„Wir in Sarajevo haben uns immer über das Multireligiöse definiert“ erklärte
Grossmufti Mustafa Ceric, Oberhaupt der bosnisch-herzegowinischen Muslime, dem
deutschen Magazin “Spiegel“ in einem Interview im Juni 2001. Nur drei Wochen
davor hatte ich die Gelegenheit, Sarajevo und seine Religionsvertreter mit dem
christlich-muslimischen Arbeitskreis der Stadt Friedrichshafen zu besuchen. Hierbei
fiel mir auf, dass der Grossmufti recht hatte. Fast alle Einwohner der Stadt, die sich
immer noch von den Folgen des vierjährigen Bürgerkriegs erholte, betonten die
Vergangenheit, wenn sie über die politische Zukunft sprachen. Toleranz und
Multikulturalität – im Osmanischen Reich entstanden, unter den Habsburgern
weiterentwickelt, im Sowjetstaat bewahrt – soll jetzt für Bosnien-Herzegowina wieder
zum obersten Prinzip werden.
Diese bestimmte Sicht auf die eigene Vergangenheit, vor allem auf die Zeit der
Osmanischen Herrschaft machte mich neugierig. Wie wird diese geschichtliche
Phase wahrgenommen, wie wird sie politisch bewertet, welche Folgen hatte sie für
den Balkan als Vielvölkerstaat? Und gibt es politische Elemente, gesellschaftliche
Strukturen, die man für den Aufbau eines modernen Bosniens nach dem Krieg
nutzen kann? Um diesen Fragen in einer wissenschaftlichen Arbeit nachzugehen,
muss zuerst die religiöse und ethnische Situation in Bosnien-Herzegowina vor dem
Beginn der Osmanischen Herrschaft kurz skizziert werden. Danach soll die
Osmanische Herrschaft in ihrer Bedeutung auf die multikulturelle Vielfalt
charakterisiert werden, wirtschaftliche oder aussenpolitische Aspekte dieser Epoche
werden nicht behandelt. Ebenso muss ich aus Platzgründen darauf verzichten, die
Rolle der österreichisch-ungarischen Monarchie oder des kommunistischen
Jugoslawiens für die multikulturelle Gesellschaft Bosnien-Herzegowinas zu
untersuchen. Zuletzt folgt eine Analyse, ob und welche historischen Elemente der
Osmanenherrschaft in einem demokratischen Rechtsstaat einen Platz finden können.
Als wichtige Literatur diente mir der Sammelband “Der Balkan – Friedenszone oder
Pulverfass?“, der 1998 von Valeria Heuberger u. a. herausgegeben wurde. Auf dem
neuesten Forschungsstand befindet sich die Studie von Sanda Cudic
“Multikulturalität und Multikulturalismus in Bosnien-Herzegowina“ aus 2001. Im Werk
“Der Islam – europakonform“ von Smail Balic wurden vor allem die kontroversen
Meinungen in der Forschung zum Osmanischen Reich deutlich.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Bosnien-Herzegowina in vorosmanischer Zeit
- Die religiöse Situation im Osmanischen Reich
- Die Bewertung der Osmanischen Herrschaft in Bosnien-Herzegowina
- Positive Wertung: Das "Goldene Zeitalter"
- Kritische Wertung: "Konfessionelle Apartheid"
- Realpolitische Gründe statt ideologisch verankerter Toleranz
- Mentalitätsmutation als problematischste Auswirkung
- Das Osmanische Reich: Vorbild für heutige Multikulturalität?
- Modell eines multinationalen Imperiums
- Prinzip der religiösen Zugehörigkeit
- Multikulturalität als politisches Konzept
- Schlusswort
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit befasst sich mit der Bedeutung der Osmanischen Herrschaft auf dem Balkan, insbesondere in Bosnien-Herzegowina. Der Fokus liegt auf der religiösen und ethnischen Situation in Bosnien-Herzegowina vor der osmanischen Besetzung und der Analyse der Auswirkungen der osmanischen Herrschaft auf die multikulturelle Vielfalt des Landes. Es werden die positiven und negativen Aspekte der osmanischen Herrschaft beleuchtet, insbesondere die Entwicklung von Toleranz und Multikulturalität im Kontext des Osmanischen Reiches. Die Arbeit untersucht, ob die historischen Elemente der Osmanenherrschaft in einem modernen, demokratischen Rechtsstaat relevant sind und ob sie ein Vorbild für die heutige Multikulturalität darstellen können.
- Die religiöse und ethnische Situation in Bosnien-Herzegowina vor der Osmanischen Herrschaft
- Die Auswirkungen der Osmanischen Herrschaft auf die multikulturelle Vielfalt in Bosnien-Herzegowina
- Die Rolle der Toleranz und Multikulturalität im Osmanischen Reich
- Die Bewertung der Osmanischen Herrschaft aus heutiger Sicht
- Die Relevanz der Osmanischen Herrschaft für die Entwicklung eines modernen Bosniens
Zusammenfassung der Kapitel
Einleitung
Die Einleitung stellt die Problematik der Multikulturalität in Bosnien-Herzegowina nach dem Bürgerkrieg dar und verdeutlicht die Relevanz der Osmanischen Herrschaft für die Bewältigung der aktuellen Situation. Die Arbeit setzt sich zum Ziel, die Geschichte und die Bedeutung der osmanischen Herrschaft in Bosnien-Herzegowina im Kontext der multikulturellen Vielfalt zu untersuchen.
Bosnien-Herzegowina in vorosmanischer Zeit
Dieses Kapitel skizziert kurz die religiöse und ethnische Situation in Bosnien-Herzegowina vor der Osmanischen Herrschaft. Es beleuchtet die Entstehung der Bosnischen Kirche und ihren Untergang sowie die Etablierung des Katholizismus und der Orthodoxen Kirche. Außerdem werden die Anfänge des Islams im osteuropäischen Raum und die Bedeutung des Osmanischen Reiches für die Verbreitung des Islams in Bosnien-Herzegowina thematisiert.
Die religiöse Situation im Osmanischen Reich
Dieses Kapitel beleuchtet die einzigartige Bedeutung der Osmanischen Herrschaft für Südosteuropa, insbesondere die Konflikte zwischen der christlichen und der islamischen Religion und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft. Es werden die Millets als eine Form der Verwaltung im Osmanischen Reich vorgestellt, die verschiedene Religionsgemeinschaften unter den Schutz der muslimischen Oberherrschaft stellte.
Die Bewertung der Osmanischen Herrschaft in Bosnien-Herzegowina
Dieses Kapitel analysiert die Bewertung der Osmanischen Herrschaft in Bosnien-Herzegowina aus verschiedenen Perspektiven. Es werden sowohl positive Aspekte, wie das "Goldene Zeitalter" der kulturellen Blüte, als auch negative Aspekte, wie die "Konfessionelle Apartheid", betrachtet. Es wird die Frage diskutiert, ob die Toleranz im Osmanischen Reich ideologisch verankert war oder auf realpolitische Gründe zurückzuführen war. Schließlich wird die Auswirkung der Osmanischen Herrschaft auf die Mentalität der Menschen in Bosnien-Herzegowina beleuchtet.
Schlüsselwörter
Die wichtigsten Schlüsselwörter der Arbeit sind: Osmanische Herrschaft, Bosnien-Herzegowina, Multikulturalität, Toleranz, Religion, Islam, Christentum, Millets, Konfessionelle Apartheid, Mentalitätsmutation, Geschichte, Politik, Gesellschaft, Kultur, Nationalismus, Bürgerkrieg.
- Citar trabajo
- Ann-Katrin Gässlein (Autor), 2003, Vielvölkerstaat Bosnien Herzegowina - Zur Bedeutung der Osmanischen Herrschaft auf dem Balkan, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/13860