Kaum ein Begriff hat die öffentliche Diskussion in den vergangenen Jahren derart beherrscht wie der der Globalisierung, welcher den Prozess der voranschreitenden weltweiten Vernetzung von Ökonomien und Kommunikationsprozessen über die Grenzen der einzelnen Nationalstaaten hinaus bezeichnet. Der Begriff ist in erster Linie deswegen so populär und zugleich polarisierend, da heute nahezu kein Lebensbereich mehr existiert, der von dieser Entwicklung nicht betroffen wäre. So sind die Auswirkungen der Globalisierung selbst für den „einfachen“ Bürger tagtäglich spürbar, bspw. beim Kauf von Gütern oder der Inanspruchnahme von Dienstleistungen. Sie werden jedoch vor allem dadurch bemerkbar, dass sich der Einzelne gegenwärtig mit der Situation konfrontiert sieht, auf engstem geographischen Raum mit Angehörigen unterschiedlichster Kulturen in Berührung zu kommen. Das Zusammenleben verschiedener Kulturen verläuft jedoch nicht immer problemlos, weshalb sich sowohl praktische Politik als auch politische Theorie mit der Thematik auseinandergesetzt haben und immer noch auseinandersetzen. Im Zusammenhang mit der Frage, wie das Miteinander der Kulturen möglichst konfliktfrei und gerecht geregelt werden könne, wird häufig der Begriff des „Multikulturalismus“ gebraucht.
Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich mit eben diesem Begriff des „Multikulturalismus“. Der erste Punkt dieser Arbeit dient dabei zur Erläuterung der Frage, was unter besagtem Phänomen überhaupt zu verstehen ist. Anschließend sollen die Erkenntnisse eines Theoretikers zum Thema Multikulturalismus etwas näher beleuchtet werden. Dazu wurde exemplarisch das 1992 erstmals erschienene Essay Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung des kanadischen Philosophen Charles Taylor ausgewählt, da es innerhalb der Multikulturalismus-Debatte eine besondere Relevanz besitzt. Der Hauptteil meiner Ausführungen widmet sich sodann der Frage, mit welchen Schwächen die Argumentation Taylors behaftet ist bzw. welche Kritik an seiner Auffassung von Multikulturalismus geübt werden kann/muss. In einem abschließenden Fazit sollen die wichtigsten Erkenntnisse dieser Arbeit noch einmal komprimiert dargestellt werden.
Inhaltsverzeichnis
A: Einleitung
B: Zur Kritik an Charles Taylors Konzeption von Multikulturalismus
1. Begriffsbestimmung: Was ist eigentlich „Multikulturalismus“?
2. Charles Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung
3. Zur Kritik an Taylors Argumentation
3.1 Was rechtfertigt den Erhalt/Schutz von Kulturen?
3.2 Widersprüchlichkeit der Argumentation
3.3 Das Zusammenspiel von Kulturen – ein Nullsummenspiel
3.4 Probleme bei der Bestimmung von (Mehrheits- und Minderheits-)Kultur
3.5 Zur individualistischen/liberalen Kritik an Taylors Konzept
C: Fazit
D: Literaturverzeichnis
A. Einleitung
Kaum ein Begriff hat die öffentliche Diskussion in den vergangenen Jahren derart beherrscht wie der der Globalisierung, welcher den Prozess der voranschreitenden weltweiten Vernetzung von Ökonomien und Kommunikationsprozessen über die Grenzen der einzelnen Nationalstaaten hinaus bezeichnet.[1] Der Begriff ist in erster Linie deswegen so populär und zugleich polarisierend, da heute nahezu kein Lebensbereich mehr existiert, der von dieser Entwicklung nicht betroffen wäre. So sind die Auswirkungen der Globalisierung selbst für den „einfachen“ Bürger tagtäglich spürbar, bspw. beim Kauf von Gütern oder der Inanspruchnahme von Dienstleistungen. Sie werden jedoch vor allem dadurch bemerkbar, dass sich der Einzelne gegenwärtig mit der Situation konfrontiert sieht, auf engstem geo-graphischen Raum mit Angehörigen unterschiedlichster Kulturen in Berührung zu kommen. Das Zusammenleben verschiedener Kulturen verläuft jedoch nicht immer problemlos, weshalb sich sowohl praktische Politik als auch politische Theorie mit der Thematik auseinandergesetzt haben und immer noch auseinandersetzen. Im Zusammenhang mit der Frage, wie das Miteinander der Kulturen möglichst konfliktfrei und gerecht geregelt werden könne, wird häufig der Begriff des „Multikulturalismus“ gebraucht.
Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich mit eben diesem Begriff des „Multikulturalismus“. Der erste Punkt dieser Arbeit dient dabei zur Erläuterung der Frage, was unter besagtem Phänomen überhaupt zu verstehen ist. Anschließend sollen die Erkenntnisse eines Theoretikers zum Thema Multikulturalismus etwas näher beleuchtet werden. Dazu wurde exemplarisch das 1992 erstmals erschienene Essay Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung des kanadischen Philosophen Charles Taylor ausgewählt, da es innerhalb der Multikulturalismus-Debatte eine besondere Relevanz besitzt.[2] Der Hauptteil meiner Ausführungen widmet sich sodann der Frage, mit welchen Schwächen die Argu-mentation Taylors behaftet ist bzw. welche Kritik an seiner Auffassung von Multikulturalismus geübt werden kann/muss. In einem abschließenden Fazit sollen die wichtigsten Erkenntnisse dieser Arbeit noch einmal komprimiert dargestellt werden.
Zur Kritik an Charles Taylors Konzeption von Multikulturalismus
B: Zur Kritik an Charles Taylors Konzeption von Multikulturalismus
1. Begriffsbestimmung: Was ist eigentlich „Multikulturalismus“?
Will man sich mit den Ansichten eines Philosophen wie Taylor zum Zusammenleben verschiedener Kulturen auseinandersetzen und diese kritisch prüfen, so erscheint es sinnvoll, den Begriff des „Multikulturalismus“ erst einmal zu definieren. Dabei empfiehlt es sich, die einschlägigen politikwissenschaftlichen Lexika zu Rate zu ziehen. Dort wird Multikulturalismus als „theoriegeleitete Reflexion“[3] beschrieben. Beim Phänomen des Multikulturalismus handelt es sich also nicht etwa um einen Zustand oder eine praktische Handlung, sondern erst einmal um das prinzipielle und theoretische Nachdenken darüber, wie das Zusammenleben verschiedener Kulturen gleichberechtigt und friedlich gestaltet werden kann. (Wenn hier von Angehörigen unterschiedlicher Kulturen die Rede ist, so sind damit Gruppen von Individuen gemeint, die sich in ihren materiellen Gestaltungsformen der Umwelt, ihren Symbolen, insbesondere der Sprache und der Schrift, ihren Werten und Idealen, ihrer Religion sowie ihren Methoden und Institutionen gesellschaftlichen Zusammenlebens von anderen Gruppen unterscheiden.)[4] Personen, die sich mit dieser Thematik beschäftigen, sind also in erster Linie Philosophen und andere Denker. Erst deren Überlegungen bieten sodann den Anstoß für Handlungen in der praktischen Politik, bspw. in der Kulturpolitik. Bei der Frage danach, wie das Miteinander der unterschiedlichen Kulturen denn zu gestalten ist, wenden sich Multikulturalisten sowohl gegen das Prinzip einer dominierenden Nationalkultur als auch gegen die Ideologie des sog. „melting pot“, welche von einer weitgehenden Angleichung der verschiedenen Kulturen ausgeht. Stattdessen sollten ihrer Ansicht nach Kulturen in ihrer Eigenheit und Besonderheit erhalten und zu diesem Zwecke notfalls auch geschützt werden. Diese Funktion kommt dem Staat zu, der nach Ansicht der Multikulturalisten weitgehende Kompetenzen erhalten sollte, um seiner Schutzfunktion gerecht werden zu können.[5] Wie weit diese staatlichen Kompetenzen reichen dürfen, bis zu welchem Grad die Eigenheit der verschiedenen Kulturen erhalten bleiben soll und welche Gründe es überhaupt gibt, die eine solche Erhaltung legitimieren, darüber besteht unter Multikulturalisten keine Einigkeit, weshalb sie sich in unterschiedliche theoretische Strömungen einteilen lassen. Eine geläufige Unterscheidung ist die zwischen liberalem und radikalem Multikulturalismus.[6] Ein Autor, der sich eher der Strömung des liberalen Multikulturalismus zuordnen lässt, ist der bereits erwähnte Philosoph Charles Taylor. Sein Essay Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung (im engl. Original: Multiculturalism and >The Politics of Recognition<) war von großer Bedeutung für die Thematik und verdeutlicht sehr gut, welcher Linie die Argumentation liberaler Multikulturalisten folgt, weshalb es im Folgenden kurz vorgestellt werden soll.
2. Charles Taylor: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung
Für Taylor besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Identitätsbildung von Individuen und der soziokulturellen Wertschätzung, die sie von der sie umgebenden Gesellschaft erhalten.[7] Die Ausbildung eines gelungenen Selbstbildes sei abhängig von der Anerkennung, die man durch andere Menschen erfahre. So könne man nur dann eine ein menschenwürdiges Dasein ermöglichende Identität entwickeln, wenn man in seiner individuellen Eigenheit, aber auch in seiner kulturellen Besonderheit sowie seinen kulturellen Hervorbringungen und Bräuchen genügend Wertschätzung erfahre. Dies mache im Gegenzug deutlich, dass durch die Missachtung individueller und kultureller Besonderheit keine Identitätsbildung und folglich auch kein menschenwürdiges Dasein möglich sei. Taylor schreibt hierzu: „Die These lautet, [...] daß [sic] ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen wirklichen Schaden nehmen, eine wirkliche Deformation erleiden kann, wenn die Umgebung oder die Gesellschaft ein einschränkendes, herabwürdigendes oder verächtliches Bild ihrer selbst zurückspiegelt. Nichtanerkennung oder Verkennung kann Leiden verursachen, kann eine Form von Unterdrückung sein, kann den anderen in ein falsches, deformiertes Dasein einschließen.“[8] Er verwendet in diesem Zusammenhang den Begriff der „Authentizität“, was soviel bedeutet wie „sich selbst und der eigenen Existenz treu zu sein“.[9] Wie aber könne sich der Mensch selbst treu sein, wenn er in seiner kulturellen Besonderheit keine Wertschätzung erfahre, mehr noch, ihm die Ausübung kultureller Bräuche evtl. sogar erschwert oder verboten werde? Für Taylor ist also klar, dass Angehörige kultureller Minderheiten eine ausreichende Anerkennung durch die Gesellschaft erfahren müssen, da andernfalls mit erheblichen Konsequenzen für deren seelisches Wohlbefinden zu rechnen sei. Der westliche „Rechte-Liberalismus“, der die Prinzipien der Gerechtigkeit und Gleichheit über eine rechtliche Gleichbehandlung aller Individuen zu erreichen sucht, könne diese Anerkennung nicht gewährleisten, da die Minderheitskulturen in diesem Staats- bzw. Gesellschaftsmodell dem Assimilationsdruck der Mehrheitskultur hilflos ausgeliefert seien. Das angeblich neutrale System an Grundrechten sei in Wahrheit subtil diskriminierend, da es die Interessen der Mehrheitskultur bevorzuge.[10] So stelle bspw. die Tatsache, dass gerade der Sonntag als arbeitsfreier Tag festgelegt wurde, eine Bevorzugung der christlichen Bevölkerung dar. Außerdem würden bestimmte Bevölkerungsteile wie die Sinti und Roma dadurch benachteiligt, dass es die Schulpflicht gebe, die Hippie-Bewegung werde dadurch diskriminiert, dass Hanf zwar verboten, andere Drogen wie bspw. Alkohol legalisiert seien. Diese Aufzählung ließe sich problemlos um weitere Beispiele erweitern.[11] Der Liberalismus, wie er heute in vielen westlichen Ländern vorherrsche, verfehle somit sein Ziel, allen Individuen durch einen Kanon allgemein verbindlicher Grundrechte den gleichen Zugang zu Chancen, Freiheiten und Gütern zu gewährleisten. Er sei vielmehr diskriminierend und sogar menschenverachtend, da es ihm nicht gelinge, den Angehörigen bestimmter Minderheitskulturen die für eine gelungene Identitätsbildung erforderlichen Ressourcen bereitzustellen. So blieben sie gegenüber den Angehörigen der Mehrheitskultur stets benachteiligt. Um diesem ungerechten Zustand zu begegnen, bedürfe es also eines veränderten Staatsmodells, eines Liberalismus, der zwischen Grund- und Sonderrechten unterscheidet. Grundrechte wie das Recht auf Leben, Freiheit usw. sollten nach Taylors Ansicht weiterhin unveräußerlich sein und für alle Menschen glei-chermaßen gelten. Davon seien jedoch die Sonderrechte zu unterscheiden, zu denen bspw. das Recht gehöre, sich zwischen zwei oder mehr Amtssprachen für eine beliebige zu entscheiden. Solche und ähnliche Sonderrechte der Bürger sollten bzw. müssten von staatlicher Seite eingeschränkt werden, wenn dies dem Fortbestand einer in ihrer Existenz bedrohten (Minderheits-)Kultur zuträglich sei. Taylor spricht in diesem Zusammenhang von der Festlegung sog. „kollektiver Ziele“ durch den Staat, d. h. dieser verfüge bzw. müsse über die Kompetenz verfügen, bestimmte Ziele festzulegen und sämtliche Gesellschaftsmitglieder auf die Erreichung der selbigen zu verpflichten, wenn dies von ihm als erstrebenswert erachtet werde.[12] Aus einem solchen Blickwinkel heraus würden bspw. die Maßnahmen der Provinzregierung Quebecs in den 1980ern gerechtfertigt erscheinen, welche u. a. den Besuch einer französischsprachigen Schule für bestimmte Bevölkerungsteile als verbindlich festgelegt und als Sprache für Werbezwecke ausschließlich die französische zugelassen hatte. Da diese Maßnahmen allesamt der Erhaltung eines kollektiven Gutes dienen würden, nämlich der französischen Sprache (die ja ein elementarer Bestandteil der französischen Kultur ist), seien sie durchaus gerechtfertigt, auch wenn dabei die individuellen Ziele bzw. Bedürfnisse einzelner Gesellschaftsmitglieder auf der Strecke blieben.[13]
Bei der Frage nach der Möglichkeit interkultureller Verständigung merkt Taylor an, dass es zwischen den Angehörigen verschiedener Kulturen durchaus zu Konflikten kommen könne, da sie häufig unterschiedliche Auffassungen des Guten vertreten würden. Das Problem bei der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen bestehe darin, dass man ihren Bräuchen und Hervorbringungen Anerkennung und Respekt zollen müsse, ohne dabei jedoch von den eigenen Vorstellungen darüber, was gut und richtig ist, abzuweichen. Dies sei durch eine „Annahme der Gleichwertigkeit“ möglich: Jede Kultur habe das Recht darauf, prinzipiell als wertvoll erachtet zu werden. Damit werde sichergestellt, dass ihren Angehörigen ein Gefühl von Anerkennung vermittelt werde (was nach Taylor für deren Identitätsbildung und menschenwürdiges Dasein von immenser Bedeutung ist) und die Auseinandersetzung mit ihnen vorurteilsfrei erfolge. Eine Kultur habe jedoch keinen Anspruch darauf, dass sie nach erfolgter und vorurteilsfreier Auseinandersetzung immer noch als wertvoll angesehen werde. Eine Kultur, die Werte und Normen vertrete, die mit dem eigenen kulturellen Wertehorizont absolut unvereinbar seien, müsse bzw. dürfe nicht anerkannt werden, auch wenn dies möglicherweise negative Folgen für die Identitätsbildung der Betroffenen nach sich ziehe. Dies hätte nämlich negative Auswirkungen auf die eigene kulturelle Identität.[14] Hier zeigt sich deutlich, warum Taylor als liberaler Multikulturalist gilt: Er wendet sich gegen eine grundsätzliche Gleichwertigkeit aller Kulturen, wie sie von radikalen Multikulturalisten propagiert wird, spricht sich aber dennoch für den Schutz der Besonderheit von Kulturen aus.
[...]
[1] Vgl. Nohlen, Dieter: Globalisierung. In: Nohlen, Dieter/Schultze, Rainer-Olaf: Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe. Band 1: A-M. München 2005. S. 317-321.
[2] Vgl. Rosa, Hartmut: Charles Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung (1992). In: Brocker, Manfred (Hrsg.): Geschichte des politischen Denkens. Ein Handbuch. Frankfurt am Main 2007. S. 774-789.
[3] Rieger, Günter: Multikulturalismus. In: Nohlen, Dieter / Schultze, Rainer-Olaf (Hrsg.): Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe. Band 1: A-M. München 2005. S. 591-592.
[4] Vgl. Hillmann, Karl-Heinz: Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart 2007. S. 471 f.
[5] Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Multikulturalismus (Zugriff 30.06.2009)
[6] Vgl. Rieger 2005, a. a. O., S. 591-592.
[7] Vgl. Taylor, Charles: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt am Main 1993. S. 13 ff.
[8] ebd., S. 13 f.
[9] ebd., S. 17.
[10] Vgl. ebd., S. 43 ff.
[11] Vgl. Rosa 2007, a. a. O., S. 774-789.
[12] Vgl. Taylor 1993, a. a. O., S. 50 ff.
[13] Vgl. Rosa 2007, a. a. O., S. 774-789.
[14] Vgl. Taylor 1993, a. a. O., S. 56 ff.
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