Bildung in der Freizeit?

Standortbestimmung der Bildungsarbeit in Jugendfreizeiteinrichtungen


Mémoire (de fin d'études), 2007

94 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Abbildungsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Einleitung

Teil A

1. Bildung
1.1. Einleitende Begriffsbestimmung von Bildung
1.1.1. Wortstamm und Historie
1.1.2. Bildung - begriffliche Abgrenzungen
1.2. Der Zusammenhang von Bildung und Menschenbild
1.3. Bildung im Kontext der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung
1.3.1. Das Bildungssystem
1.3.2. Die Wissensgesellschaft
1.3.3. Globalisierung und die Internationalisierung
1.3.4. Demographische Veränderungen
1.3.5. Pluralisierung und Individualisierung
1.4. Bildung im entwicklungspsychologischen Kontext
1.4.1. Die psychosoziale Entwicklungstheorie von Erik H. Erikson
1.4.2. Das Konzept der Entwicklungsaufgaben von Robert J. Havighurst
1.5. Die verschiedenen Dimensionen von Bildung
1.5.1. Die formelle Bildung
1.5.2. Die non-formelle Bildung
1.5.3. Die informelle Bildung

2. Freizeit
2.1. Das Konzept der Lebenszeit nach Horst Opaschowski
2.2. Freizeit im Jugendalter
2.3. Freizeit im Kontext aktueller gesellschaftlicher Verhältnisse

3. Zusammenfassung Teil A

Teil B

4. Bildung in der offenen Jugendarbeit
4.1. Die gesetzlichen Rahmenbedingungen und der Bildungsauftrag
4.2. Strukturelle und konzeptionelle Rahmenbedingungen der offenen Jugendarbeit
4.3. Offene Jugendarbeit als Bildungsarbeit
4.3.1. Non-formelle Bildungsmöglichkeiten in der offenen
Jugendarbeit
4.3.2. Informelle Bildungsmöglichkeiten in der offenen
Jugendarbeit
4.4. Die Positionierung der offenen Jugendarbeit innerhalb des
deutschen Bildungssystems

5. Die Mitarbeiterbefragung als Methode zur Standortbestimmung der Bildungsarbeit in Jugendfreizeiteinrichtungen
5.1. Der Fragebogen als empirisches Forschungsinstrument
5.1.1. Die empirische Sozialforschung
5.1.2. Die Forschungsmethode der schriftlichen Befragung mit
dem qualitativen Forschungsinstrument Fragebogen
5.2. Die Fragebogenuntersuchung
5.2.1. Einführung und Zielstellung
5.2.2. Die Zielgruppe
5.2.3. Die Methodenauswahl
5.2.4. Der Fragebogen
5.2.5. Die Befragung
5.2.6. Die Evaluation der Fragebögen
5.2.7. Zusammenfassung der Fragebogenuntersuchung
5.3. Reflexion der Mitarbeiterbefragung

6. Die Jugendfreizeiteinrichtung „Das Horn“ - ein sozialpädagogisches Praxisbeispiel
6.1. Das konzeptionelle Leitbild der Einrichtung
6.2. Die Bildungsarbeit der Einrichtung
6.2.1. Das Strukturmodell zur Partizipation von Kindern und Jugendlichen
6.2.2. Die Angebotsstruktur der Einrichtung
6.2.2.1. Offener Bereich
6.2.2.2. Proberaum und Tonstudio für junge Musiker
6.2.2.3. Medienwerkstatt
6.2.2.4. Keramikwerkstatt
6.2.2.5. Workshops
6.2.2.6. Jugendgruppenfahrten
6.2.3. Die Veranstaltungen
6.3. Sozialraumorientierung
6.4. Zusammenfassung des sozialpädagogischen Praxisbeispiels

7. Schlusswort

Literaturverzeichnis

Vorwort

Seit mittlerweile10Jahren arbeite ich als Erzieher im Bereich der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Sowohl die Auseinandersetzung mit verschiedenen Jugendkulturen im Kontext gesellschaftlicher Verhältnisse als auch die Möglichkeiten und Potentiale, die sich innerhalb dieser Jugendkulturen erschließen lassen, waren dabei immer von besonderem Interesse für mich. Durch die vierjährige Ausbildung an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin wurde mein Blick auf die Lebenswelten der Jugendlichen als eigenständige Sozialisations- und Bildungsinstanzen geschärft. In diesem Zusammenhang habe ich meine Arbeit stets als Unterstützung jugendkultureller Aneignungsprozesse verstanden. Mit der zunehmenden politischen und öffentlichen Thematisierung notwendiger Bildungsreformen begann ich, mich mit meinem eigenen Verständnis von Bildung in Bezug zu meiner Arbeit auseinanderzusetzen. Die vielfältigen Möglichkeiten und das enorme Potential, welches ich in der Jugendarbeit erkennen konnte, führten mich zu der Frage, warum die Jugendarbeit in den aktuellen Debatten nur wenig Berücksichtigung findet. Dabei fiel mir auf, dass selbst innerhalb der Jugendarbeit Bildung kaum ein größeres Thema zu sein scheint. Dies alles veranlasste mich, eine Standortbestimmung der Bildungsarbeit in Jugendfreizeiteinrichtungen vorzunehmen.

Für die geleistete Unterstützung bei der Erstellung der nun vorliegenden Diplomarbeit möchte ich mich bei Milena für ihre Geduld und ihr Verständnis, bei Klawa und Qbi für ihren korrigierenden Rat sowie bei meinen Kollegen für ihre Unterstützung während des gesamten Studiums herzlich bedanken.

Anhang 1 Der für die Mitarbeiterbefragung verwendete Fragebogen

Anhang 2 Die Erhebungsergebnisse der Mitarbeiterbefragung

Abbildungsverzeichnis

Abb. 01: Die acht Stadien in Eriksons psychosozialer Entwicklungstheorie (vgl. ZIMBARDO, GERRIG, 2004, S. 471)

Abb. 02: Entwicklungsaufgaben im Jugendalter (vgl. OERTER, MONTADA, 2002, S. 271).

Abb. 03: Bildungschancen der Familie, der Peer Group und der Medien (vgl. SMOLKA, RUPP in: HARRING u.a., 2007, S.225 ff).

Abb. 04: Universalität des positiven Freizeitbegriffs

Abb. 05: Bildungskonzepte im Wandel (vgl. OPASCHOWSKI, 1996, S. 61)

Abb. 06: Organigramm der Jugendfreizeiteinrichtung (vgl. JFE DAS HORN, 2005, S. 4)

Abb. 07: Phasenmodell der Entwicklung zu freien Mitarbeitern

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Einleitung

Wie kein anderes ideelles Gut wirkt Bildung als Motor der subjektiven wie gesellschaftlichen Entwicklung. Der Grad der Bildung bestimmt die Art und den Umfang der Welt, die wir uns erschließen, in der wir uns verorten, an der wir teilhaben. Für das Subjekt resultiert der Lebenswert einer Gesellschaft aus dem ihm ermöglichten individuellen Teilhabeniveau. Gerecht wird eine Gesellschaft nicht dadurch, dass sie einzelne Teile bevorzugt, sondern dass sie einen hohen Durchschnitt, ein möglichst hohes Teilhabeniveau für alle Mitglieder erreicht. Bildungschancen und damit die Teilhabechancen sind in Deutschland ungleich verteilt. Die daraus resultierende und sich manifestierende Spaltung der Gesellschaft ist ein elementares Hindernis auf dem Weg zu sozialer Gerechtigkeit.

Soziale Gerechtigkeit ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Dem Bildungssystem kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Die Hauptaufgabe des Bildungssystems ist es, den Einzelnen auf die Anforderungen des Lebens in bestmöglicher Weise vorzubereiten und ihn dabei in seiner freien Entfaltung zu unterstützen. Aktuelle gesellschaftliche Veränderungen lassen die traditionellen Methoden und Strategien unseres Bildungssystems hinsichtlich ihrer Tauglichkeit zur Erfüllung dieser Aufgabe mehr und mehr fragwürdig erscheinen. Geht es doch um nichts Geringeres als darum, unsere Gesellschaft zukunftsfähig zu machen. Auf der Suche nach geeigneten Konzepten, die aktuellen Herausforderungen des deutschen Bildungssystems zu meistern, rücken neben den traditionellen Bildungsorten nun zunehmend auch bisher unbeachtete Lernwelten in das Zentrum des Interesses. Was für traditionelle Bildungsinstitutionen Neuland bedeutet, ist für die Jugendarbeit schon seit langem ein pädagogisches Handlungsfeld. Dieses Handlungsfeld der Jugendarbeit unter dem Blickwinkel eines modernen Bildungsverständnisses darzustellen, ist das Hauptziel dieser Diplomarbeit.

Ich möchte damit die Aufmerksamkeit auf das inhärente Bildungspotential der Jugendarbeit lenken und so einen Beitrag leisten, Bildung innerhalb der Jugendarbeit zu thematisieren. Diese Diplomarbeit möchte die Mitarbeiter in den Jugendfreizeiteinrichtungen motivieren, sich intensiver mit dem eigenen Bildungsauftrag und der damit verbundenen Verantwortung als Teil des Bildungssystems auseinanderzusetzen.

Mit dieser Zielstellung wird in dieser Arbeit der Blick auf die Thematik hauptsächlich auf die wesentlichen Perspektiven, welche für die Jugendarbeit besonders relevant sind, beschränkt. Dem Anspruch auf Vollständigkeit kann eine Arbeit dieses Umfangs nicht genügen. Das in dieser Diplomarbeit durchgängig verwendete generische Maskulinum soll der Übersichtlichkeit des Textes dienen. Grundsätzlich sind dabei, soweit nicht explizit benannt, beide Geschlechter gleichermaßen gemeint. Eine weitere Einschränkung ist die ausschließliche Orientierung an der Bildungstradition des abendländischen Kulturkreises und im speziellen auf die der deutschen Kulturgeschichte.

Die außerschulische Bildung ist aktuell ein wichtiger Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung und Forschung. Daraus resultiert der positive Umstand, dass ein Großteil der hier verwendeten Literaturquellen neueren Datums ist. Besonders der Zwölfte Kinder- und Jugendbericht (2005) aber auch der Elfte Kinder- und Jugendbericht (2002), der erste Nationale Bildungsbericht(2006) und seine zuvor veröffentlichten konzeptionellen Grundlagen (2004) sind ergiebige Quellen und durchdringen die Thematik umfangreich. Für die spezifische Perspektive der Jugendarbeit gibt es zahlreiche Publikationen namhafter Wissenschaftler. Besonders die Bücher „Bildung in der Kinder- und Jugendarbeit“, herausgegeben von B. Sturzenhecker und W. Lindner (2004) und „Perspektiven der Bildung“, herausgegeben von M. Harring, C. Rohlfs und C. Palentien (2007) waren für mich wertvolle Informations- und Inspirationsquellen.

Die Arbeit gliedert sich in einen theorieorientierten und einen praxisorientierten Teil. Der erste Teil umfasst die Kapitel eins und zwei. Hier werden jeweils die Begriffe Bildung und Freizeit aus verschiedenen Perspektiven betrachtet. Nach einer ersten Zusammenfassung wird im zweiten Teil mit Kapitel vier die offene Jugendarbeit im Bildungskontext thematisiert. Nach der Klärung der gesetzlichen, strukturellen und konzeptionellen Rahmenbedingungen der offenen Jugendarbeit wird ihr Bildungsverständnis und ihre Positionierung innerhalb des Bildungssystems betrachtet. In Kapitel fünf wird der Fragebogen als empirisches Forschungsinstrument zur Standortbestimmung der Bildungsarbeit in Jugendfreizeiteinrichtungen vorgestellt und angewandt. Das sechste Kapitel, beschreibt eine typische Jugendfreizeiteinrichtung und stellt anhand ihrer Angebote ihre spezifischen Bildungsmöglichkeiten dar. Es folgt eine zweite Zusammenfassung und am Ende schließlich eine übergreifende Reflexion der Diplomarbeit.

Teil A

1. Bildung

1.1. Einleitende Begriffsbestimmung von Bildung

Bildung ist ein kulturell determinierter Begriff mit einer sehr komplexen, mehrdimensionalen Bedeutung. Darum erweist es sich als äußerst schwierig, den Bildungsbegriff präzise zu bestimmen. Je nachdem welche Teilbereiche des Bildungsbegriffs im Zentrum der Betrachtung stehen, welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen den Hintergrund bilden oder welches Menschenbild die Betrachtung prägt, unterscheiden sich die Begriffsbestim-mungen teilweise sehr stark voneinander. Aus diesem Grund verzichte ich auf einen Versuch, den Begriff in Form einer Definition zu bestimmen. Vielmehr erscheint es mir sinnvoll, den Begriff aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten, um so seine Vielschichtigkeit und seine Bedeutung für die Soziale Arbeit darzustellen.

1.1.1. Wortstamm und Historie

Im Duden Band 7 steht: „Bildung (mhd. bildunge, ahd. bildunga „Schöpfung, Verfertigung“ auch „Bildnis, Gestalt“; im 18. Jh. folgt das Wort der Entwicklung von „bilden“ zum pädagogischen Begriff, verflacht aber vielfach zur Bezeichnung bloßen Formalwissens)“ (Duden, Band 7, 1997, S. 82). Die Brockhaus- Enzyklopädie weist Bildung als „Grundbegriff der deutschsprachigen Pädagogik seit Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts“ (Brockhaus, Band 3, 1996, S. 330) aus. Bildung, griech. Paideia, steht in der griechischen Antike für „die Hin- oder Umwendung des Menschen zum Denken des Maßgeblichen“ (ebd.).

Im antiken Griechenland war Bildung im Grunde ausschließlich ein Privileg der Herrschenden. Lediglich der Herrschende muss gebildet sein, um weise und gerecht regieren zu können (vgl. DÖRPINGHAUS u.a., 2006, S. 51). Dennoch war hier die Intention des Begriffes so universal, dass sich alle folgenden Epochen der abendländischen Kulturentwicklung bis in die Neuzeit mehr oder weniger stark darauf berufen. Der Philosoph Platon (427 - 347 v. Chr.), Schüler von Sokrates, gilt als Begründer der abendländischen Bildungstradition. Er versteht Bildung als den „Aufstieg zum Wissen und zur Einsicht in die Wahrheit“ (DÖRPINGHAUS u.a., 2006, S. 49). Mit dem weiteren Verlauf der kulturellen Entwicklung tritt das Christentum gesellschaftsprägend in den Vordergrund. Die Scholastik, „die auf die antike Philosophie gestützte, christliche Dogmen verarbeitende Philosophie und Theologie des Mittelalters“ (DUDEN Band 5, 2005, S. 939), entwickelt sich zur beherrschenden Lehrform. Die antike Hinwendung zum Höheren wird in der christlichen Tradition des Mittelalters als die Orientierung an und Hinwendung zu Gott verwendet. Die christlichen Mystiker wie z.B. Meister Eckhart (1260 – 1328) beschreiben die Wiedergeburt des Menschen als Ein-Bildung in das Bild Christi. Der Mensch wird Mensch durch die Einswerdung mit Gott. Durch die weite Verbreitung mystischer Literatur hat dieses Verständnis besonders im deutschen Sprachbereich damals alle anderen Auffassungen von der Menschwerdung des Menschen verdrängt (vgl. MEYERS ENZYKLOPÄDISCHES LEXIKON, Band 4, 1972, S. 195). Seit der Erfindung des Buchdrucks wird Wissen zunehmend einem breiteren Personenkreis zugänglich.

Im weiteren Verlauf der Geschichte, durch Renaissance, Reformation und Aufklärung hindurch, formiert sich schrittweise ein neues Bild des Menschen. Dabei rückt der Mensch zunehmend selbst in das Zentrum der Betrachtungen. An die Stelle der Angleichung an ein höchstes Wesen tritt ein Verständnis von Bildung als „Hervorbringung der Menschlichkeit des Menschen in eigener Anstrengung aus sich heraus“ (Brockhaus, 1996, S. 330).

In diesem Sinne erhält Bildung eine zentrale Funktion für die individuelle als auch für die gesellschaftliche Entwicklung. „Indem sie (die Bildung, Anm. d. Verf.) dem Einzelnen vielfältige Zugänge zum Universum der Kulturen eröffnet, ermöglicht sie über den Wettbewerb der Geister zugleich die Aneignung und konstruktive Weiterentwicklung kultureller Traditionen. Damit ist Bildung sowohl die Grundbedingung persönlicher Autonomie als auch Vehikel des gesellschaftlichen und kulturellen Fortschritts“ (VEITH in: HARRING u.a., 2007, S.48). Mit dem aufkommenden Humanismus entwickeln sich die ersten Formen von Schulpflicht und das Schulwesen beginnt sich auszudifferenzieren. Zuerst zweigliedrig als Elementarschule und Lateinschule und nach der Bildungsreform Wilhelm von Humboldts (1767 - 1835) als das dreigliedrige Schulsystem, wie es im Grunde bis heute in Deutschland Bestand hat. Diese Gliederung des Bildungswesens sollte, den individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten des Individuums Rechnung tragend, eine nach Bedürfnissen gestaffelte Bildung ermöglichen. Dass neben intellektuellen auch soziale Ungleichheiten unterschiedliche Möglichkeiten produzieren, blieb unberücksichtigt. Somit war eine höhere Bildung weiterhin nur für wohlhabende Teile der Bevölkerung gegeben. Bildung blieb also weiterhin ein Statussymbol und Machtfaktor in einer hierarchisch strukturierten Gesellschaft. Dennoch wandelte sich das Verständnis von Bildung grundlegend. Aus einem absoluten Privileg der Oberschicht wird, zumindest in einem gewissen Umfang, Bildung zur Allgemeinbildung, zur Bildung für alle. Mit der Etablierung des Schulsystems wird Bildung institutionell monopolisiert. Dabei wird das Verständnis von Bildung im Laufe der Zeit auf die Inhalte der Schulbildung, im speziellen der allgemeinbildenden Schulen, auf vermittelten Lernstoff subsumiert.

Der Bildungskanon spiegelt das bürgerliche Bildungsideal wider, was zu wissen ist, um „gebildet“ zu sein (vgl. HORNSTEIN in: STURZENECKER, LINDNER, 2004, S. 17). Damit tritt eine wesentliche Dimension des humanistischen Bildungsbegriffs in den Hintergrund, nämlich die Bildung des Individuums aus sich selbst heraus, um seiner Selbst Willen. Diese Verengung des Bildungsbegriffs prägt bis heute weite Bereiche des öffentlichen Bildungsverständnisses. Mit den aufkommenden reformpädagogischen Ideen der Jugendbewegung und der sich mit ihr entwickelnden Jugendarbeit ab Ende des19.Jahrhunderts bewahrte und entwickelte sich ein weiter gefasstes Bildungsverständnis. Dieser reformerische Geist gedieh bis er durch den aufkommenden Nationalsozialismus nahezu vollständig beendet wurde. Im Nationalsozialismus wurde der Bildungsgedanke der nationalsozialistischen Ideologie gleichgeschaltet. Nach dem2.Weltkrieg wurde das Schulsystem in Ostdeutschland vollständig unter staatliche Kontrolle gestellt, zu einer Kaderschmiede des sozialistischen Systems. „Die neuen Prämissen der sozialistischen Erziehung sollten sich nunmehr ausschließlich aus der Verantwortung des Einzelnen gegenüber Staat, Partei und Gesellschaft ableiten“ (VEITH in: HARRING u.a., 2007, S. 56). In Westdeutschland konzentrierte sich das Bildungssystem auf eine ideologiefreie, individuelle Bildung. Im schulischen Kontext rückt dabei ein leistungsorientierter Selektionsgedanke in den Vordergrund (ebd.). In außerschulischen Bildungseinrichtungen entwickelt sich eine Gegenkultur zum Zwangssystem Schule, welche für die gesellschaftliche Meinungsbildung allerdings keine dauerhaft dominierende Relevanz entwickelt.

Heute sind Schulbildung, Berufs- und Hochschulausbildung die tragenden Elemente eines bevölkerungsweit verbreiteten Bildungsbegriffs. Seit den 1990er Jahren, spätestens jedoch seit der Veröffentlichung der ersten PISA-Studienergebnisse aus dem Jahr 2000, in denen dem deutschen Bildungssystem gravierende Mängel aufgezeigt wurden, werden zunehmend Debatten auf politischer wie auf wissenschaftlicher Ebene geführt, den Bildungsbegriff in Deutschland entsprechend den modernen Anforderungen unserer Zeit zu aktualisieren.

Roman Herzog „vertritt die Auffassung, Deutschland befinde sich aufgrund der aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen an einer ähnlichen Schwelle wie zur Zeit der Humboldtschen Reformen“ (MÜLLER, 2002, S. 124) und mahnte bereits 1997: „Bildung muß das Megathema unserer Gesellschaft werden“ (RICKEN in: HARRING u.a., 2007, S. 15).

1.1.2. Bildung - begriffliche Abgrenzungen

Wie bereits ersichtlich wurde, besteht zwischen Bildung und den gesellschaftlichen und geschichtlichen Rahmenbedingungen ein starker Zusammenhang. Bildung steht also in Bezug zu unterschiedlichen kulturellen Gegebenheiten und gerät dabei zwangsläufig in Sphären, die auch mit anderen Begriffen besetzt sind. Es gibt eine Vielzahl einschlägiger Begriffe, die disziplinär oder teildisziplinär einzelne Aspekte favorisieren. Kein einzelner Begriff kann allein und vollständig an die Stelle des Bildungsbegriffs treten oder synonym verwendet werden. Angesichts der jeweils begrenzten Erklärungskapazität der Nachbarbegriffe ist Bildung allerdings nicht einfach die Summe aus Erziehung, Sozialisation, Kompetenz, Lernen etc., sondern eine eigene spezifische Blickrichtung (vgl. DÖRPINGHAUS u.a., 2006, S. 148). Neben den Zweifeln an der Sinnhaftigkeit einer konsequenten und strengen Abgrenzung besteht die Gefahr, bei Präzisierungsversuchen den Begriff um wichtige Fassetten zu beschneiden. Ich möchte anhand exemplarischer Beispiele die Problematik einer Abgrenzung darstellen.

Erziehung

„Erziehung ist die zielgerichtete und absichtsvolle Etablierung erwünschter Verhaltensweisen, Werte und Normen bei Kindern und Jugendlichen. Ziel der Erziehung ist nicht etwa lediglich positive Sozialisation, d.h. die Eingliederung des Zöglings in soziale Gruppen wie z.B. der Familie und die Heranführung an das Leben und Überleben in der Gesellschaft. Auch Erziehung zur Mündigkeit und Selbstbestimmung sollte wesentlicher Bestandteil des erzieherischen Einwirkens sein. Entscheidend ist, dass Erziehung immer nur im sozialen Kontext - also durch andere Individuen - stattfinden kann, und anders als Bildung ausschließlich für die Orientierung im sozialen Umfeld nützlich ist. Dennoch ist eine scharfe Abgrenzung zwischen Bildung und Erziehung nicht immer möglich und sinnvoll“ (http://de.wikipedia.org/wiki/Erziehung, 6.12.2007). „Erziehung ist keine qualitative Vorstufe von Bildung oder deren Vorraussetzung, sondern eine andere pädagogische Perspektive“ (DÖRPINGHAUS u.a., 2006, S. 136 f). Wie eng Erziehung und Bildung miteinander verwoben sind, lässt sich auch daran erkennen, dass in anderen Sprachen für beide Begriffe das gleiche Wort (z.B. engl.: Education) verwendet wird.

Wissen

Wissen ist die Kenntnis von und das Verfügen über Informationen. Wissen ist kein Begriff, der sich nur auf das Individuum bezieht. Das ganze Wissen einer Gesellschaft, Kultur oder eines Zeitalters bezieht sich auf die im jeweiligen Kontext zur Verfügung stehenden Informationen. Die Gesamtheit der zur Verfügung stehenden Informationen bildet den Rahmen, innerhalb dessen Bildung maximal möglich ist.

„Bildung in dem (...) Sinn eines reflektierten Verhältnisses zu sich selbst, zu anderen und zur Welt, ist auf Wissen bezüglich dieser Verhältnisse angewiesen. In dieser Charakterisierung ist Bildung nicht identisch mit Wissen oder kann auf dessen umfangreichen und effektiven Erwerb reduziert werden. Deshalb trifft es nicht zu, denjenigen als Gebildeten zu bezeichnen, der sich am besten und am meisten Wissen angeeignet hat. Bildung unterscheidet sich vom Wissen darin, dass sie den ganzen Menschen, also seine Leiblichkeit, seine Wahrnehmung, seinen Geschmack und sein Gewissen betrifft. Vom Wissen ausgehend ermöglicht Bildung die gedankliche Auseinandersetzung mit diesem. Bildung ist die Reflexion auf Wissen, sie macht die gedankliche Auseinandersetzung mit den Aussagen über die Welt, über andere und über sich selbst erst möglich“ (DÖRPINGHAUS u.a., 2006, S.148).

Ausbildung

Ausbildung umfasst die Vermittlung von Fähigkeiten und Kenntnissen an einen Auszubildenden oder Studenten durch eine ausbildende Stelle. Im Unterschied zum umfassenderen Begriff der Bildung verfolgt die Ausbildung explizit praktische Absichten. Im Vordergrund steht nicht die persönliche Entfaltung, sondern die standardisierte Vermittlung von anwendbaren Fertigkeiten. Ausbildungsziele sind stets durch Zertifizierungen nachweisbare Qualifizierungen und Legitimationen für Zugangsberechtigungen zu Hochschulen bzw. für die Ausübung spezifischer (z.B. Autofahren, Tauchen), vor allem aber beruflicher Tätigkeiten (vgl. DÖRPINGHAUS u.a., 2006, S. 142). So verstanden wird Bildung in Bezug auf ihre wirtschaftliche Verwertbarkeit fokussiert und zu einer wesentlichen Steuerungs- und Kontrollinstanz für den Arbeitsmarkt.

Durch die aktuellen wissenschaftlichen und mittlerweile auch politischen Auseinandersetzungen mit dem Thema Bildung wurde die Problematik allzu einseitiger Betrachtungen des Bildungsbegriffs erkannt. Zunehmend setzten sich die Erkenntnis und die Akzeptanz eines weiter gefassten Bildungsverständnisses durch. Im folgenden sollen einige Auszüge aus aktuellen Veröffentlichungen diesen Paradigmenwechsel unterstreichen.

In der gemeinsamen Erklärung des Bundesjugendkuratoriums, der Sachver-ständigenkommission des Elften Kinder- und Jugendberichts und der Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe heißt es: „Bildung ist der umfassende Prozess der Entwicklung und Entfaltung derjenigen Fähigkeiten, die Menschen in die Lage versetzen, zu lernen, Leistungspotenziale zu entwickeln, zu handeln, Probleme zu lösen und Beziehungen zu gestalten. Junge Menschen in diesem Sinne zu bilden, ist nicht allein Aufgabe der Schule. Gelingende Lebensführung und soziale Integration bauen ebenso auf Bildungsprozesse in Familien, Kindertageseinrichtungen, Jugendarbeit und der beruflichen Bildung auf. Auch wenn der Institution Schule ein zentraler Stellenwert zukommt, reicht Bildung jedoch weit über Schule hinaus“ (Bundesjugendkuratorium, SachverstÄndigenkommission für den Elften Kinder- und Jugendbericht, Arbeitsgemeinschaft für Jugendhilfe, 2002, S.1).

Im Zwölften Kinder- und Jugendbericht heißt es: "Bildung ist mehr als das, was Institutionen bei jenen hervorbringen, die sie besuchen, ist mehr als ein messbares Ergebnis an abfragbaren Wissensbeständen. Bildung ist ein offener und unabschließbarer Prozess, der von den Menschen selbst gestaltet wird. Folglich ist Bildung nicht nur im Horizont von bildungsrelevanten Institutionen zu diskutieren, sondern auch im Horizont der alltäglichen Lebensführung, also von individualisierten Lebensentwürfen, Lebensverläufen und Lebenslagen in Verbindung mit sozial, geschlechtsspezifisch, kulturell, regional und ethnisch unterschiedlichen Voraussetzungen, Bedingungen, Erwartungen und Resultaten“ (BMFSFJ, 2005, S. 81).

Für die Konzeption des Deutschen Jugendinstituts ist ein weiter Begriff von Bildung leitend. „Bildung ist mehr als der Erwerb von Qualifikationen und Kompetenzen, die auf dem Arbeitsmarkt gebraucht werden. Bildung ist ein offener und unabschließbarer Prozess der Entwicklung der Persönlichkeit, bezogen auf das Ziel der eigenständigen Lebensführung in Partnerschaft und Familie, in Bezug auf soziale und politische Teilhabe, kulturell-ästhetische Praxis und in Bezug auf berufliche Ansprüche und Erfordernisse. In diesem Verständnis von Bildung geht es somit neben dem Erwerb von Kompetenzen auch um Selbstbestimmung, Handlungsfähigkeit, Kritikfähigkeit und Empathie. Für die Bildung von Kindern und Jugendlichen sind deshalb Eigentätigkeit, Übernahme von Verantwortung, Möglichkeiten der Teilhabe und Gestaltung und der Aneignung von Räumen wichtige Voraussetzungen“ (http://www.dji.de/cgi-bin/inklude.php?inklude=9_dasdji/ThemaMai/bildungsbericht.htm, 31.10.2007).

„In Anlehnung an Wilhelm von Humboldt kann man davon ausgehen, dass jedes Verständnis von Bildung, ungeachtet der Gewichtungen und Nuancierungen (...) die Beziehungen und Verhältnisse zur Sprache bringt, die - erstens - Menschen zu sich selbst, - zweitens - zu ihren Mitmenschen und - drittens - zum Gesamt der Welt eingehen bzw. eingegangen sind“ (DÖRPINGHAUS u.a., 2006, S. 9).

„Wo Bildung als Ergebnis und Prozess des Wechselverhältnisses von Mensch und Welt gesehen wird, entzieht sie sich einer Vereinnahmung durch materielle (nur auf die Welt setzende) und formale (nur auf den Sich-Bildenden zielende) Bildungstheorien“ (NOHL, 2006, S. 9).

1.2. Der Zusammenhang von Bildung und Menschenbild

Der Begriff Menschenbild bezieht sich auf zwei Kernaspekte im Bildungskontext, zum einen auf das individuelle Menschenbild, welches sich im Laufe personaler Entwicklung in jedem Menschen entwickelt, und zum anderen auf das kulturell vorherrschende Menschenbild der Gesellschaft, in der das Individuum lebt.

Das individuelle Menschenbild entwickelt sich in steter Wechselwirkung mit der Umwelt von der frühen Kindheit bis zum hohen Alter. Es erfährt dabei je nach kultureller und sozialer Rahmung eine unterschiedlich komplexe Ausdifferenzierung, welche handlungsleitend einen elementaren Einfluss auf die gesamte Persönlichkeitsentwicklung und letztlich auf die gesamte Lebensführung hat. „Das Menschenbild lässt sich als (...) Theorie vom Menschen auffassen, die notgedrungen jeder entwickeln muss, um sich in der sozialen Welt zu orientieren und gleichzeitig den eigenen Stellenwert innerhalb des sozialen Systems zu finden“ (Oerter, Montada, 2002, S. 221). Damit wird der Prozess der Entwicklung und Etablierung eines subjektiven Menschenbildes als individueller Bildungsprozess verstehbar. Die Kindheit und noch stärker die Jugendphase sind in diesem Ausdifferenzierungsprozess von zentraler Bedeutung, da das Individuum in diesen Altersphasen erstens wichtige physiologische und psychologische Entwicklungsprozesse durchläuft und zweitens sich am ehesten und am intensivsten in verschiedenen Bildungskontexten befindet. Dabei werden zwangsläufig entscheidende Weichen für die Gestaltung des gesamten Lebensweges gestellt. Hierbei sind die mit dem Menschenbild verinnerlichten Werte Entscheidungsgrundlagen für den angestrebten Lebensstil und damit verbunden dem (selbstgefühlten) individuellen Bildungsbedarf. Besonders prägend dabei ist, wie sich die persönliche Einstellung und Motivation zum Lernen und damit zur Bildung entwickelt. Über diese Einstellung zum Lernen manifestiert sich letztlich auch eine grundsätzliche Einstellung zum Leben.

So bedeutsam diese Altersphasen sind, so bedeutsam sind demzufolge ebenfalls die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, unter denen die elementaren Werteentscheidungen getroffen werden (können). So wird das individuelle Menschenbild zu einem subjektiven Spiegel der kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen des Einzelnen. Das Menschenbild, welches aus historischer Tradition kulturell vorherrschend ist, also jenes das innerhalb der Gesellschaft von der Mehrzahl der Mitglieder vertreten wird, ist dafür mit entscheidend, welches Bildungsideal in der Gesellschaft präsent ist, d.h. welche Bildungsinhalte und -ziele von Bedeutung sind und welche nicht. Bildung hat also auch immer eine politische Dimension. Daraus resultieren eine besondere Bedeutung und Verantwortung der an Bildungsprozessen beteiligten Personen und Institutionen, deren beispielsweise ideologische oder religiöse Überzeugungen und Ansichten immer einen die Bildungsinhalte und -prozesse beeinflussenden Charakter haben. Durch den unterschiedlich hohen Einfluss jedes Einzelnen auf seine Umwelt wirkt sein individuelles Menschenbild somit auch auf die Gesellschaft zurück.

1.3. Bildung im Kontext der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung

„Wenn wir uns die gesamte bisherige Menschheitsgeschichte als einen Tag vorstellen, dann wäre der Ackerbau vier Minuten vor Mitternacht erfunden worden; die Zivilisation wäre drei Minuten vor Mitternacht entstanden. Die Entwicklung moderner Gesellschaften hätte gar erst dreißig Sekunden vor Mitternacht eingesetzt! In den letzten dreißig Sekunden dieses Menschentages hat sich aber möglicherweise ebensoviel verändert wie seit der Stunde Null“ (GIDDENS, 1999, S. 560).

Gesellschaftliche Entwicklung vollzieht sich in Abhängigkeit von und Wechselwirkung mit unterschiedlichsten Einflussfaktoren wie politische, ökonomische und ökologische Verhältnisse, demographische Veränderungen oder technologische Fortschritte. Bereits 1998 warfen Albert Scherr und Werner Thole einen genauen Blick auf sich entwickelnde strukturelle Veränderungen in der Gesellschaft. Sie stellten die traditionelle Fixierung auf einen Beruf im System der Erwerbsarbeit in Frage und entwarfen ein Anforderungsprofil, welches die aktuellen Entwicklungen ziemlich genau nachzeichnen.

„An die Stelle der lohnabhängigen Berufstätigen sollen, so die optimistische Deutung dieser Entwicklung, flexible Individuen treten, zu deren zukünftigen Basisqualifikationen vernetztes Denken, Bereitschaft zum lebenslangen Lernen, Kritikfähigkeit, Sozial- und Kulturkompetenz, Kreativität und Teamfähigkeit ebenso gerechnet werden wie die Fähigkeit, gesellschaftliche Ansprüche und Unsicherheiten, ökologische und soziale Risiken biographisch zu verarbeiten“ (KIESEL u.a., 1998, S.9). Weiterhin stellten sie eine „sich verschärfende soziale Spaltung“ fest, „die dazu führt, dass die Möglichkeiten, Zugang zu einer existenzsichernden Erwerbsarbeit sowie qualifizierter schulischer und beruflicher Bildung zu finden, für eine wachsende Zahl von Individuen noch fraglicher und unsicherer wird“ (ebd.).

Kinder und Jugendliche von heute sind die Erwachsenen von morgen. Als Erben aller kulturellen Errungenschaften sowie auch aller Erblasten ist die jüngste Generation besonders nachhaltig von gesellschaftlichen Veränderungen betroffen. Die folgenden spezifischen Rahmenbedingungen kennzeichnen die aktuelle Situation der jungen Generation in Deutschland.

1.3.1. Das Bildungssystem

Das Bildungssystem befindet sich in einer Konsolidierungs- und Veränderungsphase, deren Richtung und Umfang noch unbestimmt sind. International vergleichende Bildungsstudien (z.B. PISA, TIMSS, IGLU, OECD-Bildungsberichte) haben mehrfach gezeigt, dass

- in Deutschland die Kluft zwischen guten und schlechten Schulleistungen besonders tief ist, d.h. dass das mehrgliedrige Schulsystem Leistungsunterschiede verstärkt und nicht nivelliert,
- das Kompetenzniveau so stark wie in keinem anderen Land von der sozialen Herkunft abhängt, d.h. soziale und regionale Disparitäten entscheiden stärker über den Wissenserwerb als die jeweils gewählte oder zugewiesene Schulform,
- Migrationshintergrund als Risikofaktor eingestuft werden muss,
- die „Bildungsbremse Herkunft“ bereits im Vorschulalter zu wirken beginnt (vgl. BOCK, OTTO in: HARRING u.a., 2007, S. 203).

Die festgestellten Mängel beziehen sich zum Teil direkt auf das dreigliedrige Bildungssystem, welches durch die frühzeitige Selektion elementare Folgen für den biographischen Verlauf der Schüler nach sich zieht (vgl. Oerter, Montada, 2002, S. 771). „Dabei scheinen herkunftsbedingte Disparitäten als unentrinnbares Kontinuum auf allen Ebenen des deutschen Bildungssystems in Erscheinung zu treten“ (ARENS in: HARRING u.a., 2006, S. 150). Schüler aus sozial schwächeren Familien werden - das belegen sämtliche aktuellen Schulleistungsvergleichsstudien - systematisch benachteiligt.

Somit wird durch das deutsche Bildungssystem die Kluft zwischen den verschiedenen sozialen Schichten verstärkt anstatt verringert. Diese mangelnde Chancengleichheit führt zu der Reproduktion von sozialer Ungleichheit (vgl. OTTO, RAUSCHENBACH, 2004, S. 13). „Soziale Ungleichheit liegt dann vor, wenn Menschen aufgrund ihrer Stellung in sozialen Beziehungsgefügen von den „wertvollen Gütern“ einer Gesellschaft regelmäßig mehr als andere erhalten“ (HRADIL, 2005, S. 30). Das Sprichwort „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“ besitzt somit einen bitteren Beigeschmack.

1.3.2. Die Wissensgesellschaft

Die sich aktuell entwickelnden gesellschaftlichen Verhältnisse werden allgemein als Entwicklung zu einer Wissensgesellschaft bezeichnet (vgl. BONß in: LINDNER u.a., 2003, S. 12). Ausgelöst und angetrieben wird diese Entwicklung durch den technischen Fortschritt und die damit wachsenden Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten. Diese haben komplexe gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen in Inhalt und Struktur zur Folge (vgl. ebd. ff).

„In Diskussionen über die ‘Informations-’ oder die ‘Wissensgesellschaft’ wird immer wieder betont, dass die ‘Halbwertzeit’ von als fest und sicher geglaubten Wissensbeständen mehr und mehr abnimmt; zugleich beschleunigt sich die Produktion neuer Wissensbestände“ (BMFSFJ, 2002, S. 156). „Wenn also vorgefertigtes Wissen abnimmt, nehmen nicht-standardisierte Handlungs-abläufe und die Notwendigkeit zum flexiblen Erwerb von Wissen und Fähigkeiten zu. (...) Neben dem Handlungswissen wird das Orientierungs-wissen zu einer zentralen Voraussetzung, die es ermöglicht, die ökonomischen, sozialen und ökologischen Strukturen und ihre Wandlungsprozesse zu verstehen und selbstständig zu bewerten“ (PAULI, 2006, S. 32). Das bedeutet, es entstehen für den Menschen mit zunehmendem Tempo stetig neue Aufgaben und Anforderungen (z.B. Medienkompetenz), die zu bewältigen zur Voraussetzung für den Umfang und die Qualität der gesellschaftlichen Teilhabe wird, ohne dabei alle traditionellen Anforderungen aufgeben zu können (vgl. BMBF, 2001, S. 2).

1.3.3. Globalisierung und die Internationalisierung

Der Prozess der Globalisierung und die Internationalisierung der Lebenswelten erzeugen Unsicherheiten und Desorientierung. Die Beziehungen der unterschiedlichen Generationen, besonders der Jüngeren zu den Älteren, verändern sich, da traditionelle Werte und Handlungskonzepte keine gesicherte Orientierung geben und damit keine brauchbaren Handlungsoptionen liefern können (vgl. BMFSFJ, 2005, S. 60 f).

Daraus entsteht für die junge Generation eine Situation, die von jedem höhere Flexibilität und zunehmendes Verständnis größerer Zusammenhänge fordert. Die wirtschaftlichen Folgen der Globalisierung, die Vergrößerung der Märkte und damit die Erhöhung des Konkurrenzdrucks führt für den Einzelnen zu einem erhöhten Qualifikationsdruck, um überhaupt Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu haben.

1.3.4. Demographische Veränderungen

Demographische Veränderungen in Bezug zu Altersstruktur und Multikulturalität erschweren die Verortung und Identifikation des Individuums in der Gesellschaft. Durch die Überalterung sieht sich die Gesellschaft vor neue Herausforderungen gestellt, die sozialen Sicherungssysteme im Sinne der Generationengerechtigkeit zukunftstauglich umzugestalten (vgl. BMFSFJ, 2005, S. 62 f).

1.3.5. Pluralisierung und Individualisierung

Durch die Pluralisierungs- und Individualisierungstendenzen nimmt die Anzahl individueller Entscheidungsmöglichkeiten ebenso wie die Anzahl an Entscheidungsnotwendigkeiten zu (vgl. HURRELMANN, 1994, S. 16 f). Hinter jeder Entscheidung steht die Verantwortung des einzelnen für sich selbst. Die Möglichkeiten der individuellen Lebensgestaltung sind stark abhängig von der Fähigkeit, unter der Vielzahl an Möglichkeiten angemessen zu wählen. Dies verlangt vom Einzelnen nicht nur in zunehmenden Maße individuelle Entscheidungskompetenz, sondern im Falle falscher Entscheidungen ebenfalls umfangreiche Problemlösekompetenzen.

„Angesichts der zunehmenden Komplexität der gesellschaftlichen Verhältnisse und der kulturellen und technischen Entwicklungen, angesichts des mit wachsender Beschleunigung vonstatten gehenden Wandels von Lebensbedingungen kann „Bildung“ nicht darauf beschränkt werden, den Nachwachsenden die Kenntnis von „Wissensbeständen, Interpretationen und Regeln einer gegenwärtig bestehenden kulturellen Lebensform“ zu vermitteln“ (BMFSFJ, 2002, S. 153 f). Die Stabilität und Veränderlichkeit von Bildungs-inhalten vermittelt zwischen der kulturellen Vergangenheit und den Zukunfts-anforderungen. Die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen stellen den Einzelnen vor eine Vielzahl neuer Anforderungen, die ein hohes Maß an Kreativität und Flexibilität, aber ebenso eine Vielzahl an Kompetenzen verlangen, um mit dem Tempo der Entwicklung schritthalten zu können (vgl. PAULI, 2006, S. 33). Damit wird das deutsche Bildungssystem vor die Aufgabe gestellt, die geeigneten Voraussetzungen zu schaffen, unter denen eine zeitgemäße und zukunftstaugliche Bildung für alle Bevölkerungsschichten möglich wird. Besondere Beachtung verlangen dabei die „modernen“ Kompetenzen (bspw. in Bezug auf Wissensmanagement oder neue Medien), für deren Förderung es bisher noch keine erprobten und etablierten konzeptionellen Einbindungen in das Bildungssystem gibt.

[...]

Fin de l'extrait de 94 pages

Résumé des informations

Titre
Bildung in der Freizeit?
Sous-titre
Standortbestimmung der Bildungsarbeit in Jugendfreizeiteinrichtungen
Université
Catholic University for Applied Sciences Berlin
Note
1,0
Auteur
Année
2007
Pages
94
N° de catalogue
V137408
ISBN (ebook)
9783640448913
ISBN (Livre)
9783640448883
Taille d'un fichier
912 KB
Langue
allemand
Mots clés
Bildung, Freizeit, Standortbestimmung, Bildungsarbeit, Jugendfreizeiteinrichtungen
Citation du texte
Thomas Gottschlich (Auteur), 2007, Bildung in der Freizeit? , Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/137408

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