Mythologische Themen in der Lyrik des Siglo de Oro: Garcilaso und Góngora


Thesis (M.A.), 2002

90 Pages, Grade: 2,4


Excerpt


Inhalt

1. Einleitung

2. Mythen und ihre Funktion

3. Mythenrezeption in Spanien
3.1 Mittelalter (bis 1500)
3.2 Neuzeit

4. Lyrik des Siglo de Oro (Überblick)
4.1 Renaissance
4.2 Barock

5. Warum fiel die Wahl auf Garcilaso und Góngora?

6. Garcilasos mythologische Sonette
6.1 Orpheus-Mythos (Sonett XV „Si quejas y lamentos pueden tanto“)
6.2 Daphne-Mythos (Sonett XIII „A Dafne ya los brazos le crecían“)
6.3 Ironisierung des Leander-Mythos (Sonett XXIX „Pasando el mar
Leandro el animoso“)
6.4 Nymphen als Trostspender (Sonett XI „Hermosas ninfas que
en el rio metidas“)

7. Góngoras mythologische Sonette
7.1 Liebe als Gefahr
7.1.1 Sonett „La dulce boca que a gustar convida
7.1.2 Sonett „No destrozada nave en roca dura
7.2 Orpheus-Variationen
7.2.1 Sonett „Ni en este monte este aire..
7.2.2 Sonett „Herido el blanco pie del hierro breve
7.3 Pastoraler Diskurs (Sonett „Al tronco Filis de un laurel sagrado“)

8. Zusammenfassung der Ergebnisse

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Mythologische Themen begleiten und beeinflussen seit Jahrhunderten, ausgeweitet auf das Klassische Altertum sogar seit Jahrtausenden, das Leben der Menschen in den unterschiedlichsten Lebensbereichen. Die ursprünglich religiöse Bedeutung mythologischer Figuren in der Antike wandelte sich im Laufe der Zeit zu einem schöngeistigen Intresse seitens der Schriftsteller und Künstler. Somit eroberte die Mythenwelt der Griechen und Römer anhand zahlreicher rezipierter Stoffe und mythologischer Kompilationen auch das nachchristliche Europa, einschließlich der Iberischen Halbinsel. Die Rezeption klassisch-mythologischer Quellen in der spanischen Literatur ist dabei von so großem Umfang, daß eine Einschränkung des Arbeitsthemas vorgenommen werden mußte. Aus diesem Grund beschränkt sich die folgende Analyse nunmehr auf die mythologischen Themen in der Lyrik des Siglo de Oro am Beispiel zweier Autoren, Garcilaso de la Vega und Luis de Góngora y Argote. Beide Dichter waren herausragende Persönlichkeiten und Repräsentanten ihrer jeweiligen Epochen: Garcilaso revolutionierte die Renaissancelyrik, während Góngora der Barockliteratur eine entscheidende Prägung verlieh. Beide Schriftsteller haben eine Vielzahl lyrischer Werke verfaßt, welche in dieser Arbeit jedoch nicht berücksichtigt werden konnten. Deshalb wurde eine Auswahl mythologisch gefärbter Sonette getroffen, die keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt und lediglich einen Einblick in die Verarbeitungsweise mythologischer Themen in den Werken dieser Autoren geben soll. Dabei kommt dem Petrarksimus und der italienischen Renaissancelyrik eine besondere Bedeutung zu, wie im Folgenden anhand der antikisierenden und italianisierenden Tendenzen beider Dichter zu sehen sein wird. Ehe die Sonette einer eingehenden Analyse auf syntagmatisher, pragmatischer und semantischer Ebene unterzogen werden, soll zunächst geklärt werden, was sich hinter dem Begriff der Mythologie verbirgt, und welche Zwecke und Funktionen sie im Laufe der Jahre zu erfüllen hatte. In diesem Zusammenhang sollen auch Quellen vorgestellt werden, die in Mittelalter und Neuzeit die Grundlage mythologischer Rezeption und Verarbeitung in Europa gebildet haben könnten. Auch hier wird keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhoben, zumal die Fülle des Materials über den zur Verfügung stehenden Umfang dieser Arbeit hinausginge. Die Mythenrezeption des spanischen Mittelalters und der Neuzeit stellt einen weiteren Unterpunkt der Arbeit dar. Hier wird versucht werden, ein Resümee des Rezeptionsumfangs klassischen Gedankenguts zu erstellen. Darüberhinaus spielen die spezifischen lyrischen Tendenzen und geistigen Haltungen der Renaissance und des Barock in einem weiteren Arbeitspunkt eine wichtige Rolle. Sie legen die Qualifikationen beider Dichter dar, auf denen auch die epochale Zuordnung Garcilasos und Góngoras beruht. Im analytischen Teil der Arbeit, der insbesondere auf der Sonettinterpretation aufbaut, wird anhand von Sonettaussagen versucht werden, die Funktion jeweiliger mythologischer Einschübe in den Texten zu ermitteln. Abschließend sollte erwähnt werden, daß aufgrund des eingeschränkten Umfangs dieser Arbeit, nicht alle Aspekte, die ein Leser der Abhandlung möglicherweise als fehlend empfinden könnte, erwähnt werden konnten. Dies kann natürlich Fragen unbeantwortet lassen, ist jedoch unvermeidlich, da lediglich die zentralen Punkte eines jeden Arbeitsteils in die Analyse einfließen konnten. Der Schwerpunkt dieser Studie liegt auf der Analyse der Sonette. Es kann sich aus dem Textfluß ergeben, daß einige Seiten nicht vollständig beschrieben wurden, was damit zu erklären ist, daß auf diese leeren Stellen die Sonette folgen, welche unbedingt durchgehend, ohne Seitenumbruch, abgebildet werden sollten. Die Literaturangaben in den Fußnoten geben die neustmöglichen Auflagen und Werkausgaben an, die während des Verfassens dieser Studie zugänglich waren. Den Ausführungen liegt die alte Rechtschreibung zugrunde.

2. Mythen und ihre Funktion

Gegenstand dieser Arbeit ist das Aufgreifen mythologischer Themen in der Lyrik des Siglo de Oro. Aber was genau sind Mythen, was ihre Funktion und weshalb spielen sie in der Literatur der Renaissance und des Barock eine so entscheidende Rolle? Dieser Frage soll hier nachgegangen werden, um Aufgabe und Bedeutung mythologischer Elemente im Wandel der Zeit besser einschätzen und bewerten zu können. An dieser Stelle sollte darauf hingewiesen werden, daß es sich um die griechisch – römische Mythenwelt handelt, welche nachhaltig Eingang in die europäische Literatur- und Kunstgeschichte gefunden hatte und somit unseren Studien zugrunde liegt. Es handelt sich beim folgenden Mythologie - Diskurs nur um einen einleitenden Überblick ins Thema, da eine Vertiefung der Materie über den hier zur Verfügung stehenden Rahmen hinausginge. Als Einstieg ins Sachgebiet soll ein enzyklopädisches Zitat dienen:

„[Mythen sind] meist Erzählungen, die ›letzte Fragen‹ des Menschen nach sich und seiner als übermächtig, geheimnisvoll und von göttl[ichem] Wirken bestimmt empfundenen Welt artikulieren und dieses Ganze von seinen Ursprüngen her verständlich zu machen suchen [...]. So handeln sie vom Anfang der Welt [...] und von ihrem Ende [...], vom Entstehen der Götter [...] und ihren Taten, vom Werden und Vergehen der Natur im Wechsel der Jahreszeiten, von Tag und Nacht [...].“[1]

Dies läßt erkennen, daß sich Zivilisationen von jeher mit Fragen nach der Entstehung der Welt befaßt und Erklärungen für das Leben auf Erden gesucht haben. Mythen boten Lösungen für das Gute wie das Böse auf Erden, für Krankheiten und Tod, für Krieg und Frieden, kurzum für Alltagssituationen, mit denen jeder Einzelne im Volk konfrontiert wurde. Auch existieren Mythen über den Ursprung von Stämmen und Völkern, der Begründung des Rechts sowie der staatlichen Ordnung eines Landes.[2] Mythologische Geschichten konnten auch als Leitfaden für das eigene Leben aufgefaßt werden, sozusagen als Belehrung oder Orientierung in bestimmten Situationen. Das Verständnis für mythologische Erzählungen und Figuren war im kulturellen Wissen der Antike verankert. Man benötigte auch als einfacher Bürger keine besondere Bildung, um mythologische Bezüge erfassen, verstehen und gegebenenfalls eine Lehre daraus ziehen zu können.

Bei Lurker ist zum Thema Mythos Folgendes zu lesen:

„Grundform menschlichen Erschließens der Wirklichkeit, die sich von Wissenschaft radikal unterschiedet, aber auch nicht Religion und Dichtung [...] gleichzustellen ist. M[ythos] ist eine bildliche Sinndeutung der Wirklichkeit, die sie verständlich macht, nicht aber durch wissenschaftliche Begriffe und Theorien, sondern durch Appell an eine imaginäre Welt von göttlichen und halbgöttlichen Wesen, von historisch niemals existenten Helden, von phantastischen Geschöpfen und Elementen.“[3]

Lurker siedelt demnach Mythen jenseits der Wissenschaftlichkeit an, zumal sie ursprünglich auch nur mündlich tradiert worden sind („Das Wort ist das eigentliche Element des M[ythos]. Der M[ythos] ist eine Erzählung, die nur durch sprachliche Kommunikation und Überlieferung möglich ist.“[4] ) und sich insbesondere in der Vorstellungskraft der Menschen manifestierten. In einer Zeit, in der die Wissenschaft noch in den Kinderschuhen steckte, schienen Mythen die plausibelsten Erklärungen für bestehende, nicht real nachvollziehbare Zustände zu sein. Die Wissenschaft konnte noch nicht ›über den Tellerrand schauen‹, um die tatsächlichen Gründe des Daseins einer Kultur zu erfassen. Mythen übernahmen diese Aufgabe und appellierten an die imaginären Fähigkeiten der Bürger. Jeder Mensch erdachte für sich ein eigenes phantastisches Abbild der Wirklichkeit anhand mythologischer Schilderungen. Sie appellierten an die Sinnes- und Gefühlswelt des Volkes, ihr Verständnis erfolgte gewissermaßen von innen, aus dem Bauch, heraus. Ebenso hatten die Menschen die Möglichkeit in den Liebschaften, Streitereien und Problemen der Götter ihre eigenen Sorgen und Nöte wiederzuerkennen. Sie verfügten gewissermaßen über eine göttliche Vorgabe für die Lösung ihrer Anliegen und Nöte. Die Götter waren den Menschen durch ihre nahezu humanen Streitereien, Eifersüchteleien und Nöte sehr nahe; man fürchtete sie zwar, wußte jedoch auch, daß selbst sie Schwächen hatten. Ein Wesenszug, der sie um so menschlicher erscheinen ließ. Im Laufe der Jahrhunderte gab es eine Bedeutungsverschiebung der mythologischen Erzählungen, die schließlich nicht mehr als Glaubensangelegenheit betrachtet wurden, sondern aus denen Dichtern und Künstlern eine umfangreiche Quelle der Inspiration erwuchs. Eine der bedeutendsten Quellen für antike mythologische Stoffe ist Ovids zwischen 1 v. Chr. und 10 n. Chr. entstandenes episches Sagengedicht „Metamorphoseon Libri[5], das ein weites Spektrum mythologischer Erzählungen aufgriff und verarbeitete. Der Grundgedanke dieses Werkes, worin rund 250 Verwandlungssagen der griechischen und römischen Mythologie zum Hauptgegenstand erhoben wurden, ist das Prinzip der Verwandlung. Ovid folgte beim Verfassen seines Gedichts einem festgelegten Ablauf:

„hinter der endlosen Reihe von Einzelmetamorphosen spielt sich die entscheidendste aller Verwandlungen ab, die Verwandlung der Welt vom Chaos ihres Beginns zur imperialen Ordnung der Augusteischen Epoche“[6].

Er führt den Leser aus dem Dunkel der Prähistorie ins kultivierte Zeitalter des Kaisers Augustus. Aber weshalb machte Ovid die antiken Mythen zum Hauptthema seines Gedichts? Welche Funktion hatte er ihnen zugedacht? Eine mögliche Erklärung hierfür könnte man in der damaligen politischen Situation des Landes suchen. Nachdem Augustus den römischen Staat neu geordnet hatte - er knüpfte politisch an die römisch-republikanische Tradition an und erschuf damit ein gewissermaßen republikanisches Kaiserreich - strebte er eine Kräftigung des römischen Volkstums an, das unter den Wirren der Revolution stark gelitten hatte.[7]

„Er [Augustus] knüpfte [...] bewußt an die alten Traditionen an und suchte die röm[ischen] Tugenden der Sittenstrenge[,] Hingabe an den Staat und soldatische Zucht neu zu wecken. [...] Er zog die geistig bedeutendsten Männer seiner Zeit, vor allem Künstler und Dichter, aber auch Historiker und Juristen an sich und regte sie an, durch Schilderungen der röm[ischen] Vergangenheit dem Volke zum Bewußtsein zu bringen, wo die Wurzeln seiner Kraft lagen.“[8]

Daraus ließe sich der Schluß ziehen, daß Ovid diesem Aufruf gefolgt war und eine „Verbindung der romantischen Welt griechischer Legende mit der vertrauten Welt römischer Geschichte“[9] schuf. Die Metamorphosen griffen die genealogischen Wurzeln des Volkes auf und präsentierten sie äußert geschmackvoll und erfolgreich der römischen Gesellschaft, ganz im Sinne des Kaisers. Daß es Ovid beim Verfassen der Metamorphosen zweifellos um die Gunst des Kaisers ging, bestätigt die Lektüre des Schlusses, der in einer Apotheose des Augustus´ endet.[10] Also könnte es Ovid speziell darum gegangen sein, die genealogische Linie des römischen Volkes in den Götter- und Heldengestalten der griechischen Mythologie zu verankern. Dies hätte den Römern ein gewissermaßen ›göttliches Prestige‹ eingebracht und, im Rahmen der römischen Identitätsfrage, auch psychologisch gestärkt. Jahrhunderte später entdeckten mittelalterliche Schriftgelehrte das antike Mythenerbe neu. Problematisch war zwar dessen heidnischen Ursprung, es wurde aber dennoch nicht völlig verworfen.

„Gewollt war sie [die Verwerfung der Mythologie] auch nicht, da es sich in der christlichen Idee des Auswählens aus dem antiken Erbe nicht so sehr darum handelte, das Mythische aus den dichterischen Werken der Heiden auszuklammern, sondern vielmehr darum, in den bestehenden Mythen das Erbauliche und selbst auch das Fromme hervorzuheben beziehungsweise herauszuinterpretieren.“[11]

Moralisierende und allegorisierende Tendenzen traten an die Stelle der ursprünglich religiös geprägten Deutungsweise der Mythen, zumal die polytheistische Welt der Antike im Mittelalter nicht anders verarbeitet werden konnte. Man sah darin nicht mehr belehrende Erzählungen vom Ursprung der Welt, sondern versuchte dem christlichen Glauben folgend, darin einen tieferen, monotheistisch haltbaren Sinn zu finden.

„The mythology of the ancients was perceived as symbolical material capable of revealing hidden truths through allegorical interpretation. Christian truths were clothed in the attractive garb of fable in keeping with the medieval system of thought and imagination. During this period the reverence for the classics satisfied a moral end only [...].“[12]

Demnach schätzten Gelehrte zwar die äußere Form der Mythen, die polytheistische Grundhaltung der Antike stellte jedoch einen Affront für die christliche Kirche mit ihrer monotheistischen Glaubenshaltung dar. Wie konnte man also die für Literaten und Künstler attraktiven mythologischen Figuren und Geschichten auch dem gläubigen Publikum präsentieren, ohne in Widerspruch zum christlichen Glauben zu treten? Es scheint, als sei die moralisierende Tendenz des Mittelalters eine optimale Lösung gewesen zu sein, zumal dieser These besonders die Geschichte und Bandbreite der Mythenrezeption Recht geben.[13]

Zwischen 1350 und 1375 entstand schließlich das Werk Genealogie deorum gentilium, eine mythologische und mit wissenschaftlichem Anspruch verfaßte Enzyklopädie von Giovanni Boccaccio. Darin wurden aus zahlreichen Quellen Stammbäume römischer und griechischer Götter rekonstruiert. Hierbei spielte auch Petrarcas Vorarbeit auf diesem Gebiet eine entscheidende Rolle.[14] Gleichzeitig offeriert Boccaccio unterschiedliche Deutungsweisen von Mythen, etwa die rationalistische, die physisch - naturhafte und die moralische Methode.[15] Cammarata bezeichnet Boccaccios Werk, dem insbesondere Ovids Metamorphosen als Quelle dienten, als „mythology´s bridge from the Middle Ages to the Renaissence.“[16] Und weiter:

„Boccaccio reveals his belief that pagan myths must be read with attention to their literal, moral, allegorical, and analogical content because buried in pagan myth lies the accumulated wisdom of the ancients.“[17]

Daraus ist ersichtlich, daß auch Boccaccio in mythologischen Erzählungen nach unterschwelligen Botschaften suchte, um somit das Wissen der Antike rezipieren, verstehen und in der eigenen Zeit anwenden zu können. Man wollte von den Alten lernen, was jedoch nur über das Verständnis der Mythen realisierbar zu sein schien. Sie waren der Schlüssel zur Rezeption der griechischen Klassik.[18] Es wird also deutlich, daß die griechische Götterwelt in christlicher Zeit nie wirklich abgelehnt, sondern ihr vielmehr nur angepaßt wurde:

„Die mittelalterliche Historiographie bezog in ihre Weltchroniken antike Sagengestalten ein und leitete gern die Geschichte des eigenen Volkes von einem Stammvater her (Italien von Aeneas, Frankreich von Francus), die Astrologie nannte die Gestirne, denen sie magische Kräfte zuschrieb, nach wie vor mit Namen antiker Götter, die Moralphilosophie schließlich nahm die Mythen auf und deutete sie als Allegorien bestimmter Tugenden und Laster.“[19]

Im Italien des späten 15. Jahrhunderts schließlich band man mythologische Erzählungen in eine besonders dramatische Gattung ein, die mumaria, ein höfisch - mythologisches Festspiel:

„Die Stücke, die dieser Gruppe zugeordnet werden können [...] zeichnen sich zum einen dadurch aus, daß sie für bestimmte Anlässe verfaßt wurden, zum anderen durch ihre doppelte Funktion: sie dienten einerseits der Unterhaltung der Hofgesellschaft, andererseits der Vermittlung aktualitätsbezogener Botschaften, wobei immer wieder das Herrscherlob im Vordergrund stand. Die Verwendung antiker Mythologie zur Glorifizierung des Fürsten, zur überhöhten Selbstbespiegelung und zur Manifestierung realer oder idealer Tugend, Macht und Stärke entspricht den Anforderungen der höfischen Gesellschaft der Renaissance und des Barock [...].“[20]

Die Popularität mythologischer Erzählungen in jener Zeit ist nicht zu leugnen, obgleich sie mit ihrer ursprünglichen Funktion nichts mehr verband. Sie wurden nun augenscheinlich genutzt, um Kritik an bestehenden politischen bzw. gesellschaftlichen Verhältnissen zu üben, oder aber in äußerst geschmackvoller Hülle, und mittels Vergleichen, ein Lob auf den Herrscher auszubringen. Dem höfischen Milieu dienten sie mit ihrem lobpreisenden Charakter als anspruchsvoller Zeitvertreib und zur Legitimation seines Machtanspruchs. Gleichzeitig profitierte auch das einfache Volk vom mythologischen Einfluß, jedoch als Leitfaden für moralisches Verhalten und auch als „Schatzhaus des gelehrten Wissens“.[21] Italiens 16. Jahrhundert scheint ohnehin eine bedeutende Rezeptionsepoche für Ovids Metamorphosen gewesen zu sein, zumal zahlreiche Bearbeitungen des Werkes während dieser Zeit entstanden. Die damaligen Dichter waren existentiell auf ihre Leserschaft angewiesen, insbesondere auf die gebildeten und höfischen Kreise, die die nötige Kenntnis besaßen, um auch mythologische, gelehrte Anspielungen nachvollziehen zu können; dementsprechend mußten Dichter den besonderen literarischen Geschmack der gesellschaftlichen Elite treffen.

„Die gehobene Bevölkerungsschicht huldigte der absoluten Monarchie und war auf die Erhaltung ihres Status quo, ihrer Distinguiertheit und Überlegenheit bedacht. Sie übte sich in Selbstbespiegelung und Selbstrepräsentation. Die Götter und Helden der griechischen Sagenwelt waren dabei so etwas wie Vorbilder, denen man nacheiferte. An den Höfen und in den Städten wurde das Theaterspiel gepflegt. Eine ganze Reihe von Episoden aus den Metamorphosen wurde zu Bühnenstücken verarbeitet.“[22]

In der Renaissance kommt schließlich noch die Frage der Mythologie als Exemplum auf:

„Erasmus macht deutlich, daß die Mythologie durch die Rhetorik, d.h. durch das Mittel des Exemplums, argumentativ verfügbar gemacht wird. [...] Um es pointiert auszudrücken, das Exemplum ist in der Rhetorik und in der Literatur der Renaissance das herausragende Mittel des Rückgriffs auf die klassische Mythologie. Wenn sich ein Autor in diesem Zeitalter auf die klassische Mythologie bezieht, geschieht das sehr oft in Form des Exemplums, das in einer großen Vielfalt der Formen und Funktionen in Erscheinung tritt.“[23]

Es scheint, als dienten Mythen insbesondere der Verbildlichung von Aussagen, die dem Publikum das Verständnis erleichtern sollten, aber auch als feinsinnig verpackte Kritik an bestehenden Verhältnissen, politischer oder aber gesellschaftlicher Art. Curtius sieht den Kern dieser antikisierenden Bewegung in Homers Schriften, mit denen die „abendländliche Verklärung der Welt, der Erde, des Menschen“ einsetzte.[24] Seine Werke spiegeln das Weltbild einer ritterlichen Herrenschicht, deren Heldenideal jedoch nicht als tragisch dargestellt wurde, sondern deren Helden sich fürchten konnten. Ebenso war auch die Natur Teil des Göttlichen.[25] Die jahrhundertelange Verarbeitung mythologischer Elemente in den Literaturen Europas bestätigt die Popularität dieser Erscheinung.

Zusammenfassend ließe sich der umfangreiche Gebrauch mythologischer Figuren in der Renaissance - Literatur mit Cammaratas Worten ausdrücken:

„By virtue of its prestige and antiquity, mythology as a formal element is favorably received into the Christian reality. The pagan gods and heroes are utilized as poetic mediums, personifications, and rhetorical symbols; that is, they are recognized not as gods but as fictions which lend imaginative significance to literature. The pagan gods, by exemplifying somewhat immoral deeds, revitalize the existing tradition of moralism in literature. Christianity assimilates the myths because they are no longer connected with religious rites or values but instead function as literary and artistic vehicles. The classics are accepted as moral allegories or purely artistic typifications of human sentiments illustrating that they are not in competition with Christianity.“[26]

Letztlich akzeptiert man Mythen als Quelle dichterischer Inspiration, als didaktisches und moralisches Mittel und empfindet sie nicht länger als Bedrohung der christlichen Religion. Ihre Bedeutung beschränkt sich fortan auf fiktive Werke und deren literarische Aussage, nicht auf Glaubensfragen, was sie schließlich auch seitens der Kirche tolerierbar machte. Sie stellen eine Flucht vor der Realität und der wirklichen Welt dar, entführen sowohl Autor als auch Leser in eine klassische Mythenwelt voller idealer Symbole, in der eine göttlich überhöhte Atmosphäre herrscht. Schließlich machen auch rhetorische Figuren und eine betonte Bildlichkeit mythologische Elemente zu einem dekorativen und sehr beliebten Aspekt der Renaissancedichtung.[27]

3. Mythenrezeption in Spanien

Die Rezeption antiker Mythen ist in Spanien so weitreichend und umfassend, daß an dieser Stelle lediglich ein eingeschränkter Einblick gewährt werden kann. Am Beispiel ausgewählter Autoren soll ein Abriß der Rezeptionsgeschichte klassischer Mythen geboten werden, ausgehend vom Mittelalter bis in die Zeit Garcilasos und Góngoras.

3.1 Mittelalter (bis 1500)

Aufgrund der Fülle der zur Verfügung stehenden Primärliteratur in der Tradition klassischer Kultur, ist die Auswahl der antikisierenden Autoren nicht allzu leicht gefallen. Die Wahl fiel auf einige bekannte Vertreter des mittelalterlichen Schrifttums, die durch ihre z.T. humanistisch geprägten Werke bereits eine Wende zum Renaissance – Zeitalter einleiteten.

Als Auftakt soll ein anonymes Versepos aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts dienen, nämlich El Libro de Aleixandre, von dem De Cossio sagt:

„[...] en un poema característico del mester de clerecía, el Poema de Alexandre, aparecen ya imitaciónes de Ovidio, y precisamente del libro de las Metamorfosis, que ha de dar la materia a muchedumbre de fábulas [...]. No utiliza el poema temas mitológicos provenientes de tal libro [...], sino que la imitación se constriñe a describciones y circunstancias [...]“[28]

Seine moralisierende Tendenz spiegelt sich in allegorischen Einschüben wieder, die die „charakterliche Entwicklung des Helden darstellen und zeigen, wie er im Verlauf eines wechselvollen Lebens endlich zu sich selbst findet.“[29] Es zeigt sich wiederum die Zuwendung zu klassischen Texten, die durch ihre antiken Vorgaben zu Imitationen anregen und dem Autor die Möglichkeit geben, auf eine bildliche und ansprechende Art und Weise dem Lektor eine Botschaft zu übermitteln, die den geistigen Ansichten der Zeit entspricht.

Einen gänzlich anderen Zweck verfolgten die Verfasser der von Alfonso X el Sabio (1221 – 1284) angeregten General Estoria, die, begonnen um 1272, nie fertig gestellt wurde. Darin sollten alle „Ereignisse seit der Erschaffung der Welt“[30] festgehalten werden, aufgrund fehlender Quellen, fiel es jedoch weniger umfangreich aus, als zunächst geplant.

„So findet sich in dem Werk neben geschichtlichen Fakten auch eine Vielzahl von Legenden, Sagen, Fabeln, Mythen und phantastischen Erzählungen. Sitten der Völker, Religionen, Erfindungen, Moden, Eroberungen und Schlachten werden in buntem Durcheinander abgehandelt. [...] Für das große kulturgeschichtliche Interesse Alfons` des Weisen sprechen die zahlreichen Kapitel, die der antiken Mythologie gewidmet sind. In ihnen werden die Götter des klassischen Altertums im Sinn des Euhemerismus als Menschen von überragendem Wissen oder außergewöhnlicher Kraft dargestellt, die von der Nachwelt als Götter verehrt wurden.“[31]

De Cossio[32] vermutet als Quelle dieses antiken mythologischen Wissens Ovids Metamorphosen, des weiteren kommentiert er die Arbeit der Kompilatoren:

„Generalmente, los compiladores tienen en cuenta el texto genuino y los comentarios moralizadores [...] y así amplían la materia de las fábulas que por una parte convierten en reflexión moral o teológica, que las hace perder su carácter [...].“[33]

Es werden darin u.a. Mythen erzählt, die bei späteren Autoren in deren literarischen Werken wiederkehren, etwa Phaetons Fall, der Raub der Europa, die badende Diana, Narziß und Eco sowie viele andere.[34] Es wird deutlich, daß Alfono zwar die antiken Klassiker bewunderte, die polytheistische Weltanschauung jedoch durch die moralisierenden und vermutlich christianisierenden Kommentare seiner Autoren entschärfen ließ. Die vielfältigen Arbeiten, die am Hof von Alfonso X geschaffen wurden, etwa Übersetzungen unterhaltender, didaktischer und wissenschaftlicher Werke des arabischen Kulturraums, oder die Kodifizierung des geltenden Rechts in den Siete Partidas entstanden nicht nur aufgrund des persönlichen Interesses des Königs, sondern hatten insbesondere einen politischen Hintergrund. Alfonso X strebte nach der Kaiserkrone und, beabsichtigte, um dem Nachdruck zu verleihen, die Schaffung eines kulturellen Erbes für sein Land, das dem des römischen Reiches in nichts nachstünde. So unterstützte er Werke öffentlichen Charakters, wie die Siete Partidas oder die Chroniken.[35] In die gleiche Kategorie fiele mit ihrem universellen Charakter auch die General Estoria; könnte demnach auch der politische Hintergrund ein Ansporn für die Schaffung dieses Werkes gewesen sein? Wenn dem so wäre, ist dies ein Hinweis darauf, daß sogar das im religiösen Sinne strenge Mittelalter die Bedeutung der klassischen antiken Mythologie nicht abstritt, sondern sie in die Universalgeschichte integrierte, als einen Teil des historischen Kultur- und Gedankenguts in Europa.

Im 15. Jahrhundert schließlich widmete sich Iñigo López de Mendoza, der Marqués de Santillana (1398 – 1458), der humanistischen und italianisierenden Schreibtradition. Seine umfassende Bildung und Sprachgewandtheit ermöglichten ihm den Zugang zu italienischen und klassischen Quellen, worin er von seinem Mentor Enrique de Villena bestärkt wurde. Dante, Petrarca und Boccaccio gehörten ebenso zu seinem Rezeptionsrepertoire wie Vergil oder Ovid.[36] Dank seiner Zuwendung zur Klassik entstanden unter Mitarbeit von Humanisten kastilische Übersetzungen der Ilias oder der Metamorphosen. Bezüglich seines profunden klassischen Wissens schreibt De Cossio:

„No parece [...] dudoso que conoció el marqués a Ovidio bien a fondo. [...] prueba este conocimiento la lectura de sus famosos Proverbios, y ello no por el número de citas mitológicas, que es más bien escaso, sino porque añadió a sus versos una serie de glosas, encaminadas precisamente a ilustrar esas referencias eruditas.“[37]

Die Proverbios de gloriosa doctrina e fructuosa enseñança, eine 1437 beendete Sammlung von Ratschlägen und Imperativen, gehören in ihrer didaktischen Tendenz in die Tradition der mittelalterlichen Literatur Spaniens.[38] Als weitere Quelle antiken mythologischen Gedankenguts könnte ihm auch Boccaccios Genealogia deorum gedient haben, zumal Boccaccio zu den von ihm bevorzugten italienischen Autoren gehörte.[39] Mythologische Elemente finden sich somit auch im literarischen Werk Santillanas, etwa in seiner Allegorie Comedieta de Ponza von 1444, worin er den Versuch unternahm, Themen und Formen der italienischen Literatur in Spanien einzuführen. Es scheint jedoch auch Kritik an diesem Werk angebracht zu sein:

„Oft jedoch ersticken die Allegorien und die konventionellen Motive der humanistischen Gelehrsamkeit (die sich auf die Verwendung lateinischer Neologismen und auf Hinweise auf die klassische Mythologie beschränkt) den dichterischen Schwung.“[40]

Demzufolge schien ihm noch die rechte Methode des Schreibens zu fehlen, jedoch muß man seine humanistischen Ambitionen honorieren, zumal er in umfangreichem Maße auch die Italianisierung der frühen spanischen Literatur vorantrieb. Weitere seiner Arbeiten, die mythologische Elemente enthalten sind u.a. Bias contra Fortuna[41], worin von Phaeton, Deukalion (Sohn des Prometheus) oder Apollo die Rede ist. Auch in den Sonetos fechos al itálico modo[42] sind mythologische Anspielungen und Figuren zu finden, so beispielsweise in den Sonetten IV, IX, XII, XV (darin belegt Santillana seine Kenntnis der Aeneis) oder XIX, in dem er den Hero und Leander – Mythos verarbeitete. Weitere mythologische Figuren und Anspielungen finden auch sich in Santillanas Poemas morales, políticos y religiosos.[43]

Mitte des 15. Jahrhunderts kompilierte Juan Alfonso de Baena (1406 – 1454), der Schreiber Juans II, eine Gedichtsammlung, welche die Werke von 55 Autoren und insgesamt 583 Gedichte beinhaltet. Die lyrischen Stücke entstanden ab etwa 1370 und wurden zwischen 1445-1453 im Cancionero de Baena zusammengefaßt.[44] Bei der Lektüre trifft man erneut auf antike Figuren, was zeigt, daß sich auch andere Schreiber der Zeit mit Vorliebe klassischen Texten zuwandten und daraus ihre Inspiration bezogen. Einer von ihnen war Francisco Imperial[45], der in Genua geboren, mit italienischer Dichtung, insbesondere Dante, vertraut war. Seine „Neubelebung allegorischer «descriptio»“[46] und des Elfsilbers stellten neue Anregungen für die spanische Literatur dar. Der Dezir de Miçer Françisco a las siete virtudes steht deutlich in der Tradition Dantes, was anhand einiger Parallelstellen eindeutig belegbar ist.[47]

„Como es conocido, el poema de Imperial es casi un trufado de citas de Dante. [...] sólo con la Comedia delante se puede tanto fijar razonablemente el texto como acceder a su sentido.“[48]

Imperial verwendet unterschiedliche mythologische Figuren, etwa Apollo, Marsyas oder Phoebus. Um den Kern des Textes erfassen zu können, ist die Kenntnis des Marsyas – Mythos Voraussetzung. Auch im Dezir En dos seteçientos e más dos o tres[49] treten Figuren wie Saturn, Jupiter, Mars, Merkur etc. auf. Ein weiterer Schriftsteller des Cancioneros ist Fernán Pérez de Guzmán, der in seinem Dezir El gentil niño Narciso[50], wie es bereits der Titel vorwegnimmt, ebenfalls einen mythologischen Stoff ausführte. Im Dezir Tú, omne que estás leyendo[51] verbindet Guzmán sogar einen mythologischen mit dem biblischen Figurenkreis, so treten etwa Personen wie Samson, Herkules, Salomon, David, Narziß oder Minerva[52] gleichzeitig auf. In der selben Tradition stehen auch einige Cantigas und Dezires von Alfonso Àlvarez de Villasandino, der gleichermaßen eine Vorliebe für mythologische Einschübe und Episoden hatte, beispielsweise im Dezir Al grand Padre Santo a los condenales[53], in dem eine Reihe großer Persönlichkeiten aufgegriffen wurde, u.a. Herkules, Apollo, Aeneas, aber auch bedeutende antike Autoren wie Aristoteles, Platon, Seneca, Boëthius, Horaz, Vergil oder Cato. Die Notwendigkeit der Mythenkenntnis läßt insofern Schlüsse auf die mögliche Leserschaft des Cancionero zu, zumal zum Verständnis der Gedichte ein gewisser Bildungsgrad bestehen mußte. Insofern waren die Schriften hauptsächlich der gebildeten Oberschicht der Gesellschaft vorbehalten.

Juan de Mena (1411- 1456) widmete sich gleichermaßen intensiven klassischen Studien, was in erster Linie seine literarischen Arbeiten bekunden. Beispielsweise beschrieb Mena in seinem allegorischen Epos El laberinto de Fortuna von 1444

„eine Reise in eine Welt des Traums, die es ihm ermöglicht zu erkennen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«. Der launische Zufall, Fortuna, und nicht die göttliche Vorsehung, bestimmt die Geschicke der Menschen: Nicht der religiöse Glaube, sondern das Denken der antiken Stoa geben dem einzelnen Halt.“[54]

Eine Haltung, die nicht der christlichen Weltanschauung der Kirche entsprach, und vielleicht aus gerade diesem Grund die mythologische Ebene gewählt wurde, um die allegorische Botschaft zu vermitteln. Das Einbringen mythologischer Figuren, etwa Orpheus, Apollo, Jupiter et al.[55] ist laut De Cossio insbesondere auf Menas profunde Kenntnis der Metamorphosen Ovids zurückzuführen.[56] Diese Ansicht jedoch schränkt Nigris ein:

„Por lo que respecta al influjo ovidiano [...] no hay que olvidar que para otras obras de Mena se ha podido comprobar que buena parte de las alusiones mitológicas que parecen proceder de las Metamorfosis provienen de la General Estoria de Alfonso el Sabio.“[57]

Ein weiteres mythologisch geprägtes Werk Menas ist die Coronación, die er zu Ehren seines Freundes, dem Marqués de Santillana und „para celebrar la victoria de Santillana en la batalla de Huelma (1438)“[58] verfaßte. Darin liegt eine gut verschleierte Sozialkritik verborgen, die erst bei einer genaueren Lektüre erkennbar wird.[59] Primär geht es darin jedoch um die Ehrung Santillanas, indem Mena ihn als Lorbeer-bekränzten Dichter ins Heiligtum der Musen schreiten läßt. Seine Schilderung erinnert an die Darstellung von Göttern und übernatürlichen Wesen, die abseits des weltlichen und menschlichen Lebens ihr Dasein führen und über alles erhaben sind.

In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts dominierte ein weiterer Name die humanistisch geprägte Literaturgeschichte: Enrique de Villena (1384-1458), der bereits erwähnte Vertraute des Marqués de Santillana. Zu den „autoridades principales del acervo cultural de Enrique de Villena“[60] gehörten Autoren wie Homer, Ovid, Horaz, Titus Livius, Vergil, Cicero, Böethius, Petrarca, Dante u.a., was sein großes Interesse an der klassischen Literatur bezeugt. Schließlich übersetzte er 1427/ 28 auf Bitten Juans II Vergils Aeneis, und befaßte sich insgesamt bevorzugt mit antiken Themen und Autoren. Eines seiner Werke, das mythologisch geprägte Los doze trabajos de Hércules, schreibt er nicht ohne sozialkritische Absicht:

Los doze trabajos de Hércules han sido estudiados por Keightley desde dos perspectivas: los interpreta como si Villena condenase alegóricamente a una sociedad en que los ricos y poderosos corrompen a las otras clases con su ejemplo de codicia y soberbia [...].“[61]

Bezüglich des moralisch – allegorischen Inhaltes hat sich Morreale Gedanken gemacht und zeigt, wie wichtig die Substanz der Aussagen war:

„Cada personaje, cada acción, cada cosa – para usar las palabras de Villena -, «significa», «muestra», «entiéndese» o «es» otra realidad concerniente más de cerca a la vida del hombre. El concepto de «moralidad» es muy amplio: comprende no sólo la lección moral, sino también la explicación naturalista, que busca el origen del mito en los elementos naturales [...].“[62]

Des weiteren erklärt sie:

„De todos asuntos del saber antiguo que pueden servirnos para aquilatar los distintos humanismos, el medieval y el renacentista, creo que el mitológico es el más esclarecedor. Villena se acerca a la mitología como a un hermoso cuento que hay que contar y explayar luego para provecho del projimo.“[63]

In seinem allegorischen Werk stellt Villena Herkules als die Verkörperung des „omne virtuoso“ oder „sabio“[64] dar, was eine deutliche Hinwendung zur Tugendhaftigkeit impliziert. Bezüglich der Eignung mythologischer Elemente zur Veranschaulichung moralisch – didaktischer Inhalte spricht Morreale bei Villena von einer „[...] absoluta libertad con la cual se subordina la mitología al fin didáctico.“[65] Villena verwendete die antike Historie sowie ihre Helden als exemplarische Elemente zur Unterstützung seiner allegorischen Werke.

3.2 Neuzeit

Mit seinem Schäferroman Los siete libros de la Diana (erschienen 1559) stellt sich Jorge de Montemayor (1520-1561) in die Nachfolge jener Schriftsteller, die seit der Antike die bukolische Landschaft und das Hirtenleben besungen haben.[66] Sein überaus erfolgreiches Werk, in Vers und Prosa verfaßt, stellte die erste spanische novela pastoril dar, „con ella la novela pastoril nació en tierras españolas en estado de perfección, una suerte de Afrodita literaria parida por la cabeza de Zeus.“[67] Seine Inspiration für das Verfassen dieses Schäferromans bezog Montemayor vermutlich aus Giacopo Sannazaros idealisierender Arcadia (1504), der „primera obra de popularidad internacional protagonizada por pastores.“[68] Die Popularität dieser neu rezipierten bukolischen Dichtung durchzieht das gesamte Goldene Zeitalter, deren Reiz sich kaum ein Autor entziehen konnte, u.a. weder Cervantes (La primera parte de la Galatea) noch Lope de Vega (Arcadia).[69] Die Tendenz, der bukolisch inspirierte Autoren im Siglo de Oro folgten, beschreibt Bautista de Avalle – Arce folgendermaßen:

„En la poesía lírica de aquella época es esencial recordar que el mundo poético de Garcilaso, en su momento de madurez, está transido de sentimiento por la naturaleza, y, en consecuencia, es la voz del pastor la que resuena en sus poemas más acabados. La vida sentimental del poeta [...] se hace una con la vida del pastor, y, éste se consagra como encarnación de la erótica y el naturismo renacentistas.“[70]

Die Beliebtheit des Schäferromans resultiert möglicherweise aus der Tatsache, daß durch die stilisierte Welt der Hirten eine Weltflucht der Renaisance-Menschen in eine Märchen- oder Traumwelt erreicht wurde, in der besonders die Idylle der arkadischen Landschaft und des harmonischen Schäferlebens überwogen. Zudem verfügten Dichter auch über die Option gesellschaftliche Kritik geschickt verkleidet auszusprechen, ohne dies allzu offensichtlich zu tun. Die bukolische Welt war, trotz ihres Weltflucht – Charakters, stets mit der Realität des höfischen Lebens verbunden, an dessen Vertreter sie sich zumeist auch wandte. Den mythologischen Bezug dieser Dichtertradition schuf bereits Vergil in seiner Bucolica (41-37 v. Chr.)[71], indem er den Schauplatz seiner Hirtengedichte nach Arkadien, das Land der Dichtkunst und Musik, verlegte. Auch die zeitliche Ebene verschob er

„in die mythische Frühe, in der ewiger Friede und ewiger Frühling herrschten, es keinen Besitz und keinen Neid gab, Götter und Menschen vereint lebten und sogar die Natur an den Freuden und Sorgen der Menschen teilnahm. Diese Sorgen waren vor allem Liebessorgen.“[72]

Hier tritt der mythologische Bezug deutlich in den Vordergrund, zumal in der arkadischen Dichtung des öfteren mythologische Figuren Eingang fanden. So auch bei Montemayors Diana, wo etwa der Canto de la ninfa[73] sowie der orphische Gesang, der in 43 Oktaven verfaßte Canto de Orfeo[74] , ihren Platz im Schäferroman behaupten. Auch das lyrische Werk des bedeutendsten Vertreters und Humanisten der Sevillaner Dichterschule Fernando de Herrera (1534-1597) ist an der petrarkistischen Themen- und Formenwelt, am Neoplatonismus und der Antike orientiert.[75] Sein Interesse an klassischer Materie spiegelt sich beispielsweise in seinem Sonett VI, wieder, das sich an die Sirenenepisode in Odysseus Odyssee anlehnt.[76] Mythologische Elemente nutzte er bisweilen auch als Vergleichsmittel, so verglich er den Sieg von Juan de Austria über die Morisken mit Jupiters Sieg über die Titanen.[77] Die mythologischen Anspielungen in seinem Œvre sind zahlreich, wie einige Beispiele belegen[78]: Canción III Cuando con resonante rayo, Poema No bastana illustrar con viua gloria, Sonetos XIII, XIV, XXII, etc.

Ein Autor in der Tradition humanistischen Gedankenguts ist auch der im Einfluß italienischer Literatur stehende Francisco de Aldana (1537-1578). Er hinterließ mit seinem lyrischen Œvre (u.a. 44 Sonette, 6 Coplas, 4 Kanzonen, 6 Episteln in der Ovid - Tradition,) einen der bedeutendsten spanischen Beiträge zur europäischen Renaissanceliteratur.[79] Im Florenz Lorenzo de Medicis rezipiert er insbesondere humanistisches Gedankengut sowie den Florentiner Neoplatonismus. Die Lektüre von Ovid, Horaz und Vergil eröffnete ihm antike Literatur und klassisches Wissen. In seiner Liebeslyrik grenzt er sich von der petrarkistischen Liebeskonzeption mit ihrer selbstmitleidigen Introspektive ab und beruft sich auf die Freuden einer sinnlich-erfüllten Liebe.[80] Einen Schritt in Richtung heidnischen Gedankenguts unternahm er in seinem Parto de la Virgen, worin er eine Synthese christlich–antiker Elemente anstrebte[81] und dabei Figuren wie Andromeda, Theseus oder Jupiter skizzierte.[82] Schließlich befaßte er sich in seiner Fábula de Faetonte mit dem Mythos vom Wunsch Phaetons den Sonnenwagen seines Vaters zu lenken. Lara Garrido vermutet als Quellen dieses Mythos „la reelaboración de dos modelos: el de las Metamorfosis ovidianas y la Favola di Phaetonte de Luigi Alamanni.“[83] Mit dem Phaeton-Mythos setzte sich zur Zeit Góngoras auch der Graf von Villamediana (1582-1622) in seiner Fábula de Faetón auseinander. Weitere Mythenbearbeitungen Aldanas sind Apolo y Dafne oder La Europa[84] ; auch die Sonette[85] XI Alma Venus gentil, que al tierno arquero und XXIII No por Apolo y Marte un nuevo Marte behandeln augenscheinlich mythologische Themen.

[...]


[1] BROCKHAUS. Die Enzyklopädie, Bd. 15, Leipzig / Mannheim 201998, s.v. Mythos.

[2] Vgl. Ebd. s.v. Mythos.

[3] LURKER, Manfred (Hg.): Wörterbuch der Symbolik, Stuttgart 51991, s.v. Mythos.

[4] Ebd. s.v. Mythos.

[5] Vgl. JENS, Walter (Hg.): Kindlers Neues Literaturlexikon, Bd. 12, München 1991, s.v. Ovid.

[6] Ebd., s.v. Ovid.

[7] Vgl. LAMER, Hans: Wörterbuch der Antike, Stuttgart101995, s.v. Augustus.

[8] Ebd., s.v. Augustus.

[9] Einleitung von L. P. WILKINSON in: BREITENBACH, Hermann (Hg.): Publius Ovidius Naso: Metamorphosen, Stuttgart 2001, S. 18.

[10] Vgl. Ovid, Metamorphosen, 15,758ff.

[11] DOMÀNSKI, Juliusz: Bienen-Metapher und Mythologiekritik in der Renaissance, in: GUTHMÜLLER, Bodo/ KÜHLMANN, Wilhelm: Renaissancekultur und antike Mythologie, Tübingen 1999, S. 7.

[12] CAMMARATA, Joan: Mythological Themes in the Works of Garcilaso de la Vega, Potomac 1983, S. 10.

[13] Zur Vertiefung vgl. SEZNEC, Jean: The Survival of the Pagan Gods, New York 1953, S. 84ff.

[14] Vgl. JENS, s.v. Giovanni Boccaccio.

[15] Vgl. hierzu ebd., s.v. Giovanni Boccaccio.

[16] CAMMARATA, S. 10.

[17] Ebd., S. 11.

[18] Vgl. hierzu auch SEZNEC, S. 219ff.

[19] SCHEID, Sibylle: Petrarkismus in Lope de Vegas Sonetten, Wiesbaden 1966, S. 87.

[20] TICHY, Susanne: Funktion der antiken Mythologie in der »mumaria«, in: GUTHMÜLLER/ KÜHLMANN, S. 16.

[21] GUTHMÜLLER, Bodo: Studien zur antiken Mythologie in der italienischen Renaissance, Weinheim 1986, S. X (Vorwort).

[22] WISSMÜLLER, Heinz: Ovid. Einführung in seine Dichtung. Neustadt/ Aisch 1987, S. 199f.

[23] MÜLLER, Wolfgang G.: Das mythologische Exemplum in der englischen Renaissance, in: GUTHMÜLLER/ KÜHLMANN, S. 185.

[24] CURTIUS, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1954, S. 192.

[25] Vgl. CURTIUS, S. 193.

[26] CAMMARATA, S. 16f.

[27] Vgl. ebd., S. 68.

[28] DE COSSIO, José María: Fábulas mitológicas en España, Madrid 1952, S. 13.

[29] JENS, Bd. 18, s.v. Alexanderroman, S. 91.

[30] Vgl. ebd., s.v. General Estoria, S. 625.

[31] Ebd., s.v. General Estoria, S. 626.

[32] Vgl. DE COSSIO, S. 16.

[33] Ebd., S. 16.

[34] Vgl. SOLALINDE, Antonio G. (Hg.): Alfonso el Sabio. General Estoria I, Madrid 1930, und: SOLALINDE, Antonio G. V/ KASTEN, Lloyd A./ OELSCHLÄGER, Victor R. B. (Hgg.): Alfonso el Sabio. General Estoria II, Madrid 1961.

[35] Vgl. STROSETZKI, Christoph (Hg.): Geschichte der spanischen Literatur, Tübingen 21996, S. 17f.

[36] Vgl. DURÀN, Manuel (Hg.): Marqués de Santillana. Poesías completas I, Madrid 1975, S. 9.

[37] DE COSSIO, S. 25.

[38] Vgl. FLASCHE, Hans: Geschichte der spanischen Literatur, Bd.1: Von den Anfängen bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts, Bern/ München 1977, S. 312.

[39] Vgl. DURÀN, S. 16.

[40] JENS, Bd. 14, s.v. Marqués de Santillana, S. 742.

[41] Vgl. DURÀN, Manuel (Hg.): Marqués de Santillana. Poesías completas II, Madrid 1980, S. 98ff.

[42] Vgl. die Sonette Ebd.: Marqués de Santillana. Poesías completas I, Madrid 1975, S. 308ff.

[43] Vgl. ebd., S. 23ff.

[44] Vgl. FLASCHE, Bd.1, S. 270.

[45] Autorenangaben zu F. Imperial vgl. ebd. S. 278.

[46] Ebd., S. 278.

[47] Vgl. hierzu ebd., S. 279ff.

[48] DUTTON, Brian/ GONZÀLEZ CUENCA/ Joaquin (Hgg.): Cancionero de Juan Alfonso de Baena, Madrid 1993, S. 306, n.250.

[49] Vgl. Ebd., S. 255ff.

[50] Vgl. Ebd., S. 422ff.

[51] Vgl. Ebd., S. 430ff.

[52] Vgl. Ebd., S. 430ff, Vers 17ff.

[53] Vgl. Ebd., S. 58ff.

[54] NEUSCHÄFER, Hans-Jörg (Hg.): Spanische Literaturgeschichte, Stuttgart/ Weimar 22001, S. 61.

[55] Vgl. NIGRIS, Carla de (Hg.): Juan de Mena. Laberinto de Fortuna y otros poemas, Barcelona 1994,Absätze 1c, 2f, 120c, etc.

[56] Vgl. DE COSSIO, S. 27.

[57] NIGRIS, Prólogo, S. LVII.

[58] Ebd., S. XLVII.

[59] Vgl. FLASCHE, Bd.1, S. 339.

[60] CÀTEDRA, Pedro M.: Dictatores y humanistas en Enrique de Villena, in: DEYERMOND, Alan: Edad Media, in: RICO, Francisco (Hg.): Historia y crítica de la literatura española, Bd.I, Barcelona 1980, Primer Suplemento 1991, S. 343.

[61] DEYERMOND, Alan: Edad Media, in: RICO, Francisco (Hg.): Historia y crítica de la literatura española, Bd. I, Barcelona 1980, Primer Suplemento 1991, S. 323.

[62] MORREALE, Margherita: „Los doze trabajos de Hércules“ de Enrique de Villena: un ensayo medieval de exégesis mitológica, in: DEYERMOND (1980), S. 415.

[63] Ebd., S. 416.

[64] Vgl. ebd., S. 417.

[65] Ebd., S. 416.

[66] Vgl. FLASCHE, Bd. 1, S. 143.

[67] BAUTISTA DE AVALLE - ARCE, Juan: Los pastores y su mundo, in: MONTERO, Juan (Hg.): Jorge de Montemayor, La Diana, Barcelona 1996, S. XII (estudio preliminar).

[68] Ebd., S. X.

[69] Vgl. JENS, Bd. 11, s.v. Jorge de Montemayor.

[70] BAUTISTA DE AVALLE - ARCE, in: MONTERO, Juan (Hg.): Jorge de Montemayor. La Diana, Barcelona 1996.

S. XII.

[71] Vgl. FRENZEL, Elisabeth: Motive der Weltliteratur, Stuttgart 51999, s.v. Arkadien.

[72] Ebd., s.v. Arkadien.

[73] Vgl. MONTERO, S. 76ff.

[74] Vgl. Ebd., S. 187ff.

[75] Vgl. JENS, Bd. 7, s.v. Fernando der Herrera.

[76] Vgl. Ebd.

[77] Vgl. Ebd.

[78] Auswahl entnommen aus: CUEVAS, Cristóbal (Hg.): Fernando de Herrera. Poesía castellana original completa, Madrid 1985.

[79] Vgl. JENS, Bd. 1, s.v. Francisco de Aldana.

[80] Vgl. Ebd. , s.v. Francisco de Aldana.

[81] Vgl. Ebd. , s.v. Francisco de Aldana.

[82] Vgl. LARA GARRIDO, José (Hg.): Francisco de Aldana. Poesías castellanas completas, Madrid 1985, S. 302ff.

[83] LARA GARRIDO, S. 48.

[84] Vgl. NEUSCHÄFER, S. 119.

[85] Vgl. Auswahl aus LARA GARRIDO, S. 191ff.

Excerpt out of 90 pages

Details

Title
Mythologische Themen in der Lyrik des Siglo de Oro: Garcilaso und Góngora
College
University of Bonn  (Romanisches Seminar)
Grade
2,4
Author
Year
2002
Pages
90
Catalog Number
V13632
ISBN (eBook)
9783638192361
ISBN (Book)
9783638717199
File size
708 KB
Language
German
Keywords
Mythologische, Themen, Lyrik, Siglo, Garcilaso, Góngora
Quote paper
Karin Alperth (Author), 2002, Mythologische Themen in der Lyrik des Siglo de Oro: Garcilaso und Góngora, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/13632

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