Der Einfluss des Wahlsystems auf die Regierungsstabilität

Eine Analyse von 21 OECD Ländern


Bachelorarbeit, 2009

64 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretische Vorüberlegungen
2.1 Das Wahlsystem
2.1.1 Technische Unterscheidungsmerkmale von Wahlsystemen
2.1.2 Grundtypen von Wahlsystemen und ihre theoretischen Auswirkungen
2.1.3 Probleme bei der Typologisierung der Wahlsysteme
2.2 Messung von Regierungsstabilität
2.3 Kausale Beziehung zwischen Wahlsystem und Regierungsstabilität

3 Analyse
3.1 Kriterien für die Auswahl der Länder
3.2 Begründung für die Festlegung des Beobachtungszeitraumes
3.3 Begründung für die Operationalisierung der Variablen
3.3.1 Wahlsystem
3.3.2 Regierungsstabilität
3.4 Beschreibung der Datensammlung
3.5 Deskriptive Statistiken
3.6 Bivariate Statistiken

4 Zwischenfazit

5 Weiterführende Überlegungen: Zum Sinn von Wahlsystemänderungen
5.1 Fallbeispiele
5.1.1 Italien
5.1.2 Japan
5.1.3 Neuseeland
5.2 Gründe für den unterschiedlichen Erfolg der Reformen

6 Fazit

7 Literaturverzeichnis

8 Abbildungsverzeichnis

9 Tabellenverzeichnis

10 Online-Anhang

1 Einleitung

Das Gefüge der deutschen Parteienlandschaft hat sich insbesondere in den vergangenen 30 Jahren stark verändert. Mit dem Hinzutreten der Grünen zu Beginn der 80er Jahre (Agci 2007) und dem Erstarken der ehemaligen PDS, die in Kooperation mit der WASG eine im gesamten Bundesgebiet konkurrenzfähige Partei „Die Linke“ geschaffen hat (Simoleit/Taken 2007), ist es auf der politischen Bühne und somit auch im Bundestag um einiges bunter geworden.

Als Folge daraus verlieren bekannte Muster zunehmend ihre Gültigkeit. Geläufigen Koalitionsmodellen werden Neologismen wie Jamaika-Koalition oder Ampelkoalition zur Seite gestellt. Die SPD muss, wie in Leitartikeln prophezeit wird, bei der Bundestagswahl 2009 sogar um ihren Status als Volkspartei bangen (Geis 2009).

Die Reaktionen auf diese Veränderungen bleiben nicht aus. Den zukünftigen Regierungen wird Handlungsunfähigkeit und Instabilität vorausgesagt. Die passenden Mittel zur Bekämpfung dieser unerwünschten Entwicklungen sind jedoch auch schnell zur Hand. Bereits nach der Bundestagswahl 2005 forderte der damalige Regierungschef Sachsens, Georg Milbradt, eine Wahlrechtsänderung, um der Vielzahl an Parteien Herr zu werden (Braun 2008). Im vergangenen Jahr waren es der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Ernst Benda, sowie der Politikwissenschaftler Gerd Strohmeier, der sogar ein Konzept entworfen hatte (ebenda).

Im Fokus der angestrebten Wahlrechtsreform steht der Begriff der Mehrheitswahl. Mit ihrer Hilfe soll die Zahl der Parteien im Parlament reduziert werden. Dies habe dann klare Mehrheiten und somit handlungsfähige und stabile Regierungen zur Folge. Begründet wird diese Forderung mit der generellen Einschätzung, dass Verhältniswahlsysteme instabile Regierungen produzieren. Dabei ist das folgende Argument tragend: „PR (Verhältniswahlrecht, M.R.) produces coalition governments which are unstable by virtue of being made up of several parties, and therefore governments tend to change more often“ (Farrell 1997: 154).

Die deutsche Debatte ist allerdings im internationalen Vergleich keinesfalls neu. Sie wurde bereits in anderen Ländern geführt. Und nicht nur das, sie führte dort auch zu Konsequenzen.

So wurde nach dem Parteienskandal in Italien zu Beginn der 90er-Jahre ein neues Wahlsystem eingeführt, das insbesondere darauf abzielte, die Zahl der Parteien zu verringern und die Dauer der Regierungen zu verlängern (siehe hierzu ausführlich Kapitel 5.1.1). Allerdings schien das neue Wahlsystem, das anders als das vorherige reine Verhältniswahlrecht, stark am Mehrheitswahlrecht orientiert war, nicht die gewünschten Effekte zu zeitigen. Die Regierungsdauer stieg nur leicht an, die Zahl der Parteien vergrößerte sich sogar noch. Im Jahr 2005 sattelte man wieder auf ein Verhältniswahlrecht um (Köppl 2007: 105ff).

Das Beispiel Italien hat für sich genommen geringe Aussagekraft und ist daher wenig tauglich, um generelle Schlüsse zu ziehen. Dennoch legt es die Vermutung nahe, dass das Wahlrecht alleine nicht über das große Wirkpotenzial verfügt, das häufig mit ihm verbunden wird. Es stellt sich folglich die Frage, ob es gerechtfertigt erscheint, ein Mehrheitswahlrecht zu fordern, um die Handlungsfähigkeit und Stabilität der Regierung zu verbessern.

Die vorliegende Arbeit geht daher einer grundlegenden Frage nach: Hat das Wahlsystem einen Einfluss auf die Regierungsstabilität oder handelt es sich hierbei nur um eine populäre These? Die Regierungsstabilität ist ohne Frage ein wichtiger Faktor des politischen Systems. Wie Nohlen bereits feststellte, „sind nicht alle stabilen Regierungen gute Regierungen, aber es kann als höchst unwahrscheinlich gelten, daß unter den Bedingungen politischer Instabilität eine gute Regierung besteht“ (Nohlen 2000: 158). Es wird die Hypothese aufgestellt, dass eskeinensignifikanten Zusammenhang zwischen den Variablen Wahlsystem und Regierungsstabilität gibt. Überprüft wird die Hypothese anhand der Analyse von 21 OECD Ländern innerhalb des Zeitraums von 1960 bis 2000.

Die Arbeit ist folgendermaßen aufgebaut: Zunächst werden theoretische Vorüberlegungen angestellt. Dieses Kapitel dient insbesondere dazu, die beiden Variablen, Wahlsystem und Regierungsstabilität, zu erfassen und sich mit Problemen bei der empirischen Betrachtung auseinanderzusetzen.

Für das Wahlsystem, das die unabhängige Variable in dieser Arbeit darstellt, werden in einem ersten Schritt technische Unterscheidungsmerkmale und ihre theoretischen Auswirkungen aufgezeigt. Anschließend werden zwei Grundtypen von Wahlsystemen unterschieden, das Mehrheitswahlrecht und das Verhältniswahlrecht. Ausgehend von diesen beiden Grundtypen wird auf die Probleme bei der Typologisierung von Wahlsystemen eingegangen. Es wird diskutiert, nach welchen Gesichtspunkten die empirisch messbaren Systeme in ein für Vergleiche anwendbares Muster übertragen werden können. Diese theoretischen Vorüberlegungen sind für die Operationalisierung der Variable Wahlsystem von großer Bedeutung.

Auch die Regierungsstabilität, also die abhängige Variable der vorliegenden Arbeit, wird unter theoretischen Aspekten diskutiert. Dabei wird darauf eingegangen, wie sich Regierungsdauern messen lassen, also welche Ereignisse das Ende einer Regierung determinieren und welche Probleme bei der Messung dieser Ereignisse auftreten können. Ebenso wie bei der unabhängigen Variable stellt diese theoretische Diskussion die Grundlage für die spätere Operationalisierung der Variable Regierungsstabilität dar.

Der letzte Abschnitt des Theorieteils beschäftigt sich mit dem kausalen Zusammenhang, der zwischen den beiden Variablen vermutet wird und als Grundlage für die Forderung eines Wahlsystemwechsels gesehen werden kann. Die Kausalkette, die in Abbildung 2 dargestellt wird, geht davon aus, dass das Wahlsystem die Anzahl der Parteien determiniert, die wiederum elementar für die Zusammensetzung der Regierung und deren Stabilität ist.

Im Analyseteil der Arbeit wird unter Berücksichtigung der zuvor gewonnenen theoretischen Erkenntnisse eine empirisch fundierte Antwort auf die grundlegende Fragestellung dieser Arbeit gegeben. Nachdem die Kriterien für die Fallauswahl und den Beobachtungszeitraum dargestellt worden sind, wird gezeigt, wie die beiden Variablen operationalisiert wurden. Anschließend wird der für die empirische Analyse verwendete Datensatz beschrieben.

Die eigentliche Analyse wird sodann mit deskriptiven Statistiken eingeleitet, die einen ersten Überblick über den Datensatz geben sollen und eine schrittweise Annäherung an die Ausgangsfrage darstellen. Daran anschließend erfolgt die eigentliche Überprüfung der Hypothese durch die Auswertung von Kontingenztabellen. Dabei wird zunächst die im Theorieteil dargestellte Kausalkette nachvollzogen und in einem weiteren Schritt der direkte Zusammenhang von Wahlsystem und Regierungsstabilität überprüft.

Im Anschluss an die empirische Auswertung folgt ein Zwischenfazit, das die bisher gewonnenen Erkenntnisse zusammenfasst und dabei die bereits erwähnte Kausalkette aufgreift und erweitert.

Im letzten Abschnitt der Arbeit soll mittels Fallbeispielen ein weiterer für die Ausgangsfrage interessanter Aspekt beleuchtet werden. Er soll geklärt werden, ob Wahlsystemänderungen zu den gewünschten Verbesserungen führen. Dafür werden die Länder Italien, Japan und Neuseeland betrachtet. Sie sind alle Teil des verwendeten Datensatzes und haben in den 90er Jahren eine Reform des Wahlsystems durchgeführt, um auf politische Probleme zu reagieren. Eine vergleichende Analyse der drei Fälle soll die Ausgangslage, die erfolgten Reformen und die damit erzielten Ergebnisse betrachten. Im Anschluss daran findet eine Bewertung der Erfolgsaussichten von Wahlsystemänderungen statt.

Die Analyse der 21 OECD Länder kommt zu dem Ergebnis, dass kein signifikanter Einfluss des Wahlsystems auf die Regierungsstabilität festgestellt werden kann. Zwar können Auswirkungen auf die Zahl der Parteien und auch die Art der Regierung beobachtet werden, ein systematisches Durchschlagen auf die Stabilität ist jedoch nicht auszumachen. Die Grundannahme für die Forderung nach einem Mehrheitswahlrecht zur Schaffung stabilerer Regierungen kann durch die hier vorgenommene Analyse also nicht bestätigt werden. Dieses Ergebnis ist daher auch von Relevanz für die Bewertung von zukünftigen Vorschlägen zu Wahlrechtsreformen. Dies wird durch die Ergebnisse der Fallstudie noch einmal untermauert.

Die Betrachtung der Fallbeispiele legt nahe, dass Wahlsysteme nur eine unter vielen Determinanten politischer Strukturen sind. Sie sind eingebettet in ein von Land zu Land unterschiedliches politisches Setting, sodass Veränderungen am Wahlrecht mit geringer Wahrscheinlichkeit zu den gewünschten Ergebnissen führen. Die Erfolgsaussichten von Reformen sind allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit an die Art der jeweiligen Reform als auch an die Art der gewünschten Ergebnisse gekoppelt. Störende Einflussgrößen sind jedoch von Land zu Land unterschiedlich stark ausgeprägt.

2 Theoretische Vorüberlegungen

Dieses Kapitel beschäftigt sich auf theoretischer Ebene mit den Hauptvariablen dieser Arbeit: dem Wahlsystem und der Regierungsstabilität. Es soll einen Überblick über die Zusammensetzung der Variablen geben, in die wichtigsten themenbezogenen Begriffe einführen, aufzeigen, welche Besonderheiten bei den Variablen zu berücksichtigen sind und welche Probleme sich, insbesondere mit Blick auf die spätere empirische Untersuchung, ergeben. Im ersten Schritt wird auf die Variable Wahlsystem, im zweiten Schritt auf die Variable Regierungsstabilität eingegangen. Ein dritter Schritt stellt die angenommene kausale Beziehung zwischen den beiden Variablen dar, die zu der hier bestrittenen These führt, dass das Wahlsystem die Regierungsstabilität determiniert.

2.1 Das Wahlsystem

Der erste Abschnitt dieser Arbeit betrachtet das Wahlsystem als unabhängige Variable. Dass es sich beim Wahlsystem ohne Zweifel um eine nicht zu unterschätzende Einflussgröße für die Politik in Demokratien und somit auch für die Politikwissenschaft handelt, macht diese Aussage von Rae in exemplarischer Form deutlich: „Theseelectoral lawsare of special importance for every group and individual in the society, because they help to decide who writes other laws“ (Rae 1971: 3). Wahlsysteme sind also ein wichtiger Baustein in demokratischen politischen Systemen. Sie sind dafür verantwortlich, in welcher Form Macht vom Souverän, dem Volk, auf die Repräsentanten verteilt wird.

Die nachfolgenden Kapitel dienen der theoretischen Herausarbeitung von technischen Unterscheidungsmerkmalen sowie den normativen Auswirkungen von Grundtypen von Wahlsystemen. Darüber hinaus wird auf die Schwierigkeiten bei der Typologisierung der Systeme eingegangen.

2.1.1 Technische Unterscheidungsmerkmale von Wahlsystemen

Trotz der häufig hitzig geführten Debatten um Wahlsysteme und ihre Vor- und Nachteile (siehe Einleitung) sind es vorrangig kühle, technische Faktoren, anhand derer sich die Systeme unterscheiden.

Die mit Abstand wichtigste Determinante eines Wahlsystems ist derWahlkreis(Lijphart 1999: 150). In jedem Wahlkreis, der ein vorher festgelegtes Territorium umfasst, wird eine bestimmte Zahl von Mandaten für das Parlament vergeben. Die Zahl der zu vergebenden Mandate ist entscheidend für die Größe des Wahlkreises, nicht seine territoriale Ausdehnung (Nohlen 2000: 82). Können beispielsweise in einem Wahlkreis zehn Kandidaten einen Sitz im Parlament erhalten, spricht man von einem großen Mehrpersonenwahlkreis, gibt es nur zwei Mandate zu vergeben, handelt es sich um einen kleinen Mehrpersonenwahlkreis (Nohlen 2000: 83). Folglich wird in so genannten Einerwahlkreisen nur ein Mandat vergeben.

Die unterschiedlichen Größen haben eine logische Konsequenz für die Abbildung der Wählerstimmen. Kann, wie es in Einerwahlkreisen der Fall ist, am Ende nur ein Kandidat ins Parlament einziehen, haben alle übrigen Stimmen, die nicht auf den siegreichen Kandidaten entfallen sind, keine Bedeutung mehr. In größeren Wahlkreisen hingegen zählen auch die anderen Stimmen noch. Der Proporzeffekt steigt also mit zunehmender Größe des Wahlkreises.

Diesen Zusammenhang verdeutlicht auch die nachfolgende Grafik. Sie zeigt den Anteil der Stimmen, die eine Partei erfahrungsgemäß benötigt, um ein Mandat im Parlament zu erhalten, in Abhängigkeit zur Wahlkreisgröße. Die untere beziehungsweise obere Linie des schwarzen Bereichs stellt das Ergebnis unterschiedlicher Berechnungsmethoden dar.

Abbildung 1: Wahlkreisgröße und Prozenthürde

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Nohlen 2000: 84

Ein zweiter, wichtiger durch das Wahlsystem geprägter Aspekt ist die Art und Weise derStimmenzählung. Sie hat nicht nur Einfluss darauf, wie das Votum der Wähler auf die Mandate übertragen wird. Sie beeinflusst auch das Abstimmungsverhalten der Wähler selbst (Nohlen 2000: 101).

Maßgeblich hierfür ist das Instrument der Sperrklausel. Dabei handelt es sich um ein gesetzliches Instrument, das einen Mindestanteil von Stimmen vorschreibt, um ein Mandat erhalten zu können (Nohlen 2000: 102). Hiervon sind insbesondere kleinere Parteien betroffen, die tendenziell durch eine solche Klausel in zweifacher Form benachteiligt werden. Zum einen müssen sie eine bestimmte Hürde überspringen, um überhaupt ins Parlament einziehen zu können. Zum anderen wird auch der potenzielle Wähler einer solchen Partei genau überlegen, ob er nicht doch besser eine größere Partei wählen sollte, da die Gefahr besteht, dass seine Stimme, im Falle des Scheiterns seiner favorisierten Partei an der Sperrklausel, verfiele (Nohlen 2000: 101). Aus diesen Überlegungen wird deutlich, dass die Sperrklausel vorrangig ein Instrument ist, das bei Wahlsystemen mit größeren Wahlkreisen Anwendung findet.

Ein weiterer Aspekt in der Kategorie der Stimmenzählung ist die Entscheidungsregel. Grundlegend kann hier zwischen dem Majorz- und dem Proporzprinzip unterschieden werden (Nohlen 2000: 104).

Das Majorzverfahren erfordert eine Stimmenmehrheit, die entweder relativ oder absolut sein kann. Ist eine absolute Mehrheit gefordert, wird zumeist die Stichwahl als Entscheidungsinstrument eingesetzt. Die Wahl zur Französischen Nationalversammlung ist ein Beispiel für dieses Verfahren: Sollte ein Kandidat im ersten Wahlgang nicht die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen können, kommt es eine Woche später zu einem zweiten Wahlgang, bei dem nur die Kandidaten antreten dürfen, die im ersten Durchgang von mindestens 12,5 % der Wähler gewählt worden sind (Kempf 2009: 372). Neben der Stichwahl besteht allerdings auch die Möglichkeit desalternative vote. Bei dieser Methode kann der Wähler nicht nur eine Partei wählen, sondern Präferenzen angeben. Sollte kein Kandidat auf Anhieb über eine absolute Mehrheit verfügen, wird derjenige mit der geringsten Zahl an „Erstpräferenzen“ aus der Zählung entfernt. Die auf den Stimmzetteln des Ausgeschiedenen an zweiter Stelle genannten Kandidaten erhalten nun eine weitere Stimme. Dieses Verfahren wird so lange wiederholt, bis ein Kandidat die absolute Mehrheit auf sich vereinigen kann (Reynolds/Reilly 1997: 37f). Die Methode desalternative votefindet sich heute nur in Australien, Fidschi und Papua-Neuguinea (International IDEA 2005).

Kommt das Proporzverfahren zum Einsatz, werden die abgegebenen Stimmen anhand verschiedener Verrechnungsverfahren auf Mandate im Parlament übertragen. Je nach Art der Berechnung kann es zu unterschiedlich großen Disproportionalitäten kommen (Nohlen 2000: 104ff). Eine genaue Beschäftigung mit den mathematischen Regeln der unterschiedlichen Verrechnungsmethoden kann hier aus Platzgründen nicht erfolgen, ist jedoch auch nicht für die Beantwortung der Ausgangsfrage notwendig1.

Ein dritter technischer Faktor, der durch das Wahlsystem bestimmt wird, ist derStimmzettel.Hier gibt es eine Vielzahl an Kombinationsmöglichkeiten. Grundlegend kann unterschieden werden, ob der Wähler über einzelne Personen oder über Parteilisten abstimmt (Nohlen 2000: 93). Sofern eine Listenabstimmung stattfindet, kann unterschieden werden, wie viele Auswahlmöglichkeiten dem Wähler gegeben werden. Stehen starre Listen zur Wahl, kann er sich nur für eine der Parteien entscheiden, während freie Listen ihm beliebige Auswahl unter den einzelnen Kandidaten der verschiedenen

Parteien ermöglichen. Bei lose gebundenen Listen ist diese Freiheit jeweils auf eine Partei beschränkt (ebenda). Nach welchen Regeln der Wähler nun seine Stimmen verteilen kann, wird durch die Stimmgebungsverfahren vorgeschrieben, die wiederum eine große Variation ermöglichen2.

Es ist also festzuhalten, dass eine weite Bandbreite an technischen Variationsmöglichkeiten besteht, die sich zudem in vielfältiger Form kombinieren lassen. Diese Gestaltungsmöglichkeiten spiegeln sich auch in der Empirie wider und erschweren es, den Überblick zu behalten (siehe dazu Kapitel 2.1.3).

2.1.2 Grundtypen von Wahlsystemen und ihre theoretischen Auswirkungen

Wie sich bereits in den Ausführungen zu den technischen Unterscheidungsmerkmalen von Wahlsystemen abzeichnete, führen unterschiedliche Kombinationen der technischen Komponenten zu verschiedenen Effekten. Vor diesem Hintergrund lassen sich zwei Grundtypen von Wahlsystemen bestimmen. Diese sind dieMehrheitswahlund dieVerhältniswahl.

Dabei können wir nach Nohlen zwei Kriterien heranziehen, um die Systeme zu definieren. Zum einen ist es möglich, nach der Entscheidungsregel zu fragen (Nohlen 2000: 131). Findet die Stimmenzählung nach dem Majorzprinzip statt, haben wir es mit einer Mehrheitswahl zu tun. Wird hingegen der Proporz als Grundlage genommen, handelt es sich um eine Verhältniswahl. Zum anderen ist es auch möglich, nach dem Ziel der Repräsentation zu fragen (Nohlen 2000: 131f). Ist also eine möglichst genaue, proportionale Abbildung der gesellschaftlichen Verhältnisse gewünscht oder sind klare Mehrheiten gewollt?

Bezogen auf die technischen Elemente finden wir also bei einer Wahl in Einerwahlkreisen, die eine relative Mehrheit an Stimmen erfordert, theoretisch eine Mehrheitswahl vor. Eine Wahl nach dem Proporzverfahren in einem einzigen, großen, nationalen Wahlkreis könnte man dementsprechend theoretisch dem Typus der Verhältniswahl zuordnen.

Aus normativer Sicht sind die beiden Grundtypen mit verschiedenen Auswirkungen verbunden. Die folgende Tabelle stellt die wichtigsten dieser Effekte im Überblick dar:

Tabelle 1: Normative Auswirkungen der Wahlsystemgrundtypen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Nohlen 2000: 144f

Anhand dieser Auflistung wird deutlich, dass sich die Effekte der Wahlsystemgrundtypen antithetisch gegenüberstehen. Die reduktionistische Wirkung der Mehrheitswahl zeitigt andere Ergebnisse als die auf Abbildung gerichtete Verhältniswahl.

2.1.3 Probleme bei der Typologisierung der Wahlsysteme

Würden sich aus dieser stark normativen und vereinfachten Darstellung keine Probleme ergeben, könnte bereits an dieser Stelle das Fazit der vorliegenden Arbeit folgen. Mehrheitswahl wäre dann die sicherste Determinante für stabile Regierungen. Leider folgt die Realität nicht unseren Idealvorstellungen. Zwar lassen sich mit ihnen gut grundlegende Zusammenhänge darstellen (Tabelle 1 ist daher nicht obsolet), die Realität gestaltet sich jedoch komplizierter.

Wahlsysteme haben sich unabhängig voneinander auf evolutionäre Weise entwickelt und folgten dabei keiner systematischen Vorgabe (Nohlen 1984: 222). Systematiken3 und Typologien von Wahlsystemen sind Instrumente, um Ordnung in die Vielfalt zu bringen. Eine Einteilung in bloß zwei verschiedene Kategorien würde der empirische Fülle an verschiedenen Systemen nicht Rechnung tragen. Eine zu detaillierte Typologie hingegen würde jeden Versuch, Vergleiche anzustellen, untergraben.

So ist es wenig verwunderlich, dass sich zu der Vielfalt an Wahlsystemen auch eine Vielfalt an Ansätzen gesellt, die versuchen, Ordnung in das scheinbare Chaos zu bringen. Rae (1971) verwendete für seine Studie zu den politischen Konsequenzen von Wahlsystemen die bereits bekannten technischen Faktoren der Wahlkreisgröße und der Stimmenzählung und zusätzlich die Einflussmöglichkeiten des Wählers über den für komparative Studien. Siehe dazu Nohlen (2000: 167).

Stimmzettel: Beicategoricalaufgebauten Stimmzetteln hat der Wähler wenige Möglichkeiten zur Differenzierung seines Votums. Ist er hingegenordinalstrukturiert, kann der Wähler Präferenzen vergeben (Rae 1971: 16f). Lijphart verwendet in seiner Studie „Patterns of Democracy“ sogar sieben verschiedene Variablen: „Electoral systems may be described in terms of seven attributes: electoral formula, district magnitude, electoral threshold, the total membership of the body to be elected, the influence of presidential elections on legislative elections, malapportionment, and interparty electoral links“ (Lijphart 1999: 146f). Nohlen hat eine Typologie erstellt, die sich maßgeblich an der Ausgestaltung der Wahlkreise orientiert (Nohlen 2000: 171ff). International IDEA hat die Typologisierung hauptsächlich anhand des Proportionalitätsprinzips vorgenommen (Reynolds/Reilly 1997: 18).

All diese Autoren beziehungsweise Institutionen, die ohne Frage anerkannte Größen in der Politikwissenschaft sind, haben also verschiedene Formen von Typologien entworfen. Die Dichotomie von Mehrheits- und Verhältniswahl wurde dabei zum Teil noch durch eine Mischkategorie ergänzt (bei Lijphart und IDEA). Somit ist deutlich geworden, dass bereits bei der Betrachtung der unabhängigen VariableWahlsystemeiniges an Verwirrung auftreten kann und daher eine eindeutige Zuordnung von Wahlsystemen nicht ohne weiteres möglich ist. Verschiedene Autoren haben verschiedene Kriterien zur Einteilung der Systeme verwendet und diese zusätzlich nach unterschiedlichen Maßstäben gewichtet. Die Vielfalt der Wahlsystemtypologien steht daher in seiner Komplexität den Wahlsystemen selbst in nichts nach. Grund für die Verwendung verschiedener Typologien und die geringe Einigkeit über einen gemeinsamen Ansatz könnte darin bestehen, dass sich unterschiedliche Forschungsinteressen besser mit der einen oder der anderen Typologie verwirklichen lassen. Dies kann mit der Ausrichtung der Forschungsfrage zusammenhängen, die besonders deutlich unter Anwendung einer bestimmten Typologie beantwortet werden kann. Wie und warum die Wahlsysteme der untersuchten Länder unter Berücksichtigung der hier angesprochenen Problematik in dieser Arbeit typologisiert wurden, wird ausführlich im Analyseteil (Kapitel 3.3.1) beschrieben.

2.2 Messung von Regierungsstabilität

Die abhängige Variable der vorliegenden Arbeit ist die Regierungsstabilität. Auf den ersten Blick mag es sich hierbei um eine leicht messbare Einheit handeln, die sich durch simples Zählen ergibt. Wird doch in Deutschland häufig von der Regierung Kohl, der Regierung Schröder und der Regierung Merkel gesprochen. Drei Kanzler, drei Regierungen? - Leider nein.

Das hängt bereits mit der Tatsache zusammen, dass Länder ihre Regierungen nach verschiedenen Maßstäben zu benennen pflegen: „Some declare, for example, that the government has not changed when an election is held and the incumbent government effectively continues in office with the same Prime Minister, party composition, and cabinet ministers, whereas other countries declare in identical circumstances that a new government has been formed“ (Laver 2003: 25).

Ein erster Schritt, sich der Messung von Regierungsstabilität zu nähern, wäre zu überprüfen, wie groß die Selbstheilungskräfte der Regierung sind. Damit ist gemeint, ob das Regieren ohne chirurgische Eingriffe des Volkes möglich ist. Eine Operationalisierung dieser Überlegung würde bedeuten, die Dauer des Zeitraumes zwischen zwei Wahlen zu messen. Entspricht diese der gesetzlich festgelegten Legislaturperiode, wäre die Regierung als stabil einzustufen. Eine kürzere Dauer würde hingegen auf Neuwahlen und somit weniger stabile Regierungen hindeuten. Die Regierung war also auf einen vorzeitigen Eingriff des Volkes angewiesen, um ihre Arbeit wieder aufnehmen zu können.

Diese Methode wird zwar dem Kriterium der Einfachheit gerecht, führt aber auch zu ungenauen Ergebnissen. Können wir noch von einer Regierung sprechen, wenn sich das Kabinett, auch ohne Neuwahlen, mehrere Male komplett ausgetauscht hat? Weiterhin können auch konstitutionelle Vorgaben der Länder diesem Ansatz seine Validität rauben. In Norwegen ist beispielsweise keine vorzeitige Auflösung des Parlaments erlaubt, vorgezogene Neuwahlen sind somit ausgeschlossen (Groß/Rothholz 2009: 155). Diese Methode kann also bestenfalls Tendenzen aufzeigen. Genaue und vor allem vergleichbare Messungen sind allerdings schwierig.

[...]


1 Näheres zu den Berechnungsverfahren findet sich in systematischer Form bei Nohlen/Schultze (1978).

2 Dazu ausführlich Nohlen (2000: 98).

3 Systematiken von Wahlsystemen erheben den Anspruch auf Vollständigkeit, eignen sich jedoch weniger

Ende der Leseprobe aus 64 Seiten

Details

Titel
Der Einfluss des Wahlsystems auf die Regierungsstabilität
Untertitel
Eine Analyse von 21 OECD Ländern
Hochschule
Universität Hamburg  (Eine Analyse von 21 OECD Ländern)
Note
1,3
Autor
Jahr
2009
Seiten
64
Katalognummer
V137530
ISBN (eBook)
9783640467075
ISBN (Buch)
9783640466931
Dateigröße
1308 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Wahlsystem, Regierungsstabilität, Ländervergleich, Italien, Neu Seeland, Japan, Regierung, Dauer, Messung, Analyse
Arbeit zitieren
Marcel Ruge (Autor:in), 2009, Der Einfluss des Wahlsystems auf die Regierungsstabilität, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/137530

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