Die Verschiedenheit der Köpfe ist das große Hindernis aller Schulbildung. Darauf nicht zu achten ist der Grundfehler aller Schulgesetze, die den Despotismus der Schulmänner begünstigen und alle nach einer Schnur zu hobeln veranlassen.“
Johann Friedrich Herbart , 1807
Obwohl diese These nicht ausdrücklich in Bezug auf Lerngruppen mit Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf formuliert wurde, hat sie auch dort gleichwohl universelle Gültigkeit und bis heute nichts an Aktualität verloren.
Der Umgang mit heterogenen Lerngruppen ist eine der grundlegenden Herausforderungen, denen man im Lehrerberuf gegenübergestellt ist, unabhängig davon an welcher Schulform man als Pädagoge eingesetzt ist. An Schulen mit dem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ stellt sich dieses Problem jedoch in besonderer Weise, da sich die individuellen Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler einer Lerngruppe meist in extremem Ausmaß unterscheiden und neben kognitiven Einschränkungen häufig motorische und emotional-soziale Störungen zu berücksichtigen sind. Diese Ausgangslage erfordert vom Pädagogen besondere didaktische Maßnahmen, um jedem Schüler einen Lernfortschritt zu ermöglichen. Im Allgemeinen wird der Kanon der Handlungsmöglichkeiten, mit denen man dieser Ausgangslage zu begegnen versucht, unter dem Überbegriff Differenzierung zusammengefasst.
In der vorliegenden Arbeit wird sich schwerpunktmäßig mit der Frage auseinandergesetzt, wie man, vom fachwissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen, mit heterogenen Lerngruppen umgehen kann bzw. sollte, und welche allgemein pädagogischen und spezifisch sonderpädagogischen Grundsätze bei sogenannten geistig behinderten Schülerinnen und Schülern berücksichtigt werden müssen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Problemstellung
1.2 Zielstellung
1.3 Terminologische Hinweise
2 Differenzierungsmaßnahmen im fachwissenschaftlichen Diskurs der (Sonder)pädagogik
2.1 Begriffsklärung: Was versteht man unter Differenzierung und Individualisierung?
2.2 Formen und Dimensionen von Differenzierung
2.2.1 Äußere und Innere Differenzierung
2.2.2 Differenzierung nach Strukturelementen von Unterricht
2.3 Differenzierung als spezifisch sonderpädagogische Maßnahme
2.4 Diagnostik als Grundlage für Differenzierungsentschei- dungen
3 Differenzierung bei Schülerinnen und Schülern mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf „Geistige Entwicklung“
3.1 Formen Äußerer Differenzierung an Schulen mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“
3.2 Binnendifferenzierung im Unterricht bei Schülerinnen und Schülern mit dem Förderbedarf „Geistige Entwicklung“
4 Zum Verhältnis von Differenzierung und schulischer Integration
5 Voraussetzungen für Individualisierung und Kooperation in der Lerngruppe
5.1 Allgemeine Klassensituation
5.2 Individuelle Schülerbeschreibungen
6 Darstellung, Analyse und Bewertung der Unterrichtsarbeit
6.1 Erste Unterrichtsituation: Ritualisierte Unterrichts- sequenz zum Tagesablauf und der Uhrzeit
6.1.1 Bedingungen
6.1.2 Entscheidungen
6.1.3 Analyse und Bewertung
6.2 Zweite Unterrichtssituation: Wir backen Brot im Back- haus
6.2.1 Bedingungen
6.2.2 Entscheidungen
6.2.3 Analyse und Bewertung
6.3 Erfahrungen mit der Wochenplan- und Freiarbeit
7 Gesamtreflexion und Ausblick
Literatur
1 Einleitung
„Die Verschiedenheit der Köpfe ist das große Hindernis aller Schulbildung. Darauf nicht zu achten ist der Grundfehler aller Schulgesetze, die den Despotismus der Schulmänner begünstigen und alle nach einer Schnur zu hobeln veranlassen.“
Johann Friedrich Herbart[1], 1807
Obwohl diese These nicht ausdrücklich in Bezug auf Lerngruppen mit Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf formuliert wurde, hat sie auch dort gleichwohl universelle Gültigkeit und bis heute nichts an Aktualität verloren.
Der Umgang mit heterogenen Lerngruppen ist eine der grundlegenden Herausforderungen, denen man im Lehrerberuf gegenübergestellt ist, unabhängig davon an welcher Schulform man als Pädagoge eingesetzt ist. An Schulen mit dem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ stellt sich dieses Problem jedoch in besonderer Weise, da sich die individuellen Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler einer Lerngruppe meist in extremem Ausmaß unterscheiden[2] und neben kognitiven Einschränkungen häufig motorische und emotional-soziale Störungen zu berücksichtigen sind. Diese Ausgangslage erfordert vom Pädagogen besondere didaktische Maßnahmen, um jedem Schüler einen Lernfortschritt zu ermöglichen. Im Allgemeinen wird der Kanon der Handlungsmöglichkeiten, mit denen man dieser Ausgangslage zu begegnen versucht, unter dem Überbegriff Differenzierung zusammengefasst.
In der vorliegenden Arbeit wird sich schwerpunktmäßig mit der Frage auseinandergesetzt, wie man, vom fachwissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen, mit heterogenen Lerngruppen umgehen kann bzw. sollte, und welche allgemein pädagogischen und spezifisch sonderpädagogischen Grundsätze bei sogenannten geistig behinderten Schülerinnen und Schülern berücksichtigt werden müssen.
Darüber hinaus wird anhand von ausgewählten Unterrichtssituationen dargestellt, wie Differenzierung bei Schülerinnen und Schülern mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“ im konkreten Einzelfall aussehen kann und welche Erfolge mit unterschiedlichen Möglichkeiten der Differenzierung erzielt wurden.
Selbstverständlich kann allein schon durch den eng begrenzten Rahmen dieser Arbeit das komplexe didaktische Phänomen der Differenzierung und die Umsetzung in der Schule nicht in seiner ganzen Fülle dargestellt und bearbeitet werden. Das gilt für die theoretischen ebenso wie für die unterrichtspraktischen Elemente dieser Arbeit. Folglich war eine Eingrenzung und Fokussierung auf spezifische Aspekte notwendig. Die gewählte Schwerpunktsetzung wird im Folgenden kurz dargestellt und erläutert.
1.1 Problemstellung
Bei der Unterrichtsarbeit mit Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf wird in der Regel schnell offenbar, dass selbst grundlegende Ziele der Schule, wie sie im Berliner Schulgesetz definiert sind, und in besonderem Maße die Ziele der Schule mit dem Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“, nur verwirklicht werden können, wenn den Schülern individuelle Lernangebote gemacht und auf ihre Lernausgangslage abgestimmte Lernwege aufgezeigt werden. Inzwischen hat diese Erkenntnis auch Berücksichtigung in den Rechtsvorschriften für die Berliner Schule gefunden[3] und ist somit verbindliche Arbeitsgrundlage für die im Bereich der Sonderpädagogik tätigen Lehrkräfte.
Gleichzeitig richtet sich an alle Pädagogen mit zunehmender Vehemenz der Anspruch, die sozialen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler, insbesondere die Kooperations- und Gruppenfähigkeit zu schulen. Insofern ist es ratsam, wenn nicht gar unabdingbar, als Lehrer themengleich zu unterrichten, um den Schülern die gleichzeitige und gemeinsame Beschäftigung mit demselben Lerngegenstand zu ermöglichen.
Lehrer wie Schüler befinden sich also in einem Spannungsfeld, denen der (scheinbare?) Interessenskonflikt zwischen Individualisierung und Kooperation zugrunde liegt. Dieses Dilemma und Ansätze zu dessen Überwindung sollen als besonderer Schwerpunkt in dieser Arbeit behandelt werden. Dabei lautet die zentrale Fragestellung, ob und wie individuelle Lernangebote und der gesamte Bereich des sozialen Lernens im Unterricht gleichberechtigt berücksichtigt werden können oder ob diese Ziele sich gegenseitig ausschließen oder behindern. In die Reflexion darüber wurden folgende Fragen mit einbezogen:
- Nutzt didaktisches Wissen über den Einsatz von Differenzierungsmaßnahmen bei der Planung und Umsetzung von Unterricht? Werden Differenzierung und Unterricht dadurch besser?
- Gibt es differenzierten Unterricht, der den individuellen Lernvoraussetzungen der Schüler gerecht wird und gleichzeitig soziales Lernen fördert? Wie sollte dieser aussehen?
Des weiteren soll auch ein ähnlich gelagertes und damit verbundenes Problem angeschnitten werden: Die von breiten Schichten der Gesellschaft vertretene Forderung und der zumindest in Berlin inzwischen auch gesetzlich gesicherte Anspruch auf Integration respektive gemeinsamen Unterricht von Schülern mit und ohne Behinderung, dem bestimmte Maßnahmen der Differenzierung entgegenwirken. Diesem Spannungsfeld wird sich in Kap. 4 gewidmet und es ist als Teil dieses Themenkomplexes auch Gegenstand der abschließenden Reflexion.
1.2 Zielstellung
Erklärtes Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, durch eine theoriebasierte Auseinandersetzung mit dem breiten Spektrum differenzierender Maßnahmen zu überprüfen, ob und wie diese im Unterricht mit Schülerrinnen und Schülern mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf „Geistige Entwicklung“ zielführend eingesetzt werden können. Dies soll sowohl theoretisch begründet als auch durch ausgewählte unterrichts-praktische Beispiele problematisiert werden. Insgesamt setzt sich diese Arbeit also zum Ziel, die in der Problemstellung (Kap. 1.2) formulierten Leitfragen zu bearbeiten und maßgebliche Überlegungen dazu darzustellen.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass nicht der Anspruch erhoben werden kann, diese Fragen abschließend zu beantworten. Die in dieser Arbeit dargestellten Erkenntnisse und Ergebnisse haben nicht zwangsläufig allgemeingültigen Charakter und sollten damit nicht als uneingeschränkt auf andere Lerngruppen mit diesem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt übertragbar angesehen werden. Dies wäre aufgrund der Unterschiedlichkeit der Schüler- und Lehrerpersönlichkeiten nicht gerechtfertigt. Insofern beziehen sich die in Kap. 6 und 7 beschriebenen Schlussfolgerungen primär auf die Unterrichtsarbeit mit der in Kap. 5 beschriebene Lerngruppe.
1.3 Terminologische Hinweise
Es sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass in dieser Arbeit die Be-griffe Binnendifferenzierung und Innere Differenzierung sowie Außendifferenzierung und Äußere Differenzierung synonym verwendet werden. Auch in der verwendeten Sekundärliteratur werden verschiedene Bezeichnungen für die in dieser Arbeit beschriebenen Prozesse verwendet und teilweise wörtlich wiedergegeben.
Auf die Darstellung einer zusammenfassenden Definition des Phänomens „Geistige Behinderung“ wird an dieser Stelle ebenso verzichtet wie auf eine allgemeingültige Charakterisierung des betroffenen Personenkreises. Diese erweist sich aufgrund der enormen Spannweite der Ausprägungsformen sogenannter geistiger Behinderung auch als schwierig, selbst eine allgemein akzeptierte Definition ist bekanntlich schwer aufzufinden. Darüber hinaus ist dies zur Bearbeitung der Fragestellung auch gar nicht zwingend erforderlich. Stattdessen bezieht sich der Begriff „Schüler bzw. Schülerin mit dem Förderbedarf Geistige Entwicklung“ in dieser Arbeit immer auf das im Einzelfall betroffene Kind mit seinen individuellen Eigenschaften und Bedürfnissen, wie es in Kap. 5 beschrieben wird. Festlegende oder negativ stigmatisierende Bezeichnungen wie z. B. „geistig behinderter Schüler“ werden nur dann verwendet, wenn es sich um Übernahmen aus der Sekundärliteratur handelt.
Zum Zwecke der besseren Lesbarkeit wurde in der vorliegenden Arbeit meist auf die Unterscheidung der geschlechtsspezifischen Bezeichnungen verzichtet und nur die maskuline Formulierung benutzt, wenn geschlechtergemischte Gruppen gemeint sind. Wann immer in dieser Arbeit nur die männliche Formulierung verwendet wird (z. B. der Schüler), sind selbstverständlich beide Geschlechtergruppen gemeint.
2 Differenzierungsmaßnahmen im fachwissenschaftlichen Diskurs der (Sonder)pädagogik
2.1 Begriffsklärung: Was versteht man unter Differenzierung und Individualisierung?
In der Fülle der zur Verfügung stehenden didaktischen Literatur wird der Begriff Differenzierung mit sehr unterschiedlichen Worten, aber doch in recht einheitlicher Weise definiert. Stellvertretend für alle anderen Definitionsversuche sei hier in Anlehnung an POPIOL[4] der relativ umfassenden Definitionsansatz von SCHITTKO wiedergegeben:
„Differenzierung meint die Bemühungen, (1) angesichts der unterschiedlichen Lernvoraussetzungen der Schüler und unterschiedlicher gesellschaftlicher Anforderungen (2) durch eine Gruppierung nach bestimmten Kriterien (3) durch didaktische Maßnahmen den Unterricht so zu gestalten, daß (4) die für das Lernen gesetzten Ziele möglichst weitgehend erreicht werden können.“[5]
Während BÖNSCH unter dem Stichwort Differenzierung auch schon schulorganisatorische Rahmenbedingungen und Prozesse behandelt[6], wie beispielsweise die als interschulische Differenzierung bezeichnete Selektion der Schülerinnen und Schüler in leistungsbezogene Schultypen[7] wird Differenzierung in dieser Arbeit schwerpunktmäßig auf Ge-staltungsweisen und Organisationsformen von Unterricht und Lernangeboten hin betrachtet. Bei differenziertem Unterricht handelt es sich in diesem Sinne um ein Lernarrangement, das an den individuellen Lernmöglichkeiten der Schülerinnen und Schüler ansetzt. Er wird im allgemeinen als Grundvoraussetzung oder Schlüssel für das Lernen in heterogenen Lerngruppen betrachtet und führt im Extremfall zu einer völligen Individualisierung des Lernweges[8]. Dies gilt wegen der „enormen Unterschiedlichkeiten der individuellen Lernfähigkeiten“ insbesondere für Schülerinnen und Schüler mit dem Förderbedarf „Geistige Entwicklung“, wie SPECK nachdrücklich betont: „Es darf keine Stunde, keine Lerneinheit ablaufen, ohne dass sich die Lehrerin auch an jedes einzelne Kind seiner Klasse wendet.“[9]
Angesichts der Problemstellung dieser Arbeit scheint es sinnvoll, den Begriff „Individualisierung“ von „Differenzierung“ terminologisch abzugrenzen. Individualisierter Unterricht setzt einen an den individuellen Erfahrungen und dem Vorwissen des Lernenden anknüpfenden Lernprozess voraus, wobei die Vorgehensweise und das Arbeitstempo vom einzelnen Schüler in der Regel selbst gesteuert und verantwortet werden.[10] Der Lehrer begleitet den Lernprozess und greift nur dort lenkend und helfend ein, wo der Lernende dies ausdrücklich wünscht. Folglich ist die Sozialform, in der diese Form des Unterrichts stattfindet, überwiegend die Einzelarbeit und Individualisierung die extremste Ausprägungsform der Differenzierung. Unter dem Begriff der Differenzierung werden noch eine Reihe von weiteren Maßnahmen zusammengefasst, die im Folgenden vorgestellt werden sollen.
2.2 Formen und Dimensionen von Differenzierung
In der Literatur werden grundsätzlich drei Formen von Differenzierung unterschieden:[11]
- Institutionelle/ resp. Interschulische Differenzierung (auf der Ebene des Schulsystems)
- Äußere Differenzierung (innerhalb einer Schule)
- Innere Differenzierung (innerhalb einer Klasse/ Lerngruppe)
Trotz der großen Bedeutung, die der Interschulischen Differenzierung als politisch gelenkter Form von Differenzierung gerade in Bezug auf die Frage nach dem Zusammenwirken von Integration und Differenzierung in der bestehenden Schulsystemgliederung zukommt, soll diese globale Differenzierungsform erst an anderer Stelle (Kap. 4) genauer behandelt werden. Zunächst werden die intraschulischen Differenzierungsformen und ihre Variationsmöglichkeiten dargestellt.
2.2.1 Äußere und Innere Differenzierung
Obwohl gerade die Möglichkeiten der Inneren Differenzierung für diese Arbeit von besonderem Interesse sind, da sie in der alleinigen Verantwortung des Lehrers stehen, wird sich hier zunächst den Maßnahmen der Außendifferenzierung gewidmet:
Äußere Differenzierung (Außendifferenzierung) steckt dem Lehrer das Handlungsfeld und Bedingungsgefüge ab, in dessen Rahmen er sich gestalterisch bewegen kann und ist deshalb von grundlegender Bedeutung für die didaktischen Entscheidungen, die getroffen werden können. Äußere Differenzierung bedeutet im Gegensatz zur Binnendifferenzierung die Förderung einzelner Lernender in meist leistungshomogenen Teilgruppen, die zusätzlich zur normalen Lerngruppe gebildet werden. Dies kann beispielsweise im Rahmen spezieller Förderkurse geschehen, in denen Schüler mit einem vergleichbaren Förderbedarf außerhalb des normalen Klassenverbands lernen[12]. Die hierbei gebildeten Verbände sind in der Regel von großer zeitlicher Dauer und institutionalisierter Festigkeit.[13]
Es wird zwischen Modellen der Leistungsdifferenzierung und der Interessendifferenzierung unterschieden. Bei den im Bereich der Leistungsdifferenzierung praktizierten Formen, wie z. B. Streaming (fachübergreifende Leistungsdifferenzierung) und Setting bzw. FEGA-Modell (fachspezifische Leistungsdifferenzierung) werden die Schüler prognostisch nach Niveaustufen in unterschiedlich leistungsstarke Gruppen aufgeteilt, die in der Regel kaum durchlässig sind und auf Einheitlichkeit basieren[14]. Eine Ausnahme stellt die sogenannte Flexible Differenzierung dar, bei der in ständig wechselnden Teilgruppen zusammengearbeitet wird. Diese Modelle sollen an dieser Stelle erwähnt aber nicht vertieft werden, da sie im unterrichtspraktischen Teil dieser Arbeit keine Anwendung finden. Für weitere Informationen verweise ich auf die umfangreichen Informationen in der Literatur[15].
Hinter den Maßnahmen zur leistungsorientierten Äußeren Differenzierung steht in der Regel das Bestreben, möglichst homogene Lerngruppen zu bilden. Dies wiederum liegt in der Annahme begründet, dass Lernen in leistungshomogenen Gruppen besser gelinge. Da das jedoch wissenschaftlich nicht eindeutig belegt werden kann[16] findet die Außendifferenzierung in der Literatur wenig Zuspruch: „Homogenität ist ein verarmtes Biotop!“[17] Stattdessen wird dazu aufgerufen, Heterogenität als Reichtum, Anregung und Herausforderung zu verstehen und von den individuellen positiven Leistungsmöglichkeiten jedes Schülers auszugehen.[18]
Als gute Alternative zur Leistungsdifferenzierung seien hier die Möglichkeiten der Interessendifferenzierung genannt (z. B. Arbeitsgemeinschaften), bei denen sich die Schüler den Lerngruppen nach individuellen Vorlieben selbst zuordnen können und Homogenität dadurch eher vermieden werden kann.
Innere Differenzierung (Binnendifferenzierung) bezeichnet eine im Gegensatz zur Äußeren Differenzierung individuelle Förderung einzelner Lernender innerhalb einer gemeinsam unterrichteten Lerngruppe. SCHITTKO bezeichnet diese Formen der Differenzierung als diejenigen, die „in der Verfügungsgewalt des einzelnen Lehrers stehen und die von ihm im Rahmen seines Unterrichts […] praktiziert werden können“[19]. Auch die Wahl der Sozialformen kann ein Instrument der Inneren Differenzierung sein[20]. Gerade die unter dem Leitbegriff „Offener Unterricht“ zusammengefassten Sozialformen und Unterrichtsmethoden werden häufig zum Zwecke der Binnendifferenzierung eingesetzt[21]. Zwar eignen sich nicht alle der damit bezeichneten Konzepte uneingeschränkt für den Unterricht mit kognitiv schwerwiegend beeinträchtigten Schülern (vgl. dazu Kap. 3.2), aber beispielsweise Projektarbeiten oder ein vielfältiges Themenangebot bei der Freiarbeit können auch bei diesen Lerngruppen für differenzierte Unterrichtsarrangements eingesetzt werden. Eine weitere Möglichkeit der Inneren Differenzierung stellt der Wochenplanunterricht dar, der vor allem in den unteren Jahrgangsstufen in der Regelschule weite Verbreitung gefunden hat.
Bei der Binnendifferenzierung kommen alle planerischen und metho-dischen Maßnahmen der Lehrer zum Tragen, die die individuellen Unterschiede der Schüler einer Lerngruppe dahingehend berücksichtigen sollen, dass möglichst alle einen ihnen gemäßen Weg zur Erreichung der Lernziele finden. Binnendifferenzierende Maßnahmen können sich dabei sowohl auf die Zugänge zum Lerninhalt (wie beispielsweise beim Werkstattunterricht), auf die Art oder die Quantität der Lernaufgaben oder auf die Medien beziehen. Bedeutsam für den Lehrenden ist dabei, über alle möglichen Dimensionen der Unterschiedlichkeit informiert zu sein, um eine effektive Berücksichtigung zu ermöglichen.[22]
Nach Vorstellung von JANK und MEYER sollte Innere Differenzierung immer methodisch-didaktisch begründet sein und dazu zeitlich befristet stattfinden[23]. Damit soll wohl ausgeschlossen werden, dass Binnendifferenzierung zum Selbstzweck wird. Diese Befürchtung ist jedoch unbegründet, denn auch bei noch so homogenen Lerngruppen sind immer individuelle Unterschiede vorhanden, die didaktisch berücksichtigt werden können und sollten. Dies ist gleichermaßen die Crux der Binnendifferenzierung, wie im Folgenden deutlich werden sollte:
Das Dimensionen- und Kriterienraster zur Inneren Differenzierung von KLAFKI und STÖCKER verdeutlicht das Höchstmaß an Komplexität, das Binnendifferenzierung im Unterricht annehmen kann. In drei unterschiedlichen Dimensionen (Unterrichtsphasen, Differenzierungsaspekte und Aneignungs- bzw. Handlungsebenen) werden jeweils mehrere Parameter festgelegt, die wiederum je zueinander und zu dem einzelnen Schüler in Beziehung stehen. Es ist daher unmöglich, alle Ausprägungsformen von jeder Dimension des Unterricht auf Planungsebene zu berücksichtigen. Dazu müssten für jeden einzelnen Schüler allein 72 mögliche Konstellationen berücksichtigt werden[24].
Dieses Raster kann somit als ein gelungenes Beispiel für das „Missverhältnis von überzogener Theorie und sich selbst überlassener, überforderter Praxis“ gesehen werden, für maßlose Ansprüche an die didaktischen Fähigkeiten des Lehrers aufgrund einer ins Unendliche reichenden Komplexität der Theorie[25], die von BLEIDICK gerade im Zusammenhang mit dem Phänomen Differenzierung kritisiert werden. Dennoch kann dieses Raster für die Planungstätigkeit des Lehrers auch von Nutzen sein, nämlich dann, wenn es ihm gelingt, es auf die für seine konkrete Unterrichtsarbeit relevanten Parameter zu reduzieren. KLAFKI und STÖCKER skizzieren dazu auch einige fiktive Unterrichtsbeispiele[26], die den praktischen Nutzen ihrer theoretischen Vorarbeit verdeutlichen sollen.
Sie verweisen auch ausdrücklich darauf, dass Innere und Äußere Differenzierung sich keineswegs ausschließen, da auch innerhalb jeder Form Äußerer Differenzierung Innere Differenzierung praktiziert werden könne[27]. Dennoch sei in der pädagogisch-politischen Forderung nach Binnendifferenzierung in der Regel der weitgehende Verzicht auf Außendifferenzierung impliziert, was in der Forderung FEUSERs deutlich wird, Äußere Differenzierung zugunsten der Inneren Differenzierung zu „überwinden“[28].
2.2.2 Differenzierung nach Strukturelementen von Unterricht
Die Möglichkeiten Innerer Differenzierung werden hierbei gezielt auf die vier Entscheidungsfelder von Unterricht und Unterrichtsplanung des sogenannten „Berliner Modells“ aus der „Lerntheoretischen Didaktik“ von HEIMANN, OTTO und SCHULZ bezogen[29]. Während die Bedingungsfelder unter anderem Maßnahmen der Außendifferenzierung beinhalten und deshalb hier unberücksichtigt bleiben, sind es genau die vier Strukturelemente von Unterricht - Inhalt, Ziel, Methode, und Medium - die im Gestaltungsbereich des Lehrers liegen und deshalb Möglichkeiten für Differenzierungsansätze beinhalten.
Differenzierung auf der Inhaltsebene
Das Spektrum an Möglichkeiten der inhaltlichen Differenzierung reicht von der einfachen Reduzierung das Stoffumfangs für leistungsschwächere Schüler bis hin zu themendifferentem Unterricht innerhalb einer oder in verschiedenen Lerngruppen.
[...]
[1] In: Schemata zur Vorlesungen über Pädagogik in Göttingen, 1807-1809
[2] vgl. PITSCH 2002, S. 172
[3] vgl. dazu z. B. § 2 der SonderpädagogikVO in SENATSVERWALTUNG 2005, S. 3
[4] POPIOL 2001, S.1
[5] SCHITTKO 1984, S. 23
[6] BÖNSCH 2004, S. 42f
[7] vgl. dazu Kap. 2.2
[8] BLEIDICK 2001, S. 17
[9] SPECK 2005, S. 255
[10] PARADIES, LINSER 2001, S. 51
[11] vgl. dazu POPIOL 2001, S. 1
[12] http://de.wikipedia.org/wiki/Äußere_Differenzierung , 21.08.08, 14:21 Uhr
[13] JANK,MEYER 2008, S. 78
[14] vgl. dazu POPIOL 2001, S. 2
[15] z. B. PARADIES, LINSER 2001, S. 10, BÖNSCH 2004, S. 26-28
[16] KLAFKI, STÖCKER 1996, S. 178f
[17] BÖNSCH 2004, S. 18
[18] ebd. S. 18
[19] SCHITTKO, 1984, S.19
[20] JANK, MEYER 2008, S. 78
[21] vgl. PITSCH 2005, S. 248ff
[22] http://de.wikipedia.org/wiki/Binnendifferenzierung , 21.08.08, 16:07 Uhr
[23] JANK, MEYER 2008, S. 78
[24] vgl. dazu KLAFKI, STÖCKER 1996, S. 196
[25] BLEIDICK 2001, S. 18
[26] KLAFKI, STÖCKER 1996, S. 196 ff
[27] ebd., S. 174f
[28] FEUSER, zit. in STRASSMEIER 1997, S. 98
[29] vgl. PETERSSEN 1994, S. 82 ff
- Arbeit zitieren
- Sebastian Baltes (Autor:in), 2009, Differenzierung bei Schülerinnen und Schülern mit dem sonderpädagogischen Förderbedarf „geistige Entwicklung“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/138894
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