Der Alkohol, die Dichter & die Literatur

Eine Dokumentation


Essay, 2009

31 Pages


Excerpt


I

"Den nächsten Planeten bewohnte ein Säufer. Dieser Besuch war sehr kurz, aber er tauchte den kleinen Prinzen in tiefe Schwermut. – 'Was machst du da?' fragte er den Säufer, den er stumm vor einer Reihe voller Flaschen sitzen sah. – 'Ich trinke', antwortete er mit düsterer Miene. – 'Warum trinkst du?' fragte ihn der kleine Prinz. – 'Um zu vergessen', antwortete der Säufer. 'Um was zu vergessen?' erkundigte sich der kleine Prinz, der ihn schon bedauerte. – 'Um zu vergessen, daß ich mich schäme', gestand der Säufer und senkte den Kopf. – 'Weshalb schämst du dich?' fragte der kleine Prinz, der den Wunsch hatte, ihm zu helfen. – 'Weil ich saufe', endete der Säufer und verschloß sich endgültig in sein Schweigen."

Wie sehr auch Antoine de Saint-Exupérys Märchen-Prinzen der planetarische Zwischenstop vor seiner Erdenlandung befremdete, so dürfte es nur den der bürgerlichen Literaturgeschichtsschreibung Hörigen irritieren, wenn offenbare Lebens- oder Todeselixiere des einen oder anderen Schriftstellers hier entkorkt werden. Nur ein auratisches Mißverständnis stünde dem entgegen. Und wie eine Literatur, die sich der Wahrheit verpflichtet weiß, kein Tabuthema kennt¹, so stehen auch nicht ihre Schöpfer unter Artenschutz.

Seit den Anfängen der Literatur ist auch Alkohol eine ihrer thematischen Facetten, da er von altersher zum menschlichen Leben gehört. In der Bibel liest man (Psalm 104, Vers 15) kurz und bündig: "Der Wein erfreue des Menschen Herz." Und selbstverständlich flossen schon in der Antike vinum und oinos: "Nunc est bibendum", prostet Horaz in einer Ode dem Leser zu, und bei Homer kann Odysseus den garstigen Zyklopen erst blenden, nachdem er ihn betrunken gemacht hat. Die Entstehung der Tragödie geht auf den Bacchuskult zurück. Und allein das Wort Symposion bedeutet ursprünglich ja nichts anderes als Trinkgelage.

Diese Tradition setzt sich in Deutschland fort in mittelalterlichen Trinkliedern, in Zechgesängen der Vaganten, überliefert in der Sammlung des Archipoeta (12. Jahrhundert) und in den "Carmina Burana"; vom 16. Jahrhundert an lösen deutschsprachige Trinklieder die lateinischen ab. In Frankreich feiert Rabelais wüst den Alkohol in seinem Roman "Gargantua und Pantagruel"; ein maßloser Zecher ist Shakespeares Falstaff. Zierlicher geht's dann wieder zu bei den deutschen Anakreontikern im 18. Jahrhundert, die - wie ihr antikes Vorbild Anakreon - den Wein und die Liebe besingen. Lessing, Goethe, Voss, Claudius, Simrock, Viktor von Scheffel schrieben ebenfalls Trinklieder, die große Verbreitung durch die studentischen Kommersbücher fanden.

*

Ungefähr bis Anfang des 19. Jahrhunderts erscheint Alkohol in der Literatur als Lustdroge und Freudenspender. Dann beginnt das Drama, wahrscheinlich, weil mit Beginn der Industriellen Revolution die Zeiten härter werden. Der erste Protagonist soll hier auf der vorläufigen Hinterbühne Amerika auftreten: Es ist der Dichter EDGAR ALLAN POE (1809-1849). Schon als 17jähriger Student begann er zu trinken, obwohl er sich, nach dem Zeugnis eines Kommilitonen, vor dem Alkohol ekelte und ihn bereits geringe Mengen in einen Rausch versetzten. Poes Kindheit war sehr unglücklich verlaufen: der Vater verließ die Familie, und nach dem frühen Tod der Mutter, einer Schauspielerin, wuchs der kleine Edgar bei Pflegeeltern auf.

Das Verhältnis zum wohlhabenden Pflegevater, der Poe anfänglich auch finanziell unterstützte, verschlechtert sich so sehr, daß Geldspritzen ausbleiben und Poe auch beim frühen Tod des Pflegevaters keinen einzigen Cent erbt. Autorenhonorare waren höchst miserabel in jener Zeit (heute sind sie nur miserabel, meistens), und so wird das Leben des Dichters zu einer einzigen grauenvollen Jagd nach dem Dollar- fürs Überleben bis zum nächsten Tag.

Seine Heirat 1836 scheint Poe psychisch stabilisiert zu haben, ein befreundeter Buchhändler jedenfalls notiert im folgenden Jahr: "Niemals habe ich bei ihm auch nur den geringsten Alkoholeinfluß bemerkt, oder daß er sich einem anderen Laster hingegeben hätte. Er war vielmehr einer der höflichsten, wohlerzogensten und intelligentesten Menschen, die ich bei meinen Reisen und Aufenthalten in verschiedenen Teilen der Welt kennengelernt habe."

Ein paar Jahre später (1843) klang es bei einem zweiten Zeitzeugen bereits anders: "Schon bei einem einzigen Glas von leichtem Wein, Bier oder Cider hatte er den Rubikon überschritten- es endete fast immer in Exzeß und Krankheit. Aber wie Coleridge kämpfte er sehr gegen diese Neigung, und ich möchte meinen, hätte er nach allen traurigen Erfahrungen und Entbehrungen ein Amt mit festem Gehalt bekommen, wäre er der literarischen Zwangsarbeit enthoben worden, dann hätte er sich davon befreien können, jedenfalls zu dieser Zeit noch."

Poe selbst beschönigte wohl seine Situation, als er 1848 schrieb, ein Jahr nach dem Tod seiner von ihm sehr geliebten Frau, durch den er einen schweren Nervenzusammenbruch erlitten hatte: "Nach Gesellschaft verlangt mich nur, wenn ich vom Trinken angeregt bin. Nur dann gehe –vielmehr ging- ich in den Kreis meiner Freunde. Da diese mich selten, genaugenommen niemals anders als angeregt gesehen haben, meinen sie, ich sei immer so. Wer mich aber wirklich kennt, weiß es besser."

Während einer Vortragsreise erleidet Poe 1849 in Philadelphia einen Anfall von Verfolgungswahn und verbringt wegen Trunkenheit eine Nacht auf einer Polizeiwache. Ein paar Monate später, auf der Rückreise wiederum von einem Vortrag, findet man ihn in Baltimore als hilflose Person auf der Straße. Im Krankenhaus versinkt er in ein Delirium, in dem er sich nach Beschreibung des behandelnden Arztes "an phantastische und eingebildete Wesen wandte, die er an den Wänden sah, das Gesicht bleich, der ganze Körper mit Schweiß bedeckt". Einige Tage darauf stirbt Poe.

Zu seinem Nachlaßverwalter hatte Poe einen ehemaligen baptistischen Geistlichen bestimmt. Dieser sah in Poes Alkoholismus keine Krankheit, sondern nur Laster und Ausschweifung, und entstellte Poes Bild in der Literaturgeschichte nach Kräften, so daß Charles Baudelaire später erzürnt schrieb: "Gibt es in Amerika keine Polizeivorschrift, die Hunden das Betreten des Friedhofs verbietet?"

Wenn man heute in den Werken Edgar Allan Poes liest, für die das Unheimliche und Gespenstische charakteristisch sind, die eine surreale Wirklichkeitswelt antizipieren, dann ist kaum vorstellbar, daß ein nüchterner Kopf sie geschrieben haben könnte, vielmehr erscheint der Alkohol als ein unabdingbares kreatives Stimulans.

*

Eine ähnliche Katalysatorfunktion hatte er fast zur gleichen Zeit in der Alten Welt für den Komponisten und romantischen Dichter E.T.A. HOFFMANN (1776-1822). Auch Hoffmann entstammte einer unglücklichen, sehr früh in die Brüche gegangenen Ehe: der Vater, ein angesehener Königsberger Jurist, war Trinker, die Mutter, bei der das Kind aufwuchs, neigte zu psychopathischen Verhaltensweisen. Außerdem hatte es die Natur mit dem späteren Künstler nicht gutgemeint: zeitlebens blieb er gnomenhaft kleinwüchsig, dazu ein überproportional großer Kopf.

Häufig notiert Hoffmann in seinem Tagebuch Trinkgelage- oder er zeichnet einfach einen Pokal, wobei ein Glas mit Flügeln wohl auf Champagner hindeutet. Ein Engagement als Kapellmeister verschlug Hoffmann nach Bamberg, wo er im Wirtshaus "Zur Rose" rasch ein Stammgast wird. Dazu die Biographin Gabrielle Wittkop-Ménardeau: "Hoffmann verbringt täglich mehrere Stunden in der 'Rose', einem vortrefflichen Gasthaus in Alt-Bamberg... Der Wirt ist mit der Kundschaft dieses Gastes sehr zufrieden, der so lange trinkt, bis er, den Kopf auf dem Tisch, einschlummert, und er gewährt ihm gern, tief in der Kreide zu stehen. Hier trifft der Dichter seine Freunde und lädt sie ein, doch meistens setzt er sich ganz allein in seinen Winkel, steckt sich seine lange Pfeife an und betrinkt sich stumm, Beute seiner Gespenster und Visionen. ...Hoffmann trinkt alles, was ihm vorkommt, außer Bier, das er als geist- und seelenloses Getränk verachtet, weil es beruhigt, beschwert und einschläfert. Die Wahrheit, die übrigens auch aus dem intimen Tagebuch hervorgeht, zwingt zu der Feststellung, daß er das war, was man unumwunden einen Säufer nennt.

Es wäre ein törichter Irrtum, wollte man auch nur einen Augenblick annehmen, er sei durch den Trunk zum Dichter geworden. Der Alkohol schreibt nicht für ihn, sondern schreibt in ihm und spielt gewissermaßen die Rolle des Mikroskops, das vorhandene, bisher nur nicht sichtbare Dinge erkennen läßt. ...Sieht man die Dinge unter diesem Gesichtspunkt, muß man zugeben, daß sein Genie viel dem Alkohol verdankt."

Hoffmann trinkt nicht nur aus Genuß, sondern vorrangig, um seine Phantasie anzuheizen, wie auch aus etlichen Bemerkungen in seinem Tagebuch hervorgeht, wenn er etwa im April 1812 notiert: "Abends mich mit Mühe heraufgeschraubt - durch Wein und Punsch."

1814 übersiedelt E.T.A. Hoffmann nach Berlin, wo die Weinstube "Lutter und Wegner" im Gendarmenmarktviertel durch ihn und seinen Zechgenossen Ludwig Devrient, den großen Schauspieler, legendär wird. Julius Eduard Hitzig, Freund und Biograph Hoffmanns, schreibt über ihn: "...so ging er, es mochte so spät sein, als es wollte, wenn alle anderen sich nach Hause begeben, noch in das Weinhaus, um dort den Morgen zu erwarten; früher in seine Wohnung zurückzukehren, war ihm nicht gut möglich.

Man denke hiebei aber nicht an einen gemeinen Trinker, der trinkt und trinkt aus Wohlgeschmack, bis er lallt und schläft; gerade das Umgekehrte war Hoffmanns Fall. Er trank, um sich zu montieren; dazu gehörte anfangs, wie er noch kräftig war, weniger; später natürlich mehr; -aber war er einmal montiert, wie er es nannte, in exotischer Stimmung, die, oft bei einer halben Flasche Wein, auch nur e i n gemütlicher Zuhörer hervorrufen konnte, so gab es nichts Interessanteres als das Feuerwerk von Witz und Geist und Glut der Fantasie, das er dann unaufhaltsam, oft fünf, sechs Stunden hintereinander vor der entzückten Umgebung aufsteigen ließ. ...Fremde, die nach Berlin kamen und ihn gern sehen wollten, suchten ihn, da seine Lebensweise bekannt war, immer in seinem Weinhause auf..."

Wie viele andere rümpfte auch Eichendorff in seiner Literaturgeschichte die Nase über Hoffmanns "Weinhausleben", während dieser darin wohl auch einen alternativen Protest sah, denn er ging, wie Hitzig bemerkt, "aus den Teesalons in das Weinhaus..., sich den Grundsatz aufstellend, daß, wenn man Kunstgenüsse haben wolle, man sie an öffentlichen Orten für sein Geld besser finde als in Privatzirkeln für beschwerliche Kratzfüße, und daß die Gesellschaft in der Weinstube vor allen übrigen den Vorzug habe, daß, wenn sie einem nicht gefiele, man weggehen könne, wenn man wolle, ohne daß es der Wirt übelnehme".

Als E.T.A. Hoffmann starb, hinterließ er bei "Lutter und Wegner" Zechschulden in der damals horrenden Höhe von 1116 Reichstalern. Der Wirt verzichtete darauf, sie einzutreiben, denn der Verdienst an seinem Stammgast, der zudem Neugierige scharenweise in das Lokal gelockt hatte, war üppig genug.

*

Nicht nur in Berlin gab es einen großen zechenden Dichter, sondern auch in Weimar: GOETHE. Ein Genußtrinker. Sein Biograph Richard Friedenthal: "Er trinkt wie stets täglich seinen guten Rotwein in großen Flaschen, Champagner, den schweren Würzburger Steinwein. ...Goethe trinkt auch als hoher Greis reichlich, schenkt ein aus großen, bauchigen Flaschen."

Zum Abendessen gehören gewöhnlich drei Sorten Wein: Goethe- ein Mann von Lebensart. Sohn August bleibt als Trinker früh auf der Strecke, die Lebensgefährtin & späte Ehefrau Christiane geht figürlich auf wie ein Hefekuchenteig und wird zum Gespött der Weimarer Gesellschaft, der Alte bleibt munter bis ins hohe Greisenalter- trotz (oder gerade wegen) einiger Bouteillen täglich: überlieferte Hauswirtschaftsbücher dokumentieren einen immensen Weinkonsum im Hause Goethe, der schon in jüngeren Jahren dichtete: "Frisch, der Wein soll reichlich fließen/ Nichts Verdrießlichs weh uns an..."

Goethe weiß, wovon er spricht, wenn er im "Faust", in "Auerbachs Keller", Mephisto geistige Getränke ad libitum herbeizaubern und alle grölend singen läßt: "Uns ist ganz kannibalisch wohl,/ als wie fünfhundert Säuen!"

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"Tränen: in Gottfried Kellers Leben sind sie nur ausnahmsweise... überliefert. An ihrer Stelle floß, wenn man der Legende glauben darf, der Wein." Dies schrieb der Schweizer Schriftsteller Adolf Muschg über seinen berühmteren Landsmann & Kollegen. Aber warum die vornehme Zurückhaltung? Die "Legende" hat durchaus Hand & Fuß, und für Kellers Alkoholismus gibt es genügend plausible Gründe, nicht bloß die üblichen Produktionszwänge und -hemmnisse beim kreativen Prozeß, nicht bloß eine ungeliebte Brotarbeit in späteren Jahren:

GOTTFRIED KELLER (1819-1890), ein manisch-depressiver Charakter, war ein Muttersohn, und die Mutter, von der er nicht nur psychisch, sondern bis zum 42. Lebensjahr auch ökonomisch abhängig war, muß eine sehr dominante, wenn nicht gar tyrannische Frau gewesen sein. Und auch auf Grund seiner Physis, die stark der E.T.A. Hoffmanns ähnelte, blieb Keller lebenslang wider Willen Junggeselle. Des öfteren verliebte er sich unglücklich in große dralle Frauen; eine endlich, nach dem Tod der Mutter, gefundene Braut beging Selbstmord.

Aus Verdruß über mißlungenes Liebeswerben treibt sich Keller 1846 in Gasthäusern herum, und beim Winterthurer Freischießen verprügelt er den Juristen und Publizisten Amman, was ihn noch lange in der Erinnerung freut: "Ich hatte doch einen guten Instinkt damals, und ich segne den Wein, der mich veranlaßte, dem widerlichen Ohrfeigengesicht sein Recht angedeihen zu lassen. Feig war er auch, denn er ist stärker als ich und ließ sich doch prügeln."

Kränkende Zurückweisungen kompensiert Keller mit übermäßigem Alkoholkonsum, woraus –wie bei seinem "Grünen Heinrich"- Raufereien resultieren. Dieses Verhaltensmuster wiederholt er immer wieder: "Bei dieser Gelegenheit muß ich Ihnen noch nachträglich gestehen, daß jenes blaue Auge, mit welchem ich einst bei Ihnen erschien, obgleich ich es abgeleugnet, dennoch von Prügeln herrührte. Ich hatte nämlich nicht nur den Schlivian geprügelt, sondern in der folgenden Nacht wieder einen, wegen dessen ich verklagt und von der Polizei um fünf Taler gebüßt wurde. In der dritten Nacht zog ich wieder aus, fand aber endlich meinen Meister in einem Hausknecht, der mich mit dem Hausschlüssel bediente, worauf ich endlich in mich ging. Es war eine Donnerstags-, Freitags- und Sonnabendsnacht, wo ich so mit gebrochenem Herzen mich umtrieb und anderen Leuten mir zur Erleichterung an den Köpfen kratzte."

Natürlich stellte Keller in reifen Jahren die Raufereien ein, aber er blieb ein Kneipengänger. Er sei, schrieb er einem Freund, "ein kleiner dicker Kerl, der abends 9 Uhr ins Wirtshaus und um Mitternacht zu Bett geht als alter Junggeselle".

Keller verelendet nicht durch den Alkohol, sondern bewältigt sein Problem, indem er, wie in kleinbürgerlich-bürgerlichen Kreisen nicht unüblich, zum Liebhaber eines guten Tropfens wird. Ja, er genießt sogar sein unfreiwilliges Junggesellentum: "Hier in Zürich ist jetzt ein hübsches Café auf der 'Meise'... Da sitzen wir in den schönen Sälen und trinken zum Andenken eine gute Flasche Gumpoldskirchner für 3 Franken 50 Rappen! Öfter als nötig ist! Das heißt, ich bin jetzt doch abends meistens zu Hause auf meinem Bürglibühel. Aber am Samstag abends und sonntags da bleib' ich in der Stadt, und dann sauf' ich für sieben Mann! Ich sag Ihnen! Und provoziere die besten Weine, daß die anderen Viecher, die Weib und Kinder haben, mit sauersüßen Mienen in die Tasche greifen, wenn sie mir, wie projektiert, die Schmiere nicht haben anwürfeln können."

Gottfried Keller sah seine Neigung zum Alkohol schließlich heiter-gelassen. Selbstironisch befand er über Fotografien von sich, daß sie "eher das Bild eines alten Vorsingers und Schnapsbruders vorstellen, als dasjenige des ersten Schöngeistes und arbitri [sic!] elegantiarum des Jahrhunderts".

*

Mit CHRISTIAN DIETRICH GRABBE (1801-1836) kommt der Elendsalkoholismus in die deutsche Literaturgeschichte. Zeitgenossen schildern den Dichter als einen abstoßend häßlichen Menschen. Ein verunglücktes Leben. Geboren in der tiefsten Provinz, im westfälischen Detmold, als Sohn des hiesigen Zuchthausleiters; juristische Studien in Leipzig und Berlin, wo er seinen Monatswechsel für Spirituosen und Theaterkarten ausgibt; in Berlin gehört er auch zu E.T.A. Hoffmanns Zechkumpanen. Grabbe beschließt, Schauspieler zu werden und erhofft sich Protektion von Ludwig Tieck in Dresden. Als er dort ankommt, ist Tieck entsetzt über seine Talentlosigkeit und sein ungehobeltes Benehmen. Grabbe blitzt bei Tieck ab. Heimkehr nach Detmold, wo er den Winter 1823/24 mit alkoholischen Exzessen verbringt. Nach einem juristischen Examen bewirbt Grabbe sich vergeblich um die Stelle eines Amtsschreibers und um den Posten eines Archivrats, schließlich kommt er bei der Militärgerichtsbarkeit unter- die Rumflasche immer in Griffnähe. Neben seiner Brotarbeit schreibt er Theaterstücke, die in zwei Bänden erscheinen. Ein Exemplar geht an Goethe - der hat nie geantwortet.

Überhastet stürzt Grabbe sich in eine Ehe, die zur Strindberg-Hölle wird. Er gibt seinen subalternen Regierungsposten auf und flieht nach Frankfurt, wo er sich mit seinem Verleger Kettembeil überwirft, was im Alkohol ertränkt wird: "Wenn er sich erheben kann, so sitzt er schon am Morgen im Schwanen oder abends 'verwitterungsselig' unter zweifelhaften Kneipgenossen, die halb mit Mitleid, halb mit Grauen, halb belustigt die Explorationen dieses aus Trottelhaftigkeit und Geist gewürfelten Unikums... dieses verwüsteten verkommenen Genies an der Quelle erleben wollen."

Zerwürfnis auch mit dem Düsseldorfer Theaterdirektor Karl Immermann, dem Grabbes Rezensionen zu harsch sind. Rückkehr nach Detmold zum Sterben. Es ist der Lebenslauf einer manisch-depressiven Persönlichkeit, die ständig schwankt zwischen anarchischem Ausbruch und kleinbürgerlicher Anpassung.

Eduard Duller, der erste Biograph Grabbes, hat 1838 als Witwentröster vorsätzliche Unwahrheiten über den Alkoholismus des Dichters verbreitet: "Denkt euch eine Mutter, die ihrem Kinde von dessen viertem Lebensjahr an täglich betäubende geistige Getränke darbietet, und ihm des Nachts bei dem Schlafengehen solche vor das Bette setzt... Mag es grausam scheinen, daß ich diesen Schleier lüfte, die Grausamkeit dieses ersten Schicksals, welches Grabbe traf, ist größer, sie darf nicht verhüllt bleiben, wenn ich meine Pflicht gegen den Toten und die Zeitgenossen erfüllen soll." Grabbes Mutter bestritt diese Vorwürfe empört und glaubwürdig.

Aber unbestritten bleibt, daß Grabbe schon während seiner Gymnasialzeit erhebliche Mengen Alkohol trank. Otto Nieten, ein Biograph um 1900, über den jugendlichen Trinker: "Gewiß ist aber, daß ihm das eigene Wesen Pein schuf. Eine Lösung von diesem Druck... schenkte ihm eine schlimme Gabe aus Pandoras Büchse, schenkte ihm Dämon Alkohol. In den im Waldesschatten malerisch gelegenen Krügen lernte der junge Grabbe diesen seinen Todfeind kennen, und der sonst mißachtete Zuchtmeistersohn imponierte, wenn nun in kecken Improvisationen das verborgene Innenleben zutage trat, und er fühlte sich beglückt, wenn seine Eindrucksfähigkeit stärker und leichter ward. Die eingeborene Wildheit kam hinzu, um es in Trinkgelagen und mit allen anderen aufzunehmen und in der wüsten Seligkeit des Rausches ein mehr als tierisches Behagen zu finden. In dem doppelten physischen und seelischen Rausch fühlte der Dichter sich zugleich freier, größer und glücklicher. ...In dieser Trunkenheit und Berauschung erreicht der Phantast ein Entladungsgefühl, das ihm der einzig erträgliche Lebenszustand wird. ...Dabei wurde er wie zwischen Scylla und Charybdis hin- und hergeschleudert; der Alkohol mußte zur Arbeit animieren und wieder trübe Stimmungen vertreiben. Nie ließ ihn dieser Dämon los, und zu dem Druck des Schicksals gesellt sich Anteil und Schuld seiner schimpflichen Charakterschwäche."

Letzteres ist eine zeitbedingte Beurteilung, die ein Krankheitsbild nicht erfaßt. Kurz vor seinem Ende befindet sich Grabbe in einem erbärmlichen Zustand. Derselbe Biograph über die Düsseldorfer Zeit des Dichters: "Immermann gewöhnte ihm zwar wenigstens zeitweise den Morgenrum ab, aber in die Spelunke konnte er ihm nicht folgen. ...Der Schauspieler Karl Ellmenreich erzählt: 'Da saß Grabbe gespenstisch, hohl und ausgemergelt, in altmodischem, braunem Frack mit schwarzer Roßhaarkrawatte ohne Wäsche. Vor ihm stand ein Glas Wein oder ein Glas Grog. Seine Unterhaltung war voll von rohen Scherzen und Zoten, zynisch, trocken, exzentrisch.' –Es wirkt wie ein Satirdrama auf die Orgien, die... Hoffmann in tollem Überschwang mit Devrient gefeiert. Eine verzerrende Karikatur neben einem Gemälde von berauschender Farbenglut. Auf der Lebenshöhe stehende Menschen in dionysischem Rausch, zu intensivstem künstlerischen Genießen beschwingt- und in einer dunklen Winkelkneipe produziert sich Grabbe einer unedlen Neugier, tötet sich ab und vergiftet sich geflissentlich, um aus dumpfer Betäubung nicht zu erwachen. 'Aus dem Zauberquell des Weines sprudelt Schönes und Gemeines.'"

Eine "Natur in Trümmern" hat Immermann Grabbe genannt, und Heine nannte ihn - nicht ohne Bewunderung - "einen betrunkenen Shakespeare".

*

Ein Blick über die Grenzen, nach Frankreich. Einer der Dichter, die hier in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die moderne Lyrik prägen, ist PAUL VERLAINE (1844-1896). Und auch er ein ebenso unglücklicher Trinker wie Grabbe. Als "Alkoholiker mit lyrischem Katzenjammer" bezeichnet ihn der Schriftsteller Stefan Zweig, deutscher Herausgeber der Gesammelten Werke Verlaines (1922), in einer merkwürdig borniert moralisierenden Einleitung zum zweiten Band.

Und weiter Stefan Zweig: "Ein Einziges... ist Gefahr: die frühe Gewöhnung an den Alkohol in allen Formen. Verlaine, der Schwache, sich selbst immer Nachgebende, kann bei keinem Kaffeehaus, keinem Schank vorbei, ohne nicht rasch einen Absinth, einen Branntwein, einen Curaçao zur Anfeuerung zu nehmen, und die Trunkenheit treibt dann aus dem zarten Menschen eine sprunghaft böse Realität heraus. Er wird dann plötzlich zänkisch, wie Gottfried Keller..., und allmählich schwemmt der Absinth in stiller beharrlicher Arbeit alles Sanfte, Zarte aus dem schwachen Menschen heraus und entfremdet sich ihm selbst. ...'Le seul vice impardonnable', das einzige unverzeihliche Laster seines Lebens hat er selbst seine Trunkenheit und seine Trunkwut genannt. Und sie allein hat ihm den Boden unter den Füßen langsam weggeschwemmt."

Verschiedene Versuche, in bürgerlichen Berufen Fuß zu fassen, mißlingen, und auch eine hastig geschlossene Ehe scheitert gründlich. Verlaine lebt seine bislang latente Homosexualität aus mit Arthur Rimbaud, dem ungestümen Wunderkind. Beide kletten magnetisch aneinander in einer sadomasochistischen Beziehung. Stefan Zweig: "Zunächst treiben sie sich noch gemeinsam in Paris herum und trinken und reden, reden und trinken, nur daß Rimbaud, das Genie, der urkräftige und überkräftige dämonische Mensch, trinkt, um sich freier zu fühlen, um seinem Übermaß im Rausche gemäßer zu sein, indes Verlaine trinkt aus Angst, aus Reue, aus Melancholie, aus Schwäche. ...Rimbaud... wird der 'infernal époux', der teuflische Gatte, der Verlaine unterjocht wie eine Frau..."

Nach gemeinsamen Jahren in Londoner Kneipen dann in Brüssel die beiden Schüsse des angetrunkenen Verlaine auf Rimbaud, der mit einer Schramme davonkommt, aber Verlaine erhält eine zweijährige Gefängnisstrafe und wird für kurze Zeit fromm. Nach seiner Entlassung trifft er seinen geliebten Peiniger in Stuttgart wieder, wo Rimbaud als Sprachlehrer arbeitet. Das Melodram, das sich nun ereignet, schildert Stefan Zweig à la Stefan Zweig: "Neophyt der eine, Atheist der andere, haben sie das eine noch gemein- die Leidenschaft für den Trunk, und so sprechen und trinken sie zusammen bis in die tiefe Nacht. Zeuge des Bekehrungsversuches ist niemand gewesen: man kennt nur sein tragisches Ende. Im Heimwandern geraten die beiden Trunkenen in Streit, und am Ufer des Neckar, im flutenden Mondlicht der Mitternacht schlagen die beiden - ein grandioser Augenblick der Literaturgeschichte! - schlagen die beiden größten Dichter Frankreichs mit Stöcken aufeinander los. Der Kampf dauerte nicht lang. Rimbaud, dieser athletische, kräftige Bursche, entledigt sich leicht des nervösen, in Trunkenheit schwankenden Verlaine. Ein Hieb über den Kopf wirft ihn hin, blutig und ohnmächtig bleibt er am Ufer liegen. Es war ihre letzte Begegnung."

Verlaine setzt sein Boheme-Leben fort, "...und allmählich schwemmt der Alkohol die Frömmigkeit aus Verlaines Dichtung wieder weg. Die greise Mutter macht noch vergebliche Versuche, ihn zu retten; 1885 kauft sie ein Gut, um mit ihrem Sohn ein zurückgezogenes Leben zu beginnen, aber der Haltlose versäuft sich in den bäuerlichen Kabaretts und begeht dann in der Trunkenheit sein letztes, sein schmählichstes Delikt: er wird gewalttätig gegen seine fünfundsiebzigjährige Mutter und deshalb vom Tribunal zu Vouziers zu einem Monat 'wegen Gewalttätigkeit und gefährlicher Drohung' verurteilt."

Excerpt out of 31 pages

Details

Title
Der Alkohol, die Dichter & die Literatur
Subtitle
Eine Dokumentation
Author
Year
2009
Pages
31
Catalog Number
V135841
ISBN (eBook)
9783640463688
ISBN (Book)
9783640460847
File size
495 KB
Language
German
Keywords
Alkohol als Treibstoff für Schriftsteller, Alkohol als Literaturthema
Quote paper
Niels Höpfner (Author), 2009, Der Alkohol, die Dichter & die Literatur, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/135841

Comments

  • Bert Hensel on 8/22/2010

    Höpfners Darstellung des Alkoholismus in der Literatur ist brillant. Weil journalistisch akribisch recherchiert. Ohne sich durch Selbstdarstellung über die toten Körper weltbekannter schreibender (geschrieben habender) Alkohol-Leichen als eine eigene Überflieger-Persönlichkeit zu stilisieren.
    Salute! Oder Prost, wie der Italiener sagt.
    Der Darmstädter Journalist und Schriftsteller Bert Hensel (58).
    Nachsatz (nicht veröffentlichungsträchtig): Dass ich mal erleben darf, dass endlich das Wort postum richtig (ohne h) geschrieben wird, ist schon eine mittlere Offenbarung. Statt sprachschwacher Offenbarungseide.
    Habe jahrelang im Darmstädter Echo dafür gekämpft, dass ein Wort wie Albtraum richtig (keineswegs mit p) seinen Wiedereinzug in die deutsche Sprache findet.
    Ich weiß nicht, ob diese Botschaft Sie erreicht. Wollte nie einen Computer daheim haben. Habe ihn jetzt. Als verlängerte Schreibmaschine. Aber die Eingangsvorschriften zu einer digitalen Mitteilung bringen mich fast um den Verstand. Schalte dann einfach ab.
    Schreibe gerade an einer humorvoll sprachkritischen Nachdenk-Fibel für junge Nachwuchs-Menschen im elenden Digital-Zeitalter. Titel: "Artikel fertig. Sprache futsch." Gruß von Bert "The word", Hensel "The pencil".

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Title: Der Alkohol, die Dichter & die Literatur



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