeutig die Männer dominieren, ist in der Politik eine „geschlechtsspezifische Angleichung der Erfolgschancen“ (Hartmann 2002: 99) über die Zeit zu beobachten. Die Gründe für die Unterschiede zwischen Wirtschaft und Politik, insbesondere die größeren Erfolgsaussichten der Kinder aus Arbeiter- und Mittelschicht in der Politik, führt Hartmann auf zwei Faktoren zurück. Zum einen muss man, um in der Politik, d. h. in einer der beiden großen Volksparteien, Karriere zu machen, die klassische „Ochsentour“ durchlaufen (Hartmann 2002: 141). Eine „schnelle“ Karriere ist damit kaum möglich. Zum anderen ist es von großem Vorteil, eine „gewisse habituelle Affinität“ zur Wählerschaft aufzuweisen, die in den beiden Volksparteien in erster Linie aus der breiten Mittelschicht stammt (Hartmann 2002: 142). Weist man diese nicht auf, kann sich dies, wie bereits erwähnt, negativ auf die Karriere auswirken. Somit spielt auch in der Politik der Habitus eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Hartmann weißt jedoch ausdrücklich darauf hin, dass die Gültigkeit dieser Aussagen auf die beiden großen Volksparteien beschränkt ist. Auch macht er darauf aufmerksam, dass der vergleichsweise große Erfolg von Kindern aus Arbeiter- und Mittelschicht in der Politik teilweise darauf zurückführbar ist, dass die Kinder aus Bürger- und Großbürgertum bereits den Großteil der Positionen in der Wirtschaft besetzen, da die Politik als Arbeitgeber für sie weniger attraktiv ist (Hartmann 2002: 148).

In seinen neueren Veröffentlichungen zeigt Hartmann nun einen Wandel innerhalb der politischen Elite auf. So seien in der Politik vermehrt „Verbürgerlichungstendenzen“ beobachtbar sowie, damit einhergehend, eine Annäherung der politischen Elite an die wirtschaftliche feststellbar. In seiner neuesten Untersuchung „Eliten und Macht in Europa“ aus dem Jahre 2007 macht Hartmann darauf aufmerksam, dass diese Entwicklung, welche neben Deutschland auch in anderen westeuropäischen Staaten, z. B. Italien, beobachtbar ist, parallel zum rasanten Mitgliederverlust der beiden großen deutschen Volksparteien CDU und SPD abläuft (Hartmann 2007: 129). Die Verbürgerlichungstendenzen sind indes bei beiden Parteien gleichermaßen zu „spüren“, da sie nach wie vor die deutsche Politiklandschaft dominieren (Hartmann 2007: 134). Empirisch identifiziert Hartmann diese Tendenzen, indem er die Kabinettsmitglieder der beiden Bundesregierungen, die von einer großen Koalition aus CDU und SPD gebildet wurden, derjenigen unter Kiesinger (1966-1969) und der aktuellen unter Merkel (seit 2005), miteinander vergleicht. Während in erstgenannter jeweils sieben Mitglieder aus Bürgertum und Arbeiterklasse stammen und sechs aus dem Kleinbürgertum, stammen in der Regierung Merkel bereits acht Kabinettsmitglieder aus dem Bürgertum, zwei gar aus dem Großbürgertum und nur noch sechs aus Arbeiterklasse und breiter Mittelschicht. „Aus einer Mehrheit von fast zwei Dritteln für die aus der breiten Bevölkerung kommenden Politiker ist eine Minderheit von nur noch einem guten Drittel geworden“ (Hartmann 2007: 135). Als entscheidenden Grund für diesen Wandel benennt Hartmann den „massiven Schrumpfungs- und Umstrukturierungsprozess“, dem die beiden großen Volksparteien seit einigen Jahren unterliegen (Hartmann 2007: 137). Diese Entwicklung spiegelt die zu beobachtende zunehmende Spaltung der Gesellschaft in „arm“ und „reich“ wider, in dessen Folge die zuvor dominierende Mittelschicht, als traditionelle Mitglieder-und Wählerschicht von CDU und SPD, erodiert. Diese Entwicklung führt zu einer Veränderung des „klassischen Karrierewege[s]“ in CDU und SPD, die „traditionelle Ochsentour“ verliert zunehmend an Bedeutung (Hartmann 2007: 138). Als Folge kann man einen wachsenden Anteil von Politikern bürgerlicher Herkunft als auch von Quereinsteigern in der Politik beobachten und damit eine „sozialstrukturelle Verbürgerlichung der Volksparteien“ (Hartmann 2007: 139).

Diese These von der Verbürgerlichung der politischen Elite soll in der vorliegenden Arbeit näher beleuchtet werden. Sind die von Hartmann behaupteten Verbürgerlichungstendenzen tatsächlich auffindbar? Dazu erfolgt zunächst eine kurze Klärung, was an dieser Stelle unter Verbürgerlichung verstanden werden soll:

[...]

Ende der Leseprobe aus 34 Seiten

Details

Titel
Verbürgerlichung der politischen Elite in Deutschland?
Hochschule
Otto-Friedrich-Universität Bamberg  (Lehrstuhl für Soziologie II)
Veranstaltung
Soziologie der Eliten
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
34
Katalognummer
V134489
ISBN (eBook)
9783640426461
ISBN (Buch)
9783640424528
Dateigröße
515 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Eliten, politische Eliten, Verbürgerlichung, Elitesoziologie, Soziologie der Eliten, Michael Hartmann, CDU, SPD, Soziologie, Makrosoziologie, komparativ
Arbeit zitieren
Nora Müller (Autor:in), 2009, Verbürgerlichung der politischen Elite in Deutschland?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/134489

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