Zu Erving Goffmans Werk "Stigma". Der Umgang des Individuums mit seinem Stigma in der Interaktion mit 'Normalen'


Term Paper (Advanced seminar), 2003

22 Pages, Grade: 1


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Prolog

2. Biografie

3. Interaction order

4. Stigma und Identität

5. Charakteristika sozialer Situationen

6. Seinesgleichen und Weise
6.1. Sozialisationsprozess

7. Informationsmanagement
7.1. Tarnen und Täuschen

8. Fazit

9. Literaturverzeichnis

>>People have moral rights to be treated according to the definition of the situation they project<< (Schudson)

1. Prolog

Das Grundthema, das die meisten Arbeiten des amerikanischen Soziologen Erving Goffman durchzieht ist „jener Handlungsbereich, der durch Interaktionen von Angesicht zu Angesicht erzeugt wird“ (Hettlage 1991:29 nach Goffman).

Eine Variation dieser Thematik behandelt Goffman in seinem 1963 in Berkeley geschriebenen Werk Stigma. Notes on the Management of Spoiled Identity. Hierin befasst sich Goffman „mit der Frage >>gemischter Kontakte<< - mit den Momenten, wenn Stigmatisierte und Normale in der gleichen >>sozialen Situation<< sind, das heißt, in gegenseitiger, unmittelbarer physischer Gegenwart“ (Goffman 1967:22).

Stigmatisierte im Umgang mit sogenannten Normalen sind einer normativen Ordnung, Grundregeln und Verhaltensregulierungen unterworfen, die jede Abweichung von einem Idealtypus sanktionieren, sie „brauchen oft komplizierte Strategien, um das nicht zu verlieren, wovon Menschen als soziale Wesen leben: von Akzeptierung, Anerkennung und Sympathie“ (Tilmann Moser). Goffman interessiert hier vor allem der Interaktionsprozess, nicht primär seine Ergebnisse. Was Goffman anstrebt ist ein Erkenntnisziel, das über die Betrachtung einzelner stigmatisierter Gruppen hinausgeht. Neben einer Analyse des gesellschaftlichen Kontextes, also den Strukturen, in denen Stigmatisierung stattfindet, will er zeigen, dass Stigmatisierung ein allgemeiner Bestandteil von Gesellschaft ist.

Zielsetzung der vorliegenden Arbeit ist es den Umgang des Individuums mit seinem Stigma, sein „Stigma-Management“ (ebd.:68) in der Interaktion mit Normalen herauszuarbeiten. Schwerpunkt ist hierbei das spannungsgeladene Verhältnis zwischen individuellen Handlungsoptionen und deterministischer sozialer Struktur, also dem Handlungen beschränkenden Kontext. Nach einer Einführung in die spezielle Begriffswelt Goffmans stelle ich die Normwelt der Stigmatisierten vor und die verschiedenen Außenanforderungen an eine stigmatisierte Person, darüber hinaus sollen die dadurch hervorgerufenen Widersprüche in der Selbsterfahrung des Individuums aufgezeigt werden. An eine Darstellung der Einwirkungen auf das stigmatisierte Individuum und seine Identität schließt sich im zweiten Teil eine Darstellung der Handlungsoptionen des Individuums in sozialer Interaktion an.

Bis heute orientieren sich Arbeiten zum Thema "Umgang mit Stigmatisierungen" fast ausschließlich an dem theoretischen Bezugsrahmen den Goffman in seinem Werk Stigma entwickelt hat. Seine Konzeption verdankt ihren lang anhaltenden Einfluss in erster Linie einem kontextabhängigen Stigma-Begriff und dem Umstand, dass dieser in eine Theorie der Identität eingebettet ist.

2. Biografie

[Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten]Bei der Beschäftigung mit Erving Goffmans Biografie ist festzustellen, dass es wenige Lebensdaten und Hinweise über ihn gibt, obwohl er bis heute einer der meistgelesenen Autoren in der Soziologie ist (vgl. Mathies, Bretschneider). Interviews stand er sehr skeptisch gegenüber – so soll er den eigentlichen Themen des Interviews immer ausgewichen sein oder hat sich für den Interviewer zu interessieren begonnen, „kaum sonst zu finden war auch seine ein Leben lang durchgehaltene Einstellung nicht seine Person, sondern allein sein Werk sprechen zu lassen“ (Hettlage 1991:8). Hierfür spricht auch die Bezeichnung eines Freundes über ihn: „he was religious about sociological work“ (ebd.:13).

1922 wurde Goffman in Manville (Alberta,Kanada) als Sohn einer jüdischen Familie geboren. Als erstes wichtiges Datum ist sein Studium an der Universität von Toronto zu nennen1, das er 1945 mit dem Grad des Bachelor of Arts abschloss. Anschließend wechselte er an die Universität von Chicago, damals eine der Hochburgen der amerikanischen Soziologie (chicago school/ Begründung der empirischen Sozialforschung), hier wurde ihm 1949 der Titel Maser of Arts verliehen. Von 1949 bis 1951 hatte Goffman eine erste Anstellung am Department of Social Anthropology der University of Edinburgh, in deren Mittelpunkt eine Feldstudie über die Shetland-Inseln stand. 1953 erwirbt Goffman an der University of Chicago den Doktortitel (Ph.D.) mit seiner Dissertation: “Communication Conduct in an Island Community“, in der er Ergebnisse seiner Feldstudie auf den Shetland-Inseln verwendet.

Auch für seine weitere wissenschaftliche Arbeit blieben Feldstudien und das Interesse an psychologischen Fragestellungen charakteristisch. Beispielsweise führte Goffman 1954 bis 1957 als visiting scientist des NIMH2 in Bethesda/Maryland am St. Elizabeth Hospital Klinikstudien durch.

1958 wechselte er an die Universität Berkeley/Kalifornien und erhielt dort 1962 eine Stelle als “full professor“.

In dieser Zeit veröffentlichte er unter anderem drei Bücher: Asylums (1961), Encounter (1961) und Stigma (1963). Die inhaltliche Nähe dieser drei Werke ist nicht zu leugnen. Asyle thematisiert sogenannte totale Institutionen und die Interaktion der Individuen mit der bürokratischen Struktur. Encounter behandelt generell interindividuelle Interaktion, und Stigma thematisiert die Interaktion von Stigmatisierten und sogenannten Normalen.

Es ließe sich die gewagte These stellen, dass persönliche Interaktions-Probleme in diese Arbeit mit einflossen. Der Freitod seiner ersten Ehefrau und Psychologin Angelica Schuyler Choate 1964 könnte hierfür Beleg sein.

Vermutlich wegen der großen Popularität unter den Studenten, die seine intensive Forschungsarbeit gefährdete, nahm er 1969 die Benjamin Franklin Professur für Anthropologie und Soziologie an der Universität von Pennsylvania in Philadelphia an3. Dort verfasste er unter anderem 1974 Frame Analysis, das in der Literatur häufig als sein Hauptwerk bezeichnet wird. Nebenbei entwickelte er in den 70`er Jahren reges Interesse an Geschlechterverhältnissen und Gesprächsanalysen4.

1981 wurde er Präsident der American Sociological Association, konnte aber die traditionelle Rede (presidential address) nicht mehr halten. Am 19. November 1982 starb Erving Goffman 60-jährig an der Folge eines Krebsleidens in Philadelphia.

In der erst nach seinem Tod veröffentlichten Präsidentschaftsadresse bezeichnete Goffman rückblickend auf seine Forschungstätigkeit die Untersuchung der „interaction order“, also die Interaktion von zwei oder mehr Individuen in unmittelbarer physischer Anwesenheit, als sein Hauptanliegen. Diese Thematik wollte er als eigenständiges, soziologisches Forschungsgebiet etablieren:

„My concern over the years has been to promote acceptance of this face-to-face domain as an analysis viable one – a domain which might be titled, for want of any happy name, the interaction order." (Goffman in: Hettlage 1991: 27).

3. Interaction order

„The basic ingredients of life are processes of interaction and communication and these are organised according to certain rules“ (Ditton 1980:80). Goffmans Interesse bestand nicht allein darin Interaktion zu beschreiben, sondern er wollte darüber hinaus die Regelstrukturen der face-to-face Interaktion, die interaction order herausarbeiten, um so soziales Verhalten zu erklären.

Hierzu bedient sich Goffman häufig der Metapher des Theaters5 um seine handlungstheoretischen Konzepte zu verdeutlichen. Seine Akteure sind Darsteller, die gesellschaftlich vordefinierte Rollen übernehmen. Die Rollen ergeben sich, wie auch das daran orientierte Verhalten aus der Situation heraus, sind aber in der Gesellschaftsstruktur als institutionelle Rollenmuster vorhanden. Der einzelne muss die Situation definieren, um das zutreffende Rollenmuster zu identifizieren. Dazu benötigt er zunächst einmal Informationen über seine Mitspieler, die ihrerseits Informationen über ihn zu erlangen suchen. In der Regel erwartet man eine Kohärenz zwischen der Erscheinung und dem Verhalten eines Einzelnen, wie auch generell zwischen seiner persönlichen Fassade und dem Bühnenbild, doppelte Kontingenz spielt also eine besondere Bedeutung während der Interaktion: „Von einer Person wird gesagt, sie habe ein <<Gesicht>>, wenn ihre Verhaltensstrategie (<<line<<) den Interaktionspartnern ein konsistentes Bild vermittelt“ (Hettlage 1991:46/47).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Ziel des Individuums ist es das Gesicht zu wahren und eine bestimmte Fassade aufrecht zu erhalten. Diese hat eine ganz bestimmte Bewandtnis. Sie erleichtert das Leben in Gesellschaft indem sie in vielen Fällen, in denen der zwischenmenschliche Kontakt relativ oberflächlich verläuft, Stereotypen bereithält.

Da der Darsteller in einer Interaktion immer gewisse Aspekte seines Verhaltens betont, die dem Publikum als Interpretationshilfen dienen, ist die Folge davon nicht selten, dass solche Zeichen falsch gedeutet werden, beziehungsweise die falschen Zeichen gedeutet werden. Daher ist der Einzelne darum bemüht, missverständliche Ereignisse innerhalb einer Interaktion möglichst auszuschließen, damit seine Vorstellung ungestört bleibt. Das Publikum achtet strengstens auf Abweichungen des ihnen dargebotenen Schauspiels: „GOFFMAN konstatiert nicht einfach die Faktizität sozialer Ordnung, sondern zeigt gerade deren potentielle Flüssigkeit und permanente Zerbrechlichkeit.“ (Hettlage 1991: 39). „Personen zerren immer an den Grenzen, die ihnen durch das offizielle selbst, durch Rollen, gesetzt werden.“ (ebd.:44). Welche Mechanismen sorgen nun aber für die Stabilität sozialer Interaktion?

Um diese Frage zu beantworten bezieht sich Goffman auf Emile Durkheim und seinen Begriff des Individuums als geheiligtes Objekt: „Das Selbst als geheiligtes Objekt erfordere wechselseitig eine besondere Aufmerksamkeit“ (ebd. nach Goffman:45). Demnach seien die Menschen kleine Götter, deren „Austausch nimmt häufig die Form eines Rituals an“ (ebd.:126). Die Ritualisierung von Verhalten schafft einen gemeinsamen Bezugsrahmen und erfordert wechselseitiges Engagement und Achtung. Goffman unterscheidet hier Ratifizierungs-, Aufrechterhaltungs- (z.B. Geburtstagsfeiern) und Zugängigkeits- rituale (Grußpraktiken, Abschiedsformen). Wird gegen situationelle Ritualerfordernisse verstoßen, ist ein sich anschließender korrektiver Austausch (Erklärungen, Entschuldigungen, Ersuchen) ebenfalls ritualisiert: “For Goffman all interaction is a moral enterprise involving the attribution of human character” (Ditton 1980:85).

Zeigt sich das Phänomen einer besonderen Diskrepanz zwischen erwarteter und tatsächlicher Eigenschaft des Gegenübers aufgrund eines offensichtlichen Stigmas ist die üblich-konventionelle, eben ritualisierte Handlungsweise als Regelungsmechanismus für Interaktionen gewissermaßen überfordert, und die Situation ist geprägt von Unsicherheit.

[...]


1: 1939-1943 Studium der Chemie an der University of Manitoba in Winnipeg. 1943-1944 Arbeit beim National Film Board in Ottawa. (vgl.: http://www.kfunigraz.ac.at/sozwww/agsoe/lexikon/klassiker/goffman/20bio.htm)

2: Laboratory of Socio-Environmental Studies des National Institute of Mental Health

3: Hinzu kommen mehrere Gastprofessuren in Harvard, der Brandeis Universität und den britischen Universitäten von Manchester und Edinburgh. Auszeichnungen Goffman`s: u. a. 1961 für „The Presentation of Self in Everyday Life" den MacIver-Preis, für „Gender Advertisement" den George Orwell-Preis, für Leistungen auf dem Gebiet der Kommunikationsforschung 1978 den Preis in medias res und 1979 den Mead-Cooley-Preis in Sozialpsychologie.

4: 1976 Gender Advertisements. In: Studies in the Anthropology of Visual Communication 3; 1977 The arrangement between the sexes. In: Theory and Society 4.

5: Die Begriffswelt des Theaters wendet Goffman speziell in seinem ersten Buch von 1956 The Presentation of Self in Everyday Life (dt. Wir alle spielen Theater 1969) an, sie findet jedoch in den meisten seiner folgenden Werke Verwendung. Die spezielle (Theater-)Terminologie ist in diesem einführenden Punkt kursiv gedruckt.

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Details

Title
Zu Erving Goffmans Werk "Stigma". Der Umgang des Individuums mit seinem Stigma in der Interaktion mit 'Normalen'
College
University of Constance  (FB Geschichte und Soziologie)
Course
Klassiker der Soziologie Erving Goffman
Grade
1
Author
Year
2003
Pages
22
Catalog Number
V13866
ISBN (eBook)
9783638194020
ISBN (Book)
9783638643153
File size
495 KB
Language
German
Notes
Schwerpunkt der Arbeit ist das Werk Erving Goffmans Stigma. Behandelt wird insbesondere die soziale Interaktion zwischen Stigmatisierten und Normalen, sowie die Auswirkung auf die Identität der Akteure.
Keywords
Erving, Goffman, Stigma, Klassiker, Soziologie, Erving, Goffman
Quote paper
Malko Ebers (Author), 2003, Zu Erving Goffmans Werk "Stigma". Der Umgang des Individuums mit seinem Stigma in der Interaktion mit 'Normalen', Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/13866

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