Meine Hausarbeit beschreibt die Geschichte der Verbreitung einer vegetarischen Bewegung in Russland und behandelt im Wesentlichen die Frage: Inwiefern gab nes damals und gibt es heute ein vegetarisches Verständnis in den Breitengraden unseres europäisch- asiatischen Nachbarns. Dabei führt seine Geschichte von den ersten asketischen Gläubigern der orthodoxen Kirche über einen revolutionären Schritt Leo Tolstois bis hin zur dominierenden Doktrin der Sowjetmacht und dem Selbstverständnis zum Respekt gegenüber Lebewesen unserer Gesellschaft heute. "Während sich in Europa frühe Gedanken zum Vegetarismus bereits in der Antike aufspüren lassen, scheint die Entwicklung in Russland erst viel später eingetreten zu sein. Umso interessanter ist es festzustellen, dass der streng rechtgläubige Mensch in seinem Streben nach Gott und Vollkommenheit knapp zwei drittel des Jahres wie selbstverständlich dem Vegetarierdasein huldigt."
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Anfänge des russischen Vegetarismus
2.1. Der orthodoxe Glaube
2. 2. Die Beherrschung der eigenen Fleischeslust
3. Krieg, Frieden und Vegetarismus Die Ära Tolstois
3.1. Die ersten Schritte
3. 2. Eine Brücke von den Wurzeln zur Moderne
4. Im Schatten der Sowjetunion
5. Vegetarismus in Russland heute
6. Schlussbetrachtung
7. Quellen
8. Plagiatserklärung
1. Einleitung
Gibt man sich in Russland als Vegetarier zu bekennen, ist die Reaktion oft die gleiche. Die Menschen sind erstaunt und wirken ungläubig, fragen nach einer Allergie oder Unverträglichkeit, sie reagieren entsetzt und einige unter ihnen geben sich beleidigt über die Ablehnung eines guten Essens.
Während in Deutschland der Trend gesunder Ernährungsweisen uns in den letzten Jahren den Begriff Vegetarismus immer mehr als etwas Selbstverständliches, für Ernährung und Lebensweise Wohltuendes suggeriert und als Modetrend unübersehbar ist, so scheint man in Russland dieser Entwicklung noch sehr fern zu sein. Selbst Jugendliche unter ihnen wirken nicht weniger erstaunt über solch eine Ernährungsweise, so dass sich die Frage in den Vordergrund rückt, in wie fern es überhaupt eine vegetarische Bewegung in den Breitengraden Russlands gibt, ob es sie je in zu Europa vergleichbaren Ausmaßen gegeben hat und welchen Ursprungs sie herrührt.
Peter Brang, ein Schweizer Professor für Slavistik, hat mit seinem Buch „Ein unbekanntes Russland- Kulturgeschichte vegetarischer Lebensweisen von den Anfängen bis zu Gegenwart", erschienen 2002 im Böhlau Verlag Köln, einen großen Vorsprung zu diesen Fragen geleistet und sich insbesondere den Fakten zur Geschichte gewidmet, worauf ich mich im Laufe meiner Arbeit häufig stützen werde. Mein Ziel wird es zudem sein, eine Skizze zur Ideologie des russischen Vegetarismus zu zeichnen, um somit Aufschluss über seine Herkunft zu gewinnen und eventuell die Frage seiner geringen gegenwärtigen Verbreitung zu klären.
Dafür werde ich mich im Hauptteil meines folgenden Beitrags vier prägenden Epochen, bzw. Bereichen zuwenden, in welche die Verbreitung des Vegetarismus augenscheinlich zu gliedern ist:
Zum einen komme ich zu seinen ersten nachvollziehbaren Ausprägungen in Form religiöser Praktiken, welche gerade durch den orthodoxen Glauben Dominanz erlangten. Des Weiteren möchte ich einen Großteil der Arbeit Tolstois hinsichtlich
Verbreitung und Organisation widmen und dabei vor allem auf sein wichtigstes Werk und dessen Wirkung eingehen. Im dritten Teil meiner Untersuchung komme ich dann zur Unterdrückung des ideologischen Gedankenguts durch das Sowetregime und abschließend werde ich einen Abriss über die Ausbreitung des Vegetarismus heute geben.
2. Die Anfänge des russischen Vegetarismus
2.1. Der orthodoxe Glaube
Während sich in Europa frühe Gedanken zum Vegetarismus bereits in der Antike aufspüren lassen, scheint die Entwicklung in Russland erst viel später eingetreten zu sein. Umso interessanter ist es festzustellen, dass der streng rechtgläubige Mensch in seinem Streben nach Gott und Vollkommenheit knapp zwei drittel des Jahres wie selbstverständlich dem Vegetarierdasein huldigt.
Die orthodoxe Kirche sah schon lange vor durch den Verzicht auf Fleisch und Fisch, sowie Tierprodukten wie Milch und Eier dem Feidensweg Christi nachzuempfinden und sich dadurch von sündhaften Gedanken zu befreien und die Seele zu reinigen. Es soll der Körper derart geschwächt werden, dass schon gute Taten einen Kraftakt bedeuten würden, jedoch auch schlechte, worauf die Entscheidung wohl auf die Umsetzung guter Taten forciert wird.
Im russisch- orthodoxen Volk ist somit heute noch besonders das große Fasten sieben Wochen vor Ostern (Velikij post) weit verbreitet, sowie das Adventsfasten (Rozdestvenskij post), welches vierzig Tage, vom 15. November bis Weihnachten, währt. Zudem kennt die Tradition das Apostelfasten (Petrov post) vom Pfingstsonntag bis zum Tag des Peter und Paul am 29. Juni und das Marien- Fasten (Uspenskij post) vom 1. August bis zu Mariä Heimsuchung am 15. August.
Mit den vielen einzelnen Fastentagen, welche die Kirche zu Feiertagen vorsieht und dem Fakt, dass das ganze Jahr über mittwochs und freitags enthaltsam gegessen wird kommt man tatsächlich auf beachtliche 220 Tage im Jahr.
Obwohl der genaue Fastenkalender dabei Anweisungen vorsieht, welche teils Fisch und Milchprodukte in verschiedenen Abstufungen an bestimmten Tagen erlauben, kann man festhalten, dass kontinuierlich der Verzicht auf Fleisch postuliert wird.
In vielen Klöstern leben Mönche sogar heute noch das gesamte Jahr über frei von Tierprodukten, um durch die Intensität des Fastens ihren starken Glauben zu Gott auszudrücken.
Somit bildet der Vegetarismus schon lange eine zentrale Askese im orthodoxen Glauben und schlug in seiner religiösen Form bereits früh tiefe Wurzeln in Russland, ohne wahrscheinlich je als solcher benannt worden zu sein.
Diese asketische Bedeutsamkeit möchte ich mit dem nächsten Kapitel weiter vertiefen.
2. 2. Die Beherrschung der eigenen Fleischeslust
Wie in jeder kirchlichen Institution gab es auch neben der orthodoxen Kirche viele Ableger, welche im Konflikt zur herrschenden Überzeugung als Sekten bezeichnet werden und es sich zur Aufgabe machen durch besondere Formen der Enthaltsamkeit und Selbstgeißelung ihren eigensinnig disziplinierten Glauben zu äußern. Dabei stand in Russland gerade der Verzicht auf Fleisch in seinen verschiedenen Abstufungen auf der Grundlage des orthodoxen Fastens im Vordergrund.
Eine der ersten nachgewiesen vegetarisch lebenden Sekten in Russland waren die Chlysten („Geißler"), welche sich selbst auch „Gottesleute" (Ijudi bozii) nannten.
Sie gründeten sich im 17. Jh. und strebten vorrangig die Reinkarnation Christi jedes Individuums durch unmäßige Selbstkastei an. Dies gestaltete sich zum einen in ritualisierten Gottesdiensten, welche es vorsahen, ihre Anhänger bis zur Bewusstlosigkeit und weiter auszupeitschen, um daraufhin in ekstatischer Begierde übereinander herzufallen, wobei der Schlussakt einzig und allein der Zeugung von Nachkommen dienlich war. Zum anderen sah es die wesentliche Philosophie der Chlysten vor das eigene Fleisch und die damit verbundene Begierde zu beherrschen, was seinen Ausdruck nicht nur in strikter Keuschheit, sondern auch in der Manifestierung eines vehementen Vegetarismus fand.[1]
So findet man in Peter Brangs Darlegungen die Argumentation: „Die kirchlichen Fasten erscheinen ihnen lange nicht ausreichend. Nicht nur an bestimmten Tagen, sondern stets solle man Nichtfastenspeisen vermeiden, vor allem Fleisch."[2]
Man kann daraus ableiten, dass der ganzjährige Verzicht auf Fleisch für die Chlysten eine Abgrenzung zur für sie 'halbherzigen' Abstinenz der Großkirche darstellte und sie die reine Frömmigkeit erst im Minimalisieren auf lebensnotwendige Bedürfnisse sahen. Für sie stand somit die Entsagung von Fleisch als Nahrung in enger Verbindung zur Enthaltung sexueller Begierde.
Auf der Grundanschauung der Chlysten gegründet, taten sich als Splittergruppe in der zweiten Hälfte des 18. Jh. die Skopzen (russ. skopec „Kastrat") hervor. Sie waren ebenfalls strenge Vegetarier aus dem Grundsatz der Unterdrückung sämtlicher fleischlicher Gelüste heraus, um durch die Reinwaschung des Geistes dem heiligen Sohn Gottes näher zu kommen. Jedoch frönten sie einer viel strengeren Askese. Ihr Glaube sah es nämlich vor erst durch Verstümmelung der Geschlechtsorgane und der damit verbundenen sexuellen Inkompetenz einen berechtigten Zugang zur Himmelspforte zu erlangen.
Eine wahrscheinlich auf dem gleichen Keuschheitsmotiv beruhende, jedoch friedfertigere Gesinnung war bei den Malyvancy zu finden, welche im Laufe des 19. Jh. auftauchten. Sie aßen aus religiöser Enthaltsamkeit weder Fleisch, noch Fisch, noch sämtliche Tierprodukte und waren grundsätzlich gegen Domestizierung. Dies würde aus heutiger Sicht terminologisch dem Veganismus entsprechen, welcher sich zum Vegetarismus vorrangig durch die zusätzliche Vermeidung von Tierprodukten ausdrückt. Zudem waren die Malevancy wohl bekannt für ihre ausgeprägte Abstinenz gegenüber Alkohol.
Neben den oben genannten gibt es noch viele kleinere Sekten, welche ebenfalls ihre religiöse Attitüde im Vegetarismus fanden. Jedoch wird schon an den eben angesprochenen deutlich, dass sich der Grundgedanke der seelischen Reinwaschung
[...]
[1] Brang, Peter: Ein unbekanntes Russland- Kulturgeschichte vegetarischer Lebensweise von den Anfängen bis zur Gegenwart. Köln. 2002; S. 17 ff.
[2] Brang, Peter: a. a. O.; S. 17
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- Franziska Reymann (Autor), 2009, Vegetarismus in Russland, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/136928