Die Griechisch-Türkische Kontroverse in der Ägäis

Geopolitische, historische, rechtliche und kulturelle Aspekte


Ensayo, 2009

58 Páginas


Extracto


Inhalt

Aktuelle Einführung
Helsinki 1999: Ende des „Alptraums für die Diplomatie“ ?
Die Problemstellung

I. Geographische Grundlagen
1. Schelfmeer Ägäis
2. Kulturgeographische Einheit Ägäis

II. Historische Entwicklung
1. Vom Zentrum der Alten Welt an die Peripherie
2. „Schachbrett der Großmachtdiplomatie“
3. Die Teilung des Ägäisraums nach dem Nationalprinzip (1923).
4. Keine Reibungsflächen in der Ägäis bis 1955
5. Eskalation in den Zypernkrisen 1955, 1963, 1974

III. Völkerrechtliche Fragestellungen
1. Mehrdeutige Seerechtsübereinkommen
2. Äquidistanztheorie
3. Enklaventheorie
4. Der internationale Rahmen
5. Die Imia/Kardak-Krise 1995/96
6. Eskalation und Deeskalation 1998 und 1999

IV. Kulturelle Aspekte
1. Routinierte brinkmanship
2. Tradierte Feindbilder
3. Inszenierter Aktionismus?

Neue Literatur in Auswahl

Aktuelle Einführung

Die bilateral umstrittene Grenzziehung zwischen den Hoheitsgebieten der Türkei und Griechenlands innerhalb des Ägäischen Meeres repräsentiert eines der großen regionalen Konfliktfelder Europas. Seit nunmehr über 30 Jahren belastet diese Kontroverse um Seegrenzen, Ressourcen und Territorien das Nordatlantische Bündnis (NATO), dessen Mitglieder beide Staaten sind, sowie die Europäische Union (EU). Athen ist seit 1982 EU-Staat, Ankara ist Aufnahmekandidat und durch Zollunion und besondere Beziehungen eng mit der EU verflochten. Eine wichtige Voraussetzung der türkischen Vollmitgliedschaft ist die Klärung der Ägäisfrage in beider-seitigem Einverständnis.

Nach Jahrzehnten der Ablehnung eines türkischen EU-Beitritts unterstützt Athen gegenwärtig offiziell die EU-Bestrebungen Ankaras. Der Grund ist die Annahme, durch die „Europäisierung des Konflikts“ Stabilität und Frieden in der Region erreichen zu können. Als Höhepunkt vertrauensbildender Maßnahmen galt der Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyıb Erdoğan vom 6. bis 8. Mai 2004 im Nachbarland. Seit 16 Jahren hatte kein hochrangiger türkischer Politiker Athen mehr einen offiziellen Staatsbesuch abgestattet.

Der griechische Gegenbesuch ließ sich bis zum 23. Juni 2008 Zeit, als Premierminister Kostas Karamanlis in Ankara empfangen wurde. Hier waren seit dem letzten Besuch eines griechischen Staatsmannes gar 49 Jahre vergangen.

Gleichwohl wird der Ägäis-Streit am Leben erhalten: Allein im Juni 2009 meldeten türkische Behörden 26 „illegale Luftraumübertritte“ griechischer Kampfjets über der Ägäis. Im Juli 2009 wiederholte sich das Spiel, nun allerdings von türkischer Seite. Das gegenseitige „Abfangen und Abdrängen“ hochgerüsteter F 16 Jäger aus dem jeweils als Hoheitsgebiet deklariertem Luftraum über der Ägäis gehört mittlerweile zur Routine sowohl der griechischen wie türkischen Luftwaffe.

Im Frühjahr 2005 schien wieder Bewegung in das angespannte Verhältnis Griechenlands und der Türkei in der Ägäis-Frage gekommen sein: Die Wahl des als pro-europäisch eingeschätzten Kandidaten Mehmet Ali Talat zum politischen Oberhaupt der türkischen Einwohner Nordzyperns ließ die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung der Insel im Rahmen der EU aufkeimen. Gleichzeitig trafen sich die Aussenminister von Hellas, Petros Molyviatis und der Türkei, Abdullah Gül, und versicherten sich gegenseitig „vertrauensbildender Massnahmen“ hinsichtlich der Probleme in der Ägäis. Gül versprach eine Parlamentsinitiative, um den auf den Ägäis-Konflikt bezogenen Casus Belli –Paragraphen in der aussenpolitischen Doktrin Ankaras streichen zu lassen. Doch am Rande der Ministertreffen kam es zu unschönen Szenen, wie einer „Verunehrung“ der türkischen Flagge in der Athener Kriegsakademie und einer neuerlichen Konfrontation von Küstenwachschiffen beider Staaten beim Felseneiland Imia / Kardak. Während die Aussenminister – nicht zuletzt unter dem Druck der EU – die Zeit für Verhandlungen gekommen sehen, ist die Bereitschaft zu Kompromissen in der politischen Öffentlichkeit beider Länder noch nicht erkennbar.

Auch nach der fundamentalen Regierungsumbildung in Ankara durch den Antritt der religiös-konservativ, aber pro-europäisch ausgerichteten Regierung Tayyıp Erdoğan im November 2002 blieb das Verhältnis zu Athen auf dem von einer Lösung weit entfernten status quo ante der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts eingefroren. Konziliante Rhetorik (meist im Vorfeld von Begegnungen innerhalb der EU) wechselten sich ab mit Säbelrasseln, übertriebene Freundlichkeiten wurden konterkariert durch Scheingefechte der Luft- und Marinestreitkräfte beider Länder. Irritationen ergaben sich aus der Aufnahme (Griechisch-) Zyperns in die EU (2004) und der von der türkischen Öffentlichkeit nur mit Misstrauen zur Kenntnis genommenen emphatischen Befürwortung eines türkischen EU-Beitritts seitens Athens.

Am 17. Dezember 2004 rang sich die EU-Konferenz in Brüssel zu einem „bedingten Ja“ – a conditonal yes“ - zu einer prospektiven Mitgliedschaft der Türkei in der Europäische Union durch. Zum wiederholten Male wiesen die beteiligten Regierungschefs auf den Konflikt in der Ägäis hin. Ein Passus der Vereinbarungen enthielt die ausdrückliche Aufforderung an Ankara, bis zum Beginn erster Beitrittsgespräche im Oktober 2005 in ernsthafte Verhandlungen mit Athen einzutreten.

Helsinki 1999: Ende des „Alptraums für die Diplomatie“ ?

Als wichtiges Ergebnis des Gipfeltreffens der Europäischen Union am 10. /11. Dezember 1999 in Helsinki fand die offizielle Aufnahme der Türkei in den Kreis der EU-Beitrittskandidaten weltweite Beachtung in den internationalen Medien. Der deutsche Außenminister Joschka Fischer würdigte in diesem Zusammenhang ausdrücklich, dass sich Griechenland „verantwortungsbewusst“ gezeigt habe. Erst nach zähen Verhandlungen war es nämlich der EU-Diplomatie unter Leitung der finnischen Ratspräsidentschaft gelungen, einen Kompromissvorschlag durchzusetzen. Athen machte die Aufhebung seines Vetos gegen die Anwartschaft der Türkei von mehreren Punkten abhängig, darunter: Aufnahmeverhandlungen der EU auch mit dem griechischen Teil Zyperns allein und Einberufung des Internationalen Gerichtshofs, falls die Streitigkeiten mit Ankara um die Grenzziehung in der Ägäis bis 2004 nicht auf politischem Wege gelöst seien.

Die Übernahme dieser Forderungen durch die EU-Verhandlungsführung durfte Ministerpäsident Kostas Simitis als diplomatischen Erfolg verbuchen, wenn auch die Skepsis in seinen Worten überwog: „Dieser Beschluss kann zu einer friedlichen Lösung der Probleme zwischen Griechenland und der Türkei beitragen“. Als die türkische Regierung unmittelbar nach der Ratifizierung jedoch gerade aufgrund dieser Passagen äusserste Verstimmung signalisierte und sich eine brüskierende Zurückweisung anbahnte, reisten noch am selben Tag (10. Dezember 1999) der außenpolitische Hohe Repräsentant der EU, Javier Solana, und Erweiterungskommissar Günther Verheugen nach Ankara, um die EU-Offerte zu „erläutern“. Die demonstrative Teilnahme des türkischen Premiers Bülent Ecevit an der Schlussveranstaltung in Helsinki tags darauf wurde allgemein als Zustimmung der Türkei interpretiert.

Ganz offensichtlich sind die ursprünglichen, von allen Ratsmitgliedern (also einschließlich Griechenlands) getragenen Positionen im Verlaufe jener EU-Reisediplomatie nachträglich wieder „aufgeweicht“ worden. In einem von Solana der türkischen Regierung unter Bülent Ecevit und Aussenminister Ismail Cem übergebenen Brief, der als Fax zuvor in die türkische Hauptstadt übermittelt worden war, bemühte sich der finnische EU-Ratspräsident Lipponen jedenfalls mit allen zur Verfügung stehenden diplomatischen Finessen darum, die in Frage stehenden Vertragspassus der Türkei gegenüber abzuschwächen.

So gilt nun die erwähnte isolierte EU-Aufnahme Griechisch-Zyperns nicht mehr als verbindlicher Vorgang, sollte es zu keiner sich abzeichnenden Vereinigung Zyperns kommen, sondern als unverbindliche „in Aussicht gestellte Möglichkeit“. Nichts Gutes für die Zukunft des Zypernkonflikts lässt vermuten, dass der türkische Regierungschef bereits zwei Tage danach, am 12. 12. 1999, ungerührt betonte: „Die Türkei wird ihre Zypernpolitik nicht ändern. Die Realität zweier getrennter zypriotischer Staaten muss anerkannt werden.“ Auch war in dem genannten Erläuterungsbrief nicht mehr vom Jahr 2004 als zwingend vorgeschriebene Frist für die Regelung der offenen Ägäisprobleme die Rede, sondern von einer „Empfehlung“, die „lediglich als Termin für die Überprüfung der bis dahin eingetretenen Entwicklung in der Ägäis“ aufzufassen sei.

Mit dieser Politik der Nachverhandlungen und der bewusst vage gehaltenen Formulierungen, die von beiden Kontrahenten verschieden ausgelegt werden, setzt die Europäische Union ihre mehr als 30-jährige Tradition der Problemverschleppung, -aussitzung und Vertagung des griechisch-türkischen Antagonismus nahtlos ins 21. Jahrhundert fort. Während der Zypernkonflikt die internationale Szene als „absoluter Alptraum für die Diplomatie“ (so US-Sonderbotschafter William Hoolbrooke) beherrscht, ist in Helsinki zum Jahresende 1999 zudem die griechisch -türkische Kontroverse um die Abgrenzung der Ägäis erneut auf der Agenda erschienen. Dieser periodisch in den Schlagzeilen der Weltpresse auftauchenden Krisenregion im östlichen Mittelmeer wollen wir die folgende Untersuchung widmen.

(Zitate aus NZZ, SZ und FAZ v. 13.12.1999)

Die Problemstellung

Wie aus dem Untertitel hervorgeht, umfasst das Thema mehrere, sich zum Teil überschneidende Problemkreise:

1) den geographischen, d.h. die naturräumliche Einordnung, Definition und Gliederung der Region, sowie
2) den historischen Hintergrund, der in die aktuelle politische kontroverse Situation übergeht und dessen Berücksichtigung für eine mögliche Klärung unabdingbar ist, und, daraus resultierend
3) juristische, völkerrechtliche und seerechtliche Fragestellungen, ferner - quasi als kulturelle Kulisse des politischen Konflikts -
4) ein Phänomen, das von den Determinanten Religion, Nation, Mentalität und Ideologie bestimmt wird.

I. Geographische Grundlagen

1. Schelfmeer Ägäis

Der erste Punkt, die geographische Grundlagen, lässt sich am besten angesichts einer geophysikalischen Karte veranschaulichen. Die Ägäis erscheint hier als ein Teil des Mittelmeeres, wir sind versucht zu sagen, eines Nebenmeeres oder Randmeeres, gelegen zwischen der Balkanhalbinsel, die in der griechischen Halbinsel ausläuft und der kleinasiatischen Halbinsel, Anatolien. Die Abgrenzung nach Westen und Osten ist damit relativ klar, nach Norden leiten die schmalen Meerengen der Dardanellen und des Bosporus über ins Schwarze Meer, das im Gegensatz zur Ägäis ein typisches Binnenmeer darstellt. Im Süden bildet eine unterseeische Schwelle, die sich von der Peloponnes über Kreta und Rhodos nach Kleinasien hinzieht, eine natürliche Begrenzung zum erheblich tieferen Libyschen Meer.

Ins Auge fallend ist die Vielzahl von Inselgruppen und Einzelinseln, die darauf hindeuten, dass hier das ursprüngliche Festland 100 bis 600 Meter abgesunken ist. Die Inseln wären demnach die aus dem Meer ragenden Bergspitzen oder Bergrücken unterseeischer Gebirgszüge. Und wer mit dem Schiff heute auf ägäische Inseln zufährt, wird sich dieses Eindrucks eines sozusagen „ertrunkenen Berglandes“ auch nicht entziehen können.

Thassos und Samothrake liegen vor der makedonisch-thrakischen Küste, die Inselgruppen der Sporaden, Kykladen und des Dodekanes inmitten der Ägäis, die Großinseln Lesbos, Chios, Samos, Rhodos sind der kleinasiatischen Küste unmittelbar vorgelagert.

Das genannte, im Diluvium (Pleistozän) abgesunkene, vom Meer überschwemmte Festland bildet also den Meeresboden der Ägäis. Wir müssen uns in diesem Zusammenhang mit dem Begriff des „Schelfs“ vertraut machen. Shelf hat im Englischen sehr viele Bedeutungen, darunter auch „Sockel“ oder „Saum“. Als geographischer Fachterminus wird „der vom Meer überspülte, flach geneigte Saum der Kontinente (des Festlands) bis etwa 200 Meter Tiefe“ als Schelf bezeichnet. Das Festland geht über in einen in Breite und Neigungswinkel schwankenden Kontinentalsockel und fällt von dort über den Kontinentalabhang steil ab zum eigentlichen Meeres- oder Tiefseeboden.

Vom Festland ausgehend folgt also vor Erreichung der Hohen See zuerst das relativ flache Schelfmeer, das sich über dem Festlands- oder Kontinentalsockel erstreckt. Das Schelfmeer nimmt demnach den Raum zwischen der Küstenlinie und dem abknickenden Kontinentalabhang ein. Geologisch wird der Schelf den Festlandsschollen zugeordnet. Davon zeugen in der Regel auch küstennahe Inseln, Klippen und Untiefen. Der Kontinentalsockel und damit das Schelfmeer gelten somit als „natürliche Verlängerung“ des Festlands. Auf die eindeutige Orientierung zum Land hin bezieht sich dann auch der Begriff des „epikontinentalen Meeres“, wie er häufig für Schelfmeer Verwendung findet.

Diese genauere Begriffsbestimmung von Festland, Schelf und Hoher See, die aus modernen geograpischen Handbüchern übernommen wurde, ist für unser Problem von zentraler Bedeutung, - und zwar nicht so sehr in geographischer, als in politischer und besonders in juristischer Hinsicht. Das Seerecht nämlich nimmt Bezug auf eben diese geographischen, also naturwissenschaftlichen, Termini und leitet auf ihrer Basis international verbindliche Rechtssätze ab (s. Punkt 3).

Wenn wir uns die Tiefenverhältnisse der Ägäis vergegenwärtigen (siehe Karte), so erkennen wir, dass ein signifikanter Teil des Meeresbodens eindeutig unter die Begriffsbestimmung Kontinentalsockel, bzw. epikontinentales Meer fällt. Den Festländern sind sowohl auf der griechischen wie auf der kleinasiatischen Seite jeweils breite, in sich zusammenhängende Schelfbänder vorgelagert. Darauf sitzen Inseln wie Thassos, Imbros, Limnos, Lesbos, Chios, Ikaria, Samos und Kos auf.

Die Kykladen liegen auf einem eigenen ausgedehnten Schelfkomplex. Und Inseln wie Skyros, Thera, Karpathos oder deutlich auch Kreta und Rhodos und das kleine Simi besitzen individuelle „Einzelschelfe“. Der überwiegende Teil der dazwischen liegenden Meeresgebiete liegen oberhalb der 500 Meter-Tiefenlinie. Die vorher genannte Zahl von 200 Metern Tiefe als Kennzeichnung für den Kontinentalsockel ist übrigens ein rein konventioneller Wert. Die Beckeneintiefung von bis zu 500 Metern bedeutet also keinen Hinderungsgrund, dieses tiefer abgesunkene Gebiet nicht dem Kontinentalsockel zuzuordnen. Größere Tiefen von 1000 bis 2000 Metern erreicht der Ägäisboden nur stellenweise (punktuell auch über 2000 Meter). Am Südrand, gegen das Mittelmeer hin, ist im Relief des Kontinentalsockels ein beispielhafter Kontinentalabhang zum tieferen Boden des östlichen Mittelmeeres zu beobachten, der bis zu 4600 Metern Tiefe absteigt.

Fazit: Das Ägäische Meer ist ein typisches Schelfmeer oder epikontinentales Meer. Es erfüllt mit diesen geographischen Kriterien auch die oben genannten Begriffe eines Rand- oder Nebenmeeres. Weitere Beispiele von Schelfmeeren wären die Nordsee und - noch deutlicher - die Ostsee.

Dass Schelfmeere in politischer und völkerrechtlicher Hinsicht nicht immer unbedingt Problemfälle darstellen müssen, wird bei der Abgrenzung des Kontinentalsockels in Nord- und Ostsee evident. Hier konnten sich die Meeresanrainer nämlich völlig unspektakulär nach dem Prinzip der paritätischen Aufteilung und der Äquidistanz einigen. In der Ägäis jedoch kommt als Erschwerungsfaktor hinzu, dass aus dem unterseeischen Schelf zahlreiche Inseln emporsteigen. Von den 160 dauerhaft besiedelten Ägäisinseln gehören nur zwei - Imbros (Gökçeadası) und Tenedos (Bozçaadasǐ) - zur Türkei. Der ganz überwiegende Teil der Inselwelt ist griechisches Hoheitsgebiet, das somit streckenweise bis in unmittelbare Sichtweite an die türkische Festlandsküste heranreicht. Athen vertritt daher die These, dass der gesamte „insulare Festlandssockel“ griechischem Staatsterritorium entspricht. Der Türkei verbliebe also lediglich die schmale, völkerrechtlich garantierte drei-, bzw. 6-Meilenzone vor ihrer Küstenlinie. Als weiteren Effekt würde die Ägäis als griechisches Binnenmeer keine internationalen Hoheitsgewässer mehr aufweisen. Und genau dies ist Kardinalpunkt des politischen Ägäis-Problems.

2. Kulturgeographische Einheit Ägäis

Bleiben wir aber noch kurz in der physischen Geographie. Festzustellen ist, dass das ägäische Becken und seine Küstenbereiche in geologischer und morphologischer Hinsicht eine Einheit bilden. Man erkennt das u. A. an der gegliederten zirkumägäischen Küstenlinie, ein Wechsel von Steilküste, Schwemmland, Buchten, Küstenhöfen und Halbinseln, - was die ältere Geographie (Philippson, Sauerwein) etwas poetisch als „innige Verzahnung ( oder gar Vermählung) von Land und Meer“ bezeichnet haben. Und auch klimatisch und in puncto Vegetation stellt der genannte Raum eine homogene Sphäre dar, die wir im weitesten Sinne als mediterran bezeichnen können. Es existieren also keine von der Natur vorgegebenen Grenzen oder Unterscheidungen.

Die ägäischen Etesien, worunter die jahreszeitlich regelmäßig auftretenden Winde zu verstehen sind, waren für die alte Segelschifffahrt gut berechenbar und wirkten ausgesprochen verkehrsfördernd. Aus der Tatsache, dass die beiden gegenüberliegenden Küsten meeresoffen sind und über zahlreiche naturgeschützte Häfen verfügen, wird klar, dass das ägäische Meer auch für den Menschen und seine Siedlungstätigkeit niemals ein trennendes Element dargestellt hat, sondern ganz im Gegenteil als verbindende Brücke fungiert hat, eine Brücke, welche eine enge seegestützte Kommunikation zwischen den Festländern ermöglicht hat.

Als Folge dieser natürlichen Bedingungen, hat sich - naturdeterministisch gedacht - auch eine kulturgeographische Einheit des Ägäisraumes herausgebildet. Die meeresorientierte Struktur der griechischen, makedonischen, thrakischen und anatolischen Küstenlandschaften und selbstverständlich auch der Inseln war bis in unser Jahrhundert hinein ethnisch und kulturell griechisch bestimmt. Daran änderten auch weltgeschichtlich lange Perioden von Fremdherrschaften - der Römer oder der Osmanen - nichts. Die aktuelle ethnisch-sprachliche, kulturelle und nationale Scheidung der ägäischen Region in eine griechische, christlich-orthodoxe, und eine türkische, muslimische Hemisphäre ist ein machtpolitisches Ergebnis des 19. und 20. Jahrhunderts. Vorangegangen war aber eine fast 3000-jährige kulturelle konforme Kontinuität.

II. Historische Entwicklung

1. Vom Zentrum der Alten Welt an die Peripherie

Damit befinden wir uns bereits mitten in den historischen Fragestellungen. Die griechisch besiedelte relativ kleinräumige Welt der Ägäis mit ihren Inseln und den sie umgebenden Festlandsrändern bietet ein gutes Beispiel, wie ein kultureller und politischer Gunstraum vom Zentrum in die Peripherie driften kann. Im Ägäisraum beobachten wir diesen in erster Linie machtpolitisch fassbaren Vorgang mehrfach. Das antike, klassische Hellas bildet, zumindest in unserem eurozentrischen Weltbild, die Wiege der abendländischen Zivilisation.

Eine besondere Rolle spielt dabei Ionien, das westliche Kleinasien mit den Hauptstädten Ephesos, Milet, Pergamon und Halikarnassos. Und fast genau in der Mitte der Ägäischen See, auf der Kykladeninsel Delos, befand sich eines der zentralen, panhellenischen Heiligtümer. Der antike Name für das Meer lautet Aigaion Pelagos. Den Namensteil bringt man mit dem mythischen König Aigeus in Verbindung. Denkbar wäre aber auch eine Ableitung vom altgriechischen Adjektiv aigis, das windig, stürmisch bedeutet. Interessant ist die Bezeichnung Pelagos, denn Pelagos bedeutet nicht das offene Meer, sondern Meeresbucht, Meerbusen oder Sund. Bereits die alten Hellenen haben die Ägäis also nicht der hohen See zugerechnet, sondern sie als eine ringsum von griechischen Siedlungsgebiet umgebenen „Pelagos“ gedeutet.

Bis ins 4. vorchristliche Jahrhundert fungiert dieses Gebiet sozusagen als der Brennpunkt der Welt. Doch unter Alexander dem Großen und seinen Nachfolgern, den Diadochen, verschiebt sich das Machtgefüge in den ostmittelmeerischen Raum, nach Kleinasien, Syrien und Ägypten. Diese Gebiete werden profund hellenisiert, wofür im 19. Jahrhundert der Begriff Hellenismus aufkam (Johann Gustav Droysen, 1833), bzw. wir von der „hellenistischen“ Kultursphäre sprechen.

Hellas und die Ägäis, von wo dieser raumübergreifende Hellenismus eigentlich seinen Ausgang genommen hatte, gerieten demgegenüber machtpolitisch und kulturell an den Rand und erlitten innerhalb des bis ins 2., 3. nachchristliche Jahrhundert prosperierenden hellenistischen Großraums einen eklatanten Bedeutungsverlust. Der periphere Status der Ägäis setzte sich sodann unter der römischen und unter der folgenden oströmisch-byzantinischen Herrschaft fort. Bis ins hohe Mittelalter lag der politische und kulturelle Schwerpunkt des Griechentums nicht etwa in Griechenland oder der Ägäis, sondern in Konstantinopel, in Anatolien, am Pontus und im Ostmediterraneum.

Der Ägäisraum spielte keine authentische politische Rolle mehr, behielt aber gleichwohl seinen griechischen Charakter. Wobei von byzantinischer über die osmanische Periode bis in die Jetztzeit als „Grieche“ definiert wird, wer griechisch-orthodoxen Glaubens war, bzw. ist. Diese religiöse Bestimmung der Kulturgemeinschaft beinhaltet also eine strikte Abgrenzung sowohl gegenüber dem lateinisch-katholischen Westen wie auch gegenüber dem seit dem 13. Jahrhundert immer weiter nach Westen vorrückenden Islam, dessen Träger die Osmanen waren. Griechenland und die Ägäis geraten in nachantiker Zeit machtpolitisch in die Zwickmühle jener expansiven Kräfte, die sowohl vom muslimischen Osten wie vom katholischen Westen her in die Ägäis drängen.

Als westliche Macht wären hier an erster Stelle die Handelsrepubliken Venedig und Genua zu nennen, die bis ins 17. Jahrhundert weite Teile der Ägäis kontrollieren. Beide Seemächte profitieren von der Seidenstraße und den Handelswegen von Asien. Ein interessantes Phänomen ist in diesem Kontext am Rande zu vermerken: Der moderne Ägäis-Reisende stößt auf den Inseln eigentlich vorwiegend auf zwei Arten von kunsthistorischen Denkmälern: antike Säulen und venezianische Kirchen. Daraus lässt sich folgern, dass der Ägäisraum eigentlich nur in diesen beiden geschichtlichen Perioden eine kulturgeschichtlich bedeutendere Rolle gespielt hat, die sich auch in Bauwerken manifestiert hat.

[...]

Final del extracto de 58 páginas

Detalles

Título
Die Griechisch-Türkische Kontroverse in der Ägäis
Subtítulo
Geopolitische, historische, rechtliche und kulturelle Aspekte
Autor
Año
2009
Páginas
58
No. de catálogo
V135497
ISBN (Ebook)
9783640417681
ISBN (Libro)
9783640411030
Tamaño de fichero
587 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Griechisch-Türkische, Kontroverse, Geopolitische, Aspekte
Citar trabajo
Dr. Michael Weithmann (Autor), 2009, Die Griechisch-Türkische Kontroverse in der Ägäis, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/135497

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Título: Die Griechisch-Türkische Kontroverse in der Ägäis



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