Wahrnehmung und Erinnerung in Walter Benjamins "Berliner Kindheit um neunzehnhundert" und der "Lehre vom Ähnlichen"


Hausarbeit, 2009

22 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einführung
1.1. Das Werk Walter Benjamins
1.2. Gang der Arbeit

2. Entstehungshintergründe und Zusammenfassung
2.1. „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“
2.2. „Lehre vom Ähnlichen“ und „Über das mimetische Vermögen“

3. Erinnerung und Wahrnehmung nach Sigmund Freud und Jean Piaget
3.1. Erinnerung und Traum bei Freud
3.1.1. Der seelische Apparat
3.1.2. Die Traumarbeit
3.1.3. Die Traumanalyse
3.2. Sprachverhalten und Logik des Kindes nach Jean Piaget
3.2.1. Synkretisitsches Denken
3.2.2. Verbaler Synkretismus

4. Darstellungsmerkmale der Kindheitserinnerungen
4.1. Erinnerungen des Erwachsenen
4.2. Wahrnehmungsweisen des Kindes
4.3. sprachliche Gestaltungsmerkmale

5. Die Lehre vom Ähnlichen vor dem Hintergrund der Berliner Kindheit
5.1. ontogenetische Dimension des mimetischen Vermögens
5.2. phylogenetische Dimension des mimetischen Vermögens
5.3. Magische Lektüre und Traumdeutung

6. Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

1. Einführung

1.1. Das Werk Walter Benjamins

Im Gegensatz zu der Unbekanntheit in seinen letzten Lebensjahren, die Walter Benjamin im Exil verbrachte, gehört sein Werk „mittlerweile zum Grundinventar der geisteswissenschaftlichen Diskurse“1. Dabei wurde auf sehr unterschiedliche Weise versucht, der thematischen und formalen Heterogenität und Reichhaltigkeit in den Arbeiten Benjamins Rechnung zu tragen. In der Folge kam es zu einer breiten Auseinandersetzung mit Benjamin, die fast alle geisteswissenschaftlichen Fächer ergriff und dazu führte, dass sich die verschiedensten theoretischen Richtungen auf ihn berufen.2 Benjamin war sich dieser Komplexität seines Wirkens bewusst, wie sich in einem Brief an Gretel Karplus (später Adorno) aus dem Jahre 1934 zeigt: „Gerade dir ist es ja keineswegs undeutlich, daß mein Leben so gut wie mein Denken sich in extremen Positionen bewegt. Die Weite, die es dergestalt behauptet, die Freiheit, Dinge und Gedanken, die als unvereinbar gelten, neben einander zu bewegen, erhält ihr Gesicht erst durch die Gefahr.“3

Die Arbeit Benjamins ist nach Sigrid Weigel als eine Theorie zu lesen, die in einer spezifischen Schreibweise, bei der Denk- und Schreibweise Benjamins im Bild als einem Dritten zusammentreffen, kulminiert.4 Doris Fittler hingegen hat versucht, die unter der amorphen Oberfläche wirkende Substruktur aufzuzeigen und damit die Systematik von Benjamins Eigenart, „die Trennwände zwischen den verschiedenen Fachdisziplinen und Sachbereichen nicht zu respektieren“, kenntlich zu machen. Diese Substruktur ergibt sich durch leitmotivartige Wiederholung von Formulierungen und Bildern in den verschiedensten Stoffkreisen, die dadurch immer neu zueinander in Beziehung gesetzt werden und ineinander übergreifen. Somit sind die Benjaminschen Begriffe und Gegenstände nie abschließend fixiert oder fest umrissen.5

1.2. Gang der Arbeit

Die vorliegende Untersuchung wird die beiden eng zusammenhängenden Arbeiten Benjamins, die Berliner Kindheit um neunzehnhundert und die spätere Sprachphilosophie Lehre vom Ähnlichen und Über das mimetische Vermögen zum Gegenstand haben. In der Forschung wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass es Parallelen und Zusammenhänge zwischen diesen beiden Arbeiten gibt. Diese Erkenntnis ergibt sich fast zwangsläufig aus Benjamins eigener Aussage in einem Brief an Scholem vom 28. Februar 1933: „Wenn ich Dir nun noch mitteile, daß unter so bewandten Umständen dennoch eine neue – vier kleine Handschriftenseiten umfassende – Sprachtheorie entstanden ist, so wirst du mir eine Ehrenbezeugung nicht versagen. [...] Bemerken will ich nur, daß sie bei Studien zum ersten Stück der »Berliner Kindheit« fixiert wurde“6. In der folgenden Arbeit soll herausgearbeitet werden, wie die Auseinandersetzung Benjamins mit dem eigenen Schreiben im Zusammenhang mit der Berliner Kindheit zu der theoretischen Formulierung einer Sprachtheorie in der Lehre vom Ähnlichen geführt hat. Zu diesem Zwecke werde ich zunächst die Erkenntnisse von Sigmund Freud und Jean Piaget zusammenfassen, da diese großen Einfluss auf die Berliner Kindheit hatten. Im folgenden werde ich zeigen, inwiefern sich diese beiden Arbeiten auf die literarische Umsetzung der Kindheitserinnerungen ausgewirkt haben. Im letzten Abschnitt wird dann eine Brücke zur Sprachtheorie geschlagen, in der aufgrund der Diskrepanz zwischen der Erinnerung des Erwachsenen und der Wahrnehmung des Kindes eine ontogenetische Entwicklung des mimetischen Vermögens konstatiert wird. Diese Entwicklung findet nach Benjamin eine Entsprechung in der phylogentischen Dimension des mimetischen Vermögens und bildet somit einen Ansatz für die Sprachtheorie.

2. Entstehungshintergründe und Zusammenfassung

2.1. „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“

Bei der Berliner Kindheit um neunzehnhundert handelt es sich um eine Sammlung von 30 kleinen Prosastücken, die eine Verbindung herstellen zwischen autobiographischen, poetologischen und gesellschaftskritischen Zügen. Dabei wird im Gegensatz zu herkömmlichen Autobiographien auf eine Narration entlang der Lebensstationen verzichtet, und stattdessen kurze Erinnerungsepisoden – allerdings nur aus der Kindheit – dargestellt. Durch die Wahl der knappen Darstellung und die Anbindung der Episoden an konkrete Schauplätze und Begebenheiten wird zugleich ein Hinweis auf die sprachliche Umsetzung des Erinnerns gegeben.7

Als wichtigste Vorarbeit zur Berliner Kindheit gilt das unvollendete Manuskript der Berliner Chronik, in der bereits Erinnerungstexte aus Benjamins frühester Kindheit enthalten sind, die auch zum Teil übernommen wurden. Anlass für die Chronik war ein Vertrag mit der Literarischen Welt im Oktober 1931, nach dem Benjamin in regelmäßigen Abständen subjektiv gefärbte Glossen zum Thema Berlin verfassen sollte.8 Hier beginnt Benjamins Auseinandersetzung mit der poetischen Darstellung der Erinnerungen der Kindheit. Im Gegensatz zur Berliner Kindheit, die fast vollständig auf Erläuterungen verzichtet, wird in der Berliner Chronik noch deutlich zwischen Passagen der Narration und der Reflexion getrennt. Deswegen kann sie als ein programmatischer Vorentwurf zur literarischen Umsetzung der Erinnerungspoetik in der Berliner Kindheit verstanden werden.9

2.2. „Lehre vom Ähnlichen“ und „Über das mimetische Vermögen“

Mit diesen beiden Arbeiten von 1933, wobei Über das mimetische Vermögen eine überarbeitete Fassung der Lehre vom Ähnlichen darstellt, hat Benjamin seine früheren sprachphilosophischen Überlegungen (Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, 1916) wieder aufgenommen und weiterentwickelt. Den Schlüsselimpuls gaben die Erinnerungsbilder der Berliner Kindheit, die zu einer Auseinandersetzung mit dem eigenen Schreiben führten.

Benjamin untersucht hier den Zusammenhang der ontogenetischen (individualgeschichtlichen) und phylogenetischen (stammesgeschichtlichen) Entwicklung des mimetischen Vermögens im Kontext einer allgemeinen Sprachtheorie.10 Bei dieser Entwicklung handelt es sich um eine Transformation des mimetischen Vermögens von vormodernen Ähnlichkeitsmodellen, die die Welt insgesamt als zeichenhaft betrachteten hin zu einer arbiträr-repräsentativen „Merkwelt des modernen Menschen“11, in der unsinnliche Ähnlichkeiten in der Sprache erzeugt und hervorgebracht werden können. Diese Transformation vollzieht sich nach Benjamin nun sowohl beim einzelnen Menschen, als auch bei der Menschheit als ganzer.

Im Mittelpunkt seiner Ausführungen steht der Begriff der unsinnlichen Ähnlichkeit, die „die Verspannung nicht zwischen dem Gesprochnen und Gemeinten sondern auch zwischen dem Geschriebnen und Gemeinten und gleichfalls zwischen dem Gesprochnen und Geschriebnen stiftet.“12 Die Sprache, in ihrer graphischen und akustischen Ausprägung, macht sich nicht den Dingen an sich ähnlich, sondern dem Gehalt der Dinge13, einer originären Ganzheit14. Laute und Sinnzusammenhang ergeben zusammen den Träger, an dem die Ähnlichkeit die prägenden Kräfte der Sprachgestalt als ganzer mimetisch zum Ausdruck bringt.15 Konstitutiv sind dabei die Momente der beweglichen Konstellation und des Augenblicks. Die Wahrnehmung der unsinnlichen Ähnlichkeit „ist in jedem Fall an ein Aufblitzen gebunden“16 und „bietet sich dem Auge ebenso flüchtig, vorübergehend wie ein Gestirnkonstellation“17. Bezogen auf die Sprache lässt sich also festhalten, dass es nicht um einen vorgängig festgelegten Sinnzusammenhang geht, sondern um den Sinnzusammenhang, „der in den Lauten des Satzes steckt“ und der den Grundstock bildet, „aus dem erst blitzartig Ähnliches mit einem Nu aus einem Klang zum Vorschein kommen kann“18. Ähnlichkeiten im Sprachlichen sind also keine festen Konstanten, sondern abhängig von dem Differenzverhältnis zwischen den Worten und von deren Konstellationen.19 Denn nur in bestimmten Konstellationen in einem flüchtigen Augenblick eröffnet sich die Möglichkeit der Lesbarkeit der Ähnlichkeiten.20 Damit distanziert sich Benjamin mit seiner Sprachtheorie sowohl von der Arbitraritätsthese als auch von der onomatopoetischen Theorie der Sprache. Allerdings belässt er es nicht dabei, sondern schlägt eine Brücke zwischen beiden Ansätzen, indem er einerseits eine Ähnlichkeit zwischen Dargestelltem und der Darstellung behauptet, die aber andererseits nicht allein an der sinnlichen Bereich gebunden ist.21

Aus dem Herauslesen der unsinnlichen Ähnlichkeit aus der beweglichen Konstellation schließt Benjamin die Theorie der magischen Lektüre, die ebenso „einem kritischen Augenblicke untersteht, welchen der Lesende um keinen Preis vergessen darf, will er nicht leer ausgehen“22.

3. Erinnerung und Wahrnehmung nach Sigmund Freud und Jean Piaget

Im folgenden Abschnitt werde ich die für die folgenden Untersuchungen relevanten Erkenntnisse aus den Arbeiten Sigmund Freuds und Jean Piagets kurz umreißen, um dann im nächsten Abschnitt auf die Verarbeitung dieser Erkenntnisse in der Berliner Kindheit einzugehen.

3.1. Erinnerung und Traum bei Freud

3.1.1. Der seelische Apparat

Ausgehend von der empirischen Tatsache, dass immer nur Teile der Vergangenheit der Erinnerung zugänglich sind, entwickelt Freud eine Theorie der Abspaltung bestimmter Inhalte vom Bewusstsein und bezeichnet diese Abspaltung als Verdrängung. Für die Verdeutlichung dieser Wirkungsweise entwickelte er das Konstrukt des „seelischen Apparates“, den er in die drei Systeme Wahrnehmung-Bewusstsein (Bw), das Vorbewusste (Vbw) und das Unbewusste (Ubw) unterteilt. In den beiden Systemen Vbw und Ubw wird das Vergangene gespeichert, allerdings ist nur das im Vorbewussten Gespeicherte dem Bewusstsein zugänglich und damit erinnerbar. Im System Ubw befinden sich die vom Bewusstsein abgespaltenen, also verdrängten Inhalte.23 Die Verdrängung erfolgt, weil diese Inhalte mit psychischem Leiden verbunden sind und deswegen nicht adäquat verarbeitet werden konnten. Durch die Instanz der Zensur wird der Übergang dieser Inhalte in die Systeme Bw und Vbw behindert, aber nicht verhindert. Folglich ist im Individuum die gesamte Vergangenheit vorhanden und damit auch wieder der Erinnerung zugänglich.24

3.1.2. Die Traumarbeit

Der Übergang der verdrängten Inhalte aus dem Unbewussten ins Bewusstsein erfolgt aufgrund der Zensur in entstellter Form und sie können somit vom Individuum nicht als vergangene Inhalte identifiziert werden.25 Vermittels des Traumes werden die verdrängten und entstellten Inhalte des Unbewussten wieder ins Bewusstsein gebracht, denn die Wirkung der Zensur ist im Schlaf herabgesetzt.

[...]


1 Kramer, Sven: Walter Benjamin zur Einführung. Hamburg 2003, S. 7.

2 Ebd., S. 11.

3 Benjamin, Walter: Gesammelte Briefe, Band IV. Frankfurt am Main 1998, S. 440 f.

4 Weigel, Sigrid: Entstellte Ähnlichkeit. Walter Benjamins theoretische Schreibweise. Frankfurt am Main 1997, S. 14 f.

5 Fittler, Doris: „Ein Kosmos der Ähnlichkeit“. Bielefeld 2005, S. 24 ff.

6 Benjamin, Gesammelte Briefe IV, S. 163.

7 Lindner, Burkhardt (Hg.): Benjamin-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2006, S. 653.

8 Günter, Manuela: Anatomie des Anti-Subjekts. Zur Subversion autobiographischen Schreibens bei Siegfried Kracauer, Walter Benjamin, und Carl Einstein. Würzburg 1996, S. 111.

9 Lindner, Benjamin-Handbuch, S. 654 f.

10 Lindner, Benjamin-Handbuch, S. 643.

11 Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Band II.1. Frankfurt am Main 1989, S. 206.

12 Ebd., S. 208.

13 Garber, Klaus/ Ludger Rehm: global benjamin: Internationaler Walter-Benjamin-Kongreß 1992. München 1999, S. 277.

14 Pressler, Günter Karl: Vom mimetischen Ursprung der Sprache: Walter Benjamins Sammelreferat „Probleme der Sprachsoziologie“ im Kontext seiner Sprachtheorie. Frankfurt am Main u.a. 1992, S. 115.

15 Menninghaus, Winfried: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie. Frankfurt am Main 1995, S. 68 f.

16 Benjamin, GS II.1., S. 206.

17 Ebd., S. 206.

18 Benjamin, GS II.1., S. 209.

19 Lindner, Benjamin-Handbuch, S. 650.

20 Kramer, Walter Benjamin zur Einführung, S. 31.

21 Menninghaus, Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, S. 64.

22 Benjamin, GS II.1., S. 210.

23 Wiegmann, Jutta: Psychoanalytische Geschichtstheorie. Eine Studie zur Freud-Rezeption Walter Benjamins. Bonn 1989, S. 16 f.

24 Ebd., S. 17 ff.

25 Ebd., S. 20.

Ende der Leseprobe aus 22 Seiten

Details

Titel
Wahrnehmung und Erinnerung in Walter Benjamins "Berliner Kindheit um neunzehnhundert" und der "Lehre vom Ähnlichen"
Hochschule
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald  (Deutsche Philologie)
Veranstaltung
Schrift und Bild bei Walter Benjamin (Hauptseminar)
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
22
Katalognummer
V134940
ISBN (eBook)
9783640429752
ISBN (Buch)
9783640429615
Dateigröße
565 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Kommentar des Dozenten: Die Arbeit verbindet einen eingenständigen, souverän strukturierten und konsequent verfolgten Argumentationsgang mit einer Fülle einschlägiger Forschungsergebnisse zu einer überzeugenden, klugen und kenntnisreichen Darstellung.
Schlagworte
Wahrnehmung, Erinnerung, Walter, Benjamins, Berliner, Kindheit, Lehre
Arbeit zitieren
Dipl.-Kauffrau Katja Schulz (Autor:in), 2009, Wahrnehmung und Erinnerung in Walter Benjamins "Berliner Kindheit um neunzehnhundert" und der "Lehre vom Ähnlichen", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/134940

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