Jugendgewalt, Migration und Moderne


Tesis (Bachelor), 2008

78 Páginas, Calificación: 1,1


Extracto


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis:

1. Einleitung

2. Jugend und Migration
2.1 Jugend heute
2.2 Jugend im Kontext der Individualisierung
2.3 Jugend im Kontext von Migration
2.4 Über die Auswirkungen der Individualisierung auf Jugendliche

3. Migration und Moderne: Eine gewaltauslösende Konstellation?
3.1 Zum Begriff der Gewalt
3.2 Aktuelle Situation der Gewalt Jugendlicher mit Migrationshintergrund
3.2.1 Gewaltkriminalität Jugendlicher im Hellfeld
3.2.2 Gewaltkriminalität Jugendlicher im Dunkelfeld
3.3 Erklärungsansätze zur Gewaltentstehung
3.4 Der „Bielefelder Desintegrationsansatz“
3.4.1 Theoriekonzept der 1990er Jahre
3.4.2 Aktuelles Theoriekonzept
3.4.3 Der Desintegrationsansatz in Bezug auf Migration
3.5 Kritik

4. Fazit

Literatur:

Internetquellen:

Anhang

Anhangsverzeichnis:

Abbildungsverzeichnis:

Abb. 1: Bevölkerung im Alter von unter 25 Jahren 2005 nach Migrationshintergrund und Migrationstypen (in %)

Abb. 2: Tatverdächtige der Altersgruppen bei Straftaten insgesamt

Abb. 3: Geschlechts- und Altersstruktur

Abb. 4: Nichtdeutsche Tatverdächtige nach dem Aufenthaltsgrund in Deutschland

Abb. 5: Gewaltkriminalität im Dunkelfeld und polizeilich registrierte Gewaltkrimi- nalität, USA 1973 -2004

Abb. 6: Integrationsdimensionen, Integrationsziele und Beurteilungskriterien für erfolg- reiche soziale Integration.

Abb. 7: Kontakt zur Verwandtschaft/Mittelwertvergleich zwischen deutschen und aus- ländischen Jugendlichen

Abb. 8: Familiäre Unterstützung/Mittelwertvergleich zwischen deutschen und auslän- dischen Jugendlichen

Abb. 9: Gewaltaffine Einstellungen und Gewalteinstellungen/Mittelwertvergleich zwi- schen deutschen und ausländischen Jugendlichen

1. Einleitung

Mehmet

Die Biografie Mehmets steht stellvertretend für die vieler Migrantenjugendlicher: Mehmet, 17, besucht zurzeit, nachdem er nach der 9. Klasse keinen Ausbil- dungsplatz bekommen hat, das Berufsvorbereitungsjahr an einer Berufsschule. Er wurde in einer kleinen Stadt in Niedersachsen geboren. Seine Eltern stammen aus der Türkei und leben seit über 20 Jahren in dieser Stadt. Mehmet ist das vorletzte Kind. Seine Mutter arbeitet auf Teilzeitbasis als Putzfrau, sein Vater hat nach Arbeitslosigkeit ein geregeltes Einkommen durch Hilfstätigkeiten. Mehmets Kindheit zeigt kein rosiges Bild. Mutter und Schwestern wurden vom Vater häu- fig geschlagen und auch er hatte schon einige Schläge abbekommen. Tagsüber verbringt Mehmet seine Zeit mit Fernsehen und Computer spielen - Action. Abends und am Wochenende trifft er sich oft mit seiner Clique, die aus anderen türkischstämmigen Jugendlichen besteht. Wichtig sei der Zusammenhalt, wenn einer angegriffen oder beleidigt wird. Und doch ist es nun er, der verloren hat.

Er ist wegen einer gefährlichen Körperverletzung angeklagt. Schon mit 15 hatte er an einer Gruppenschlägerei teilgenommen und mit 16, gemeinsam mit zwei anderen türkischstämmigen Freunden, wurde er bereits wegen eines Raubdelikts zu einer Woche Jugendarrest verurteilt. (vgl. Heitmeyer/Schröttle 2006, 238f.)

Geschichten über Jugendliche wie Mehmet sind es, die in Deutschland das Klischee von ausländischen, gewaltbereiten Jugendlichen prägen: Sie gehen nicht zur Schule oder haben keine Arbeit. Sie hängen in der Stadt rum, fangen unbegründet Streit an, sind gewalttätig, haben eine geringe Frustrationstoleranz. Doch trifft dieses Klischee zu? Sind Jugendliche mit Migrationshintergrund gewaltbereiter? Was sind die Ursachen für Jugendgewalt?

Im Rahmen dieser Arbeit soll die Frage beantwortet werden, ob Jugendliche mit Migra- tionshintergrund als Individualisierungsverlierer bezeichnet werden können. Dies wird am Beispiel der „Gewalt“ verdeutlicht. Dazu wird im ersten Kapitel (2. „Jugend und Migration“) auf die Lebensphase Jugend in verschiedenen Kontexten eingegangen. Zu- nächst wird in Abschnitt 2.1 darauf eingegangen, was „Jugend“ heute für eine Bedeu- tung hat. Dabei kann nicht davon ausgegangen werden, dass dies ein eindeutiger, fest- stehender Begriff ist, da es auch innerhalb der Fachwissenschaft verschiedene Meinun- gen darüber gibt, was unter dem aktuellen Jugendbegriff zu verstehen ist. Jugendliche stehen heutzutage verschiedenen Anforderungen gegenüber. Besondere Aufgaben erge- ben sich für Jugendliche vor dem Hintergrund gesamtgesellschaftlicher Veränderungen. Daher wird in Abschnitt 2.2 auf diese gesellschaftlichen Veränderungen und den sich damit ergebenden Anforderungen an Jugendliche eingegangen. Dabei wird, angelehnt an Ulrich Becks Ausführungen zur „Risikogesellschaft“ (1986), dargestellt, welche Fak- toren das Leben Jugendlicher im Modernisierungsprozess prägen. In Abschnitt 2.3 wird schließlich auf Jugendliche mit Migrationshintergrund eingegangen. Hierbei geht zunächst darum zu bestimmen, was man unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund versteht. Dabei repräsentieren diese Jugendlichen keine homogene Gruppe, da sie sich hinsichtlich vieler Merkmale unterscheiden. Weiterhin wird es darum gehen aufzuzei- gen, dass es sich bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund keinesfalls um eine mar- ginale Gruppe handelt. Der Abschnitt 2.4 bildet den letzten Teil des ersten Kapitels. In diesem Teil werden abschließend die Auswirkungen der Individualisierung auf Jugend- liche analysiert und auf Jugendliche mit Migrationshintergrund übertragen. In diesem Zusammenhang wird Bezug zu der Frage genommen, wer im Prozess der Modernisie- rung überhaupt als Gewinner und als Verlierer zu bezeichnen ist. Individualisierung kann dabei zu verschiedenen Folgen für Jugendliche (mit Migrationshintergrund) füh- ren. Eine mögliche Folge der Individualisierung kann die Flucht in gewaltbereite Grup- pen sein.

Das zweite Kapitel der Arbeit (3. „Migration und Moderne: Eine gewaltauslösende Konstellation?“) bezieht sich daher auf das spezifische Phänomen „Gewalt“. Die Pers- pektive der Jugendlichen mit Migrationshintergrund wird beibehalten, um die for- schungsleitende Frage weiter verfolgen zu können. So werden in Abschnitt 3.1 zunächst grundlegende Annahmen zum Gewaltbegriff vorgestellt. Auf dieser Grundlage wird es in Abschnitt 3.2 um das aktuelle Gewaltvorkommen Jugendlicher gehen. Dazu werden Daten aus der Polizeilichen Kriminalstatistik sowie aus Dunkelfeldstudien analysiert und bewertet, da es hinsichtlich der Aussagekraft dieser statistischen Werte einige Ein- schränkungen gibt. Der nächste Abschnitt 3.3 beschäftigt sich mit der Frage nach den Ursachen von Jugendgewalt. Dabei wird nach einem kurzen Überblick über verschiede- ne Erklärungsansätze der „Bielefelder Desintegrationsansatz“ vorgestellt. Dieser Ansatz ist insofern wichtig zur Beantwortung der Forschungsfrage, da Jugendgewalt auf der Makroebene als eine der Folgen der Modernisierung gesehen werden kann. Anschlie- ßend wird der Bezug zu Jugendlichen mit Migrationshintergrund hergestellt. Im letzten Abschnitt 3.5 werden schließlich die Ergebnisse der Studie von Wilhelm Heitmeyer „Gewalt“ und die damit in Verbindung stehenden Aussagen des Desintegrationsansatzes hinterfragt und kritisiert.

Im Fazit dieser Arbeit (4) werden dann abschließend mögliche Positionen zur Beantwortung der Forschungsfrage behandelt.

2. Jugend und Migration

Bevor auf jugendliche Gewaltdelinquenz in Bezug auf Migration eingegangen wird, soll zunächst Jugend definiert werden. Dies erweist sich als schwierige Aufgabe, da „die Jugend“ innerhalb der modernen Gesellschaft „als Lebensphase und […] als Teil der Bevölkerung an Überschaubarkeit, Einheitlichkeit und Kontingenz“ (Mansel/Klocke 1996) verloren hat und damit „so komplex [ist,] wie die Gesellschaft selbst“ Schä- fers/Scherr 2005, S. 5). Der Begriff „Jugend“ ist „historisch gesehen - noch relativ jung“ (Sander/Vollbrecht 2000, S. 7). Es gibt verschiedene alltägliche, sowie wissen- schaftliche Sichtweisen über „die Jugend“ (vgl. Schäfers 2001, S.5). Im Alltag über „Jugend“ oder die „Lebensphase Jugend“ zu diskutieren, scheint begriffsmäßig keine Hinterfragung zu benötigen. Dabei ist Jugend erst seit der zweiten Hälfte des 18. Jahr- hunderts als individuelle Lern- und Entwicklungsphase „entdeckt“ worden. Jean- Jacques Rousseau bestimmte Jugend als eine Lebensphase, „in der Erziehung schwieri- ger als in der Kindheit, aber zugleich in besonderer Weise erforderlich ist“ (Schä- fers/Scherr 2005, S. 19). Über „die Jugend“ zu sprechen, bedeutet also auch immer über einen Begriff zu sprechen, der gesellschaftlich bedingt und geschichtlich relativ ist (vgl. Sander/Vollbrecht 2000, S.7).

Nicht nur die begriffliche Bestimmung, sondern auch viele Eigenschaften dieser „Le- bensphase“, haben sich über die Zeit bedeutend verändert. Dieser Wandel, welcher in- sbesondere durch die Industrialisierung vorangetrieben wurde, erschwert die präzise Definition von Jugend, oder macht diese gar unmöglich. Was ist dann aber „Jugend“ heute? Wann beginnt diese „Lebensphase“ und wann endet sie? Ab wann wird eine Per- son als Kind und ab wann als Erwachsener gesehen? Welche Einflussfaktoren bestim- men die Zeitspanne dieser Lebensphase? Diese Fragen sollen im folgenden Kapitel be- antwortet werden. Dabei ist zu beachten, dass mit dieser Thematik ein breiter Themen- bereich umrissen wird. Dennoch kann innerhalb dieser Arbeit kein vollständiges Bild von „der Jugend“ gezeichnet werden. Nicht alles, was „die Jugend“ umfasst wird in dieser Arbeit Beachtung finden. Durch die thematische Festlegung muss sinnvoll selek- tiert werden. Weiterhin soll dieser Arbeit aber ein Bild von Jugendlichen in modernen Gesellschaften zugrunde liegen, welches durch „entstrukturierte, erweiterte Jugendpha- sen und insgesamt durch Individualisierung und Differenzierung im Prozess des Auf- wachsens charakterisiert werden kann.“ (Gille et al. 2006, S. 9).

2.1 Jugend heute

„Jugend“ wird innerhalb der sozialwissenschaftlichen Diskussion auf je unterschiedli- che Weise definiert und interpretiert. Die Psychologie bezieht sich in ihren Ansätzen hauptsächlich auf emotionale sowie kognitive Aspekte der Entwicklung, die innerhalb der Pubertät von Bedeutung sind. Pädagogik und Erziehungswissenschaften fokussieren vor allem alterstypische Voraussetzungen und Folgen von Lernen, Erziehung und Bil- dung. Innerhalb der Soziologie wird die Jugendphase häufig als ein schrittweiser Positi- ons- sowie Statusübergang begriffen, wobei das Hineinwachsen in die Position des Er- wachsenen durch kulturelle und religiöse Initiationen wie Schul- und Berufsabschluss, Familiengründung u.a. begleitet wird. (vgl. Schäfers/Scherr 2005, S. 17ff) Daran ist zu erkennen, dass Jugend innerhalb der Fachwissenschaften „einer der schillernsten Be- griffe“ (Hornstein/Thole 2005, S. 443) ist und damit vielfältige Interpretationsmöglich- keiten zulässt. Sich mit Jugend zu befassen, bedeutet anzuerkennen, dass es „die Ju- gend“1 nicht gibt und dass angesichts verschiedener lebenslagenspezifischer, ökonomi- scher, sozialer, kultureller, ethnischer usw. Besonderheiten von „Jugenden“ im Plural, statt von „der Jugend“ im Singular ausgegangen werden muss (vgl. Schäfers/Scherr 2005, S.22; Hornstein/Thole 2005, S. 443).

“Jugend ist eine gesellschaftlich institutionalisierte, intern differenzierte Lebensphase, deren Verlauf, Ausdehnung und Ausprägungen wesentlich durch soziale Bedingungen und Einflüsse (sozioökonomische Lebensbedingungen, Strukturen des Bildungssystems, rechtliche Vorgaben, Normen und Erwartungen) bestimmt sind. Jugend ist keine homogene Sozialgruppe, sondern umfasst unterschiedlichen Jugenden.” (Schäfers/Scherr 2005 S. 23)

Ergänzend kann im Folgenden von einer sozialen Gruppe ausgegangen werden, wenn dabei stringent berücksichtigt wird, dass Jugend eine „gesellschaftliche, historisch ge- wachsene und sich permanent wandelnde [Hervorh. d. Verf.] Formation ist“ (Horn- stein/Thole 2005, S. 443). Zusammenfassend wird in den folgenden Ausführungen von Jugend in zweifacher Hinsicht die Rede sein: Von Jugend als eine spezifische Lebens- laufphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, sowie als eine eigenständige sozia- le Gruppe von Menschen unter der Berücksichtigung der darin enthaltenden Unter- schiedlichkeiten. Dabei können drei Entwicklungen beim Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert als bedeutend für die Herausbildung der Jugendphase angesehen werden:

1. Jugendliche wurden zum Subjekt des Bildungs- und Ausbildungssystems,
2. Jugend ‚entdeckte’ sich selbst als soziale Gruppe (Stichwort Jugendbewegun- gen),
3. Jugend wurde als Lebenslaufphase von der Wissenschaft entdeckt (vgl. Horn- stein/Thole 2005, S. 444f.).

Der Begriff Jugend steht derzeit in der Öffentlichkeit nicht zur Disposition, ist aber „unkonturierter und damit unschärfer als je zuvor“ (ebd.). Bei all dieser Unschärfe wird im Alltag sowie in der Wissenschaft nach Markierungen gesucht, um die Lebensphase Jugend sinnvoll eingrenzen zu können. Innerhalb der beiden oben angeführten Auffas- sungen von Jugend können zum einen bestimmte Alterswerte herangezogen werden, zum anderen gewisse qualitative Merkmale, anhand derer die äußeren Ränder markiert werden können. Im Hinblick auf Alterswerte umfasst Jugend nach deutschem Recht das 14. bis 18 Lebensjahr (bzw. 21. Lebensjahr nach dem Jugendstrafrecht), das heißt, dass Jugend an dieser Stelle durch Einsetzen der Mündigkeit begrenzt wird. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG/SGB VIII, §7) unterscheidet dabei zusätzlich wie folgt: „Im Sinne dieses Buches ist 1. Kind, wer noch nicht 14 Jahre alt ist, […] 2. Jugendlicher, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist, 3. junger Volljähriger, wer 18, aber noch nicht 27 Jahre alt ist“. Innerhalb der Sozialwissenschaft wird Jugend als zeitlich ausgedehnte Phase begriffen, die nicht allein durch das Erreichen der Rechtsmündigkeit endet. In Jugendstudien werden daher meist Daten über Jugendliche zwischen zwölf und 25 Jah- ren (z.B. 14. Shell Jugendstudie 2002) oder in einigen wenigen auch bis 29 Jahren (z.B. die drei Jugendsurveys von 1992, 1997 und 2003 des Deutschen Jugendinstituts) erho- ben. Zusätzlich können und müssen weitere sinnvolle Kategorien gebildet werden, da neben sozialstrukturellen/ geschlechtsbezogenen Differenzen auch Altersgruppenunter- schiede bestehen. (vgl. Schäfers/Scherr 2005, S. 24f.; Reinders 2006, S.1)2

Als qualitative Begrenzungen können z.B. die biologische Geschlechtsreife, die Heirat oder die ökonomische Unabhängigkeit gesehen werden. Bei diesen Formen ergeben sich allerdings Schwierigkeiten in Bezug auf die Trennschärfe, da sich in den letzten Jahrzehnten die Lebensphase Jugend nicht nur ausgedehnt und im gleichen Zuge nach vorne verlagert, sondern auch zeitlich nach hinten verschoben hat, d.h., dass die Phase der Jugend länger ist als bisher. (vgl. Hornstein/Thole 2005, S. 443) Zudem ist sie individuell unterschiedlich, was bedeutet, dass z.B. die Geschlechtsreife bei Jugendlichen zu unterschiedlichen Zeitpunkten beginnt. Auch sind die Möglichkeiten, um eine Aus- bildung zu beginnen, wesentlich vielfältiger geworden. Damit befindet sich der Zeit- punkt der finanziellen Selbstständigkeit nicht in einem gewissen, zeitlich vorbestimm- ten Rahmen. Ebenso unsicher ist die Begrenzung über „Heirat“, da eheähnliche Lebens- gemeinschaften immer häufiger werden (ebd., S. 444). Vor der Zeit der Industrialisie- rung ist relativ gut definierbar, wann ein Jugendlicher zum Erwachsenen wird. Die Ju- gendzeit ist mehr an Bedingungen des Alters, Geschlechts und Standes gebunden. Je niedriger der Stand der Familie, desto früher muss das Kind als Arbeitskraft in das Be- rufsleben eintreten und tritt damit auch gleichzeitig ins Erwachsenenalter ein. In höhe- ren Ständen verweilen die Kinder länger im Schulsystem und damit auch im Elternhaus. Weitere qualitative Markierungen können auf körperlicher, geistiger, emotionaler, so- wie sozialer Ebene verortet werden, wobei diese Veränderungen meist in „einer beson- ders intensiven und turbulenten Form [erfolgen] […] (Hurrelmann 2007, S. 7), die zu- dem eine „einzigartige Dichte“ (ebd.) aufweisen. Damit kann festgehalten werden, dass qualitative Markierungen der Phase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter problem- behaftet sind und daher zwischen Jugend und Erwachsenenalter die „postadoleszente Phase“ liegt, „die bis weit in das dritte, zuweilen sogar bis in das vierte Lebensjahrzehnt hineinreichen kann“ (Hornstein/Thole 2005, S.444). „Jugend“ ist daher keine klassische Übergangsphase, da diese Übergänge inzwischen „biographisch querverteilt“ (ebd.), episodenhaft und auf verschiedene Lebensabschnitte verteilt sind. Anders formuliert werden typische Entwicklungsaufgaben der Jugendphase nicht mehr nur in diesem Le- bensabschnitt bewältigt. (vgl. ebd.)3

Besondere Aufgaben ergeben sich für Jugendliche vor dem Hintergrund gesamtgesell- schaftlicher Veränderungen. In dieser Arbeit ist angesichts der leitenden Forschungsfra- ge eine modernisierungskritische Auseinandersetzung von Bedeutung. In den letzten Jahren haben dazu vor allem auf makrosoziologischer Ebene zwei Theoriekonzepte eine besondere Aufmerksamkeit erfahren. Zum einen das Konzept einer kritischen4 Moder nisierungstheorie wie es vor allem von Ulrich Beck (1986) entwickelt wurde und zum anderen die Kultursoziologie der Lebensstile als eine Theorie der sozialen Ungleichheit, welche von Pierre Bourdieu entwickelt wurde. (vgl. Hornstein/Thole 2005, S. 444f.) Im Folgenden wird daher auf Jugend im Kontext der Individualisierung eingegangen, um den Zusammenhang zwischen„Jugend“ und „Individualisierung“ verdeutlichen zu kön- nen.

2.2 Jugend im Kontext der Individualisierung

Zunächst werden in diesem Abschnitt die Entstehungsbedingungen von Modernisierung dargestellt, da die Entwicklungen, bzw. Individualisierungstendenzen in einen größeren gesellschaftsgeschichtlichen Rahmen, dem Prozess der Modernisierung, eingebettet sind. Mit dieser Grundlage werden dann unter Berücksichtigung des Migrationsaspektes (Punkt 2.3) die Auswirkungen der Individualisierung auf Jugendliche (mit Migrationshintergrund) (Punkt 2.4) diskutiert.

Modernisierung

Es gibt mittlerweile unzählige Publikationen aus verschiedenen Disziplinen (Kunstge- schichte, Soziologie, Literaturwissenschaften), in denen der Begriff und Inhalt der Mo- dernisierung oder Moderne diskutiert wird. Innerhalb der Sozialwissenschaften wird der Begriff der Modernisierung bis in die 1960er Jahre hinein stets im Zusammenhang von Traditionalität betrachtet und dabei auf Entwicklungen von Entwicklungsländern bezo- gen (vgl. Schröder 1995, S.15f.). Danach löst ein „universelles Kategorieverständnis“ (ebd.) das traditionelle Verständnis ab, wodurch der Begriff der Modernisierung zu- nehmend zu einem allgemeinen Begriff für verschiedenste soziale und politische Ent- wicklungen auch der westlichen Industrieländer wird. Eine Abgrenzung von Begriffen wie dem des sozialen Fortschritts, sozialer Entwicklung sowie dem späteren Begriff des sozialen Wandels ist damit erschwert, da diese ebenso bestimmte Arten von Verände- rungen in der Gesellschaft umfassen. (vgl. ebd., S.16) Schröder (1995) beschreibt den Prozess der Modernisierung wie folgt:

„Insgesamt lässt sich Modernisierung begreifen als globaler Prozeß und als Aus- druck der Systemhaftigkeit und Interdependenz von ‚sozialer und psychischer Mobilisierung, kultureller Entwicklung, politischer Modernisierung und wissen- schaftlicher Entwicklung’, bezeichnet also einen Entwicklungsprozeß in Rich Wegen der thematischen Festlegung kann darauf im weiteren Verlauf aber nicht näher eingegangen wer- den.

tung auf Modernität und gilt als spezifische Form des zielgerichteten Wandels in der Gegenwart.“ (S. 18)

Er geht demnach von einem prozesshaften Charakter der Modernisierung aus. Für ihn kann die Lebensphase Jugend nur interpretiert werden, wenn sozialisatorische Einflüsse der Lebenswelten Jugendlicher (Familie, Schule, Beruf etc.) und deren Zusammenhänge berücksichtigt werden, sowie relevante Veränderungen, denen die Institutionen selbst unterliegen. Diese Veränderungen bezeichnet er als Prozess der Individualisierung.5 Nachdem nun festgehalten wurde, was unter Moderne oder Modernisierung zu verste- hen ist, muss im Folgenden als Grundlage auf das “Individualisierungstheorem“ (Heit- meyer/Olk 1990, S.11f.) nach Ulrich Beck, als die zentrale Schubkraft sozialer, ökono- mischer und politischer Veränderungen (vgl. Schröder 1995, S.18) aufmerksam ge- macht werden. Dabei wird es im Wesentlichen um die Bedeutung der Individualisierung sowie um relevante Entwicklungen, welche für diese Prozesse ausschlaggebend sind, gehen.

Individualisierungstheorem

Mit den Arbeiten von Ulrich Beck (insbesondere 1986) wird eine Debatte zum Thema Individualisierung ausgelöst, die sehr kontrovers diskutiert wird (vgl. hierzu Joas 1988, Honneth 1988, Zapf 1987). Dies liegt u.a. an der Tatsache, dass der Begriff der „Indivi- dualisierung“ sehr vielseitig ist und daher unterschiedlich Verwendung finden kann. Er kann sich auf Veränderungen durch gesellschaftliche Modernisierungsprozesse auf der Subjektebene oder auf bestimmte (von außen vorgegebene) sozialstrukturelle Entwick- lungen beziehen (vgl. Heitmeyer/Olk 1990, S. 12) und erfasst demnach beide Seiten des Sozialisationsprozesses. Weiterhin bezeichnet Individualisierung, als ein zentraler Be- standteil moderner Gesellschaften, „einen gesellschaftlichen Tatbestand, der nicht nur gegenwärtig wirksam ist, sondern der seit der Heraufkunft der modernen Gesellschaft zentrale Merkmale der Sozialstruktur und der normativen Anforderungen an die Indivi- duen erfasst“ (ebd., S.11). Individualisierung ist folglich kein neues Phänomen, sondern ein „Tatbestand“, der seit Beginn der Moderne, also ca. seit der Französischen Revolu- tion 1789, vorhanden ist. Wenn dies der Fall ist, stellt sich natürlich die Frage, was an der Individualisierung das Problem darstellt, bzw. welche Faktoren für die andauernde wissenschaftliche (zumeist soziologische) Auseinandersetzung mit diesem Phänomen in Bezug auf den gesellschaftlichen Wandel bedeutsam sind. Dazu kann zunächst erwähnt werden, dass es im Wesentlichen drei markante Sichtweisen von Individualisierung gibt, die sich durch Rückbezug auf die Klassiker der Soziologie festmachen lassen. In dividualisierung wird damit als negatives, positives oder ambivalentes Phänomen be- schrieben. Zu den Vertretern der negativen Auffassung können dabei Weber, Adorno, Horkheimer und Foucault genannt werden. Innerhalb dieser pessimistischen Perspektive wird von einem „bedrohten Individuum“ (Schroer 2004, S. 8) ausgegangen, welches durch bürokratische Fesseln und Disziplinierungsmethoden kaum eigene Entscheidun- gen treffen kann und damit in der Auslebung seiner Freiheit gefährdet ist. Für die dazu im Gegensatz stehende „positive Individualisierung“ (ebd.) können als klassiche Vertre- ter Durkheim, Parsons und Luhmann angeführt werden. Im Mittelpunkt steht dabei die Freisetzung des Individuums aus traditionalen Bindungen, womit dem Staat die Aufga- be übertragen wird, sich in höherem Maße um die Individuen zu sorgen, um diese damit in gewünschte Verhaltensrichtungen zu bewegen. Dabei ist eher von einem „gefährli- chen Individuum“ (ebd.) zu sprechen, da dieses die soziale Ordnung bedrohen kann. Innerhalb der dritten Auffassung von Individualisierung wird diese als ein Prozess be- trachtet, der sowohl ambivalente Folgen erzeugt, sowie als Prozess selbst ambivalent ist. Zu den Vertretern gehören Simmel, Elias, sowie Beck. Hierbei ist von einem „Risi- koindividuum“ (ebd.) auszugehen, welches nicht einseitig bedroht ist oder einseitig be- drohen kann, sondern welches im Prozess der Individualisierung „sowohl-als-auch“ Risiken und Chancen gegenübersteht. (vgl. ebd. S. 5ff.) Individualisierung wird dieser Blickrichtung zufolge verstanden als ein „Prozess, der zu komplex, vieldeutig und am- bivalent ist, um ihn ausschließlich als Atomisierungs- oder Disziplinierungsvorgang zu interpretieren“ (ebd., S. 8). Ein Grund für die enorme wissenschaftliche Beachtung ist demnach die vielseitige Verwendbarkeit des Begriffes der Individualisierung sowie die konträren Sichtweisen sozialwissenschaftlicher Autoren.

Beck (1986) bezeichnet die gegenwärtige Gesellschaft als „Risikogesellschaft“ und nimmt einen Standpunkt zwischen den Vertretern der negativen und positiven Sichtwei- se ein, was sich auch in seinem Modernitätsbegriff der reflexiven Modernisierung (vgl. ebd., S. 14) niederschlägt. Während er differenzierter auf Individualisierungsschübe seit ca. 1950 eingeht, wird an anderer Stelle von einer „primären“ und „sekundären“ Indivi- dualisierung gesprochen (vgl. Heitmeyer/Olk 1990, S.13ff.). Die „primäre Individuali- sierung“ (ebd.) bezieht sich dabei auf den weiter gefassten Zeitabschnitt seit Beginn der Neuzeit. Hierbei wird insbesondere auf die Ausdifferenzierung von Teilsystemen und die weitergehende Rollendifferenzierung verwiesen.6 Die „sekundäre Individualisie rung“ kann anhand des Beckschen Modells der Individualisierung7 erklärt werden, als eine Individualisierung innerhalb der Moderne oder einer reflexiven Modernisierung (vgl. Beck 1986, S. 14ff.), bei der Beck voraussetzt, dass es „primäre Individualisierungsschübe“ (vgl. Heitmeyer/Olk 1990, S.13) gegeben hat. Diese reflexive Modernisierung beschreibt den Modernisierungsprozess der Industriegesellschaft und grenzt sich damit von der Modernisierung der Tradition ab. Die Lebensverhältnisse, Arbeitsformen und Leitbilder, also die Vorraussetzungen der Industriegesellschaft, werden nun im Zuge der reflexiven Modernisierung ersetzt. (vgl. Beck 1986, S. 14) Zentrale These des Individualisierungstheorems nach Beck lautet wie folgt:

„Das, was sich seit den letzten zwei Jahrzehnten in der Bundesrepublik […] ab- zeichnet, ist nicht mehr […] als eine Veränderung von Bewusstsein und Lage der Menschen zu begreifen, sondern […] muß als Anfang eines neuen Modus der Vergesellschaftung gedacht werden, als eine Art ‚Gestaltwandel’ oder ‚kategoria- ler Wandel’ im Verhältnis von Individuum und Gesellschaft“ (ebd., S.205).

Das bedeutet, dass mit dem sozialen Wandel traditionale Strukturen in den Lebensformen und den Interaktionsmustern zwischen den Generationen, zwischen Jungen und Alten, Erwachsenen und Kindern aufbrechen. Staat, Sozialmilieus, Familie und Kirche verlieren den Einheitsgedanken und an die Stelle eines universellen Weltbildes tritt die Individualisierung als neuer Vergesellschaftungsmodus. Drei wesentliche sozialstrukturelle Entwicklungsprozesse können dabei als die „Motoren der ‚sekundären’ Individualisierung“ (Heitmeyer/Olk 1990, S.14ff.) angesehen werden:

- Die enorme Steigerung des materiellen Lebensstandards führt zu einer Plurali- sierung der Lebensstile, d.h. zu einer Befreiung und Herauslösung der Indivi- duen aus klassenkulturellen Milieus, durch den Zugang zum Massenkonsum und einem Anstieg der erwerbsarbeitsfreien Lebenszeit durch eine wachsende Le- benserwartung und sinkende Arbeitszeiten. (vgl. ebd., S. 14; Beck 1986, S. 122ff.)

- Die veränderten Berufsstrukturen, die Expansion des Dienstleistungssektors so- wie eine wachsende Partizipation der Frau am Arbeitsmarkt führt zu steigender sozialer und geographischer Mobilität der Bevölkerung. Hierbei werden durch Personen zu Unternehmern werden konnten, oder der Trennung von familiärem Leben und ökonomischer Produktion. Zusammenfassend ein Wandel der Agrar- zur Produktionsgesellschaft, in welchem die Indi- viduen aus vormodernen Bindungen und Zwängen freigesetzt wurden (vgl. Heitmeyer/Olk 1990, S.13ff.).die gestiegene Mobilität Individuen ebenfalls aus traditionalen Lebenszusam menhängen freigesetzt, da sich das familiale Zusammenleben verändert. (vgl. Heitmeyer/Olk 1990, S.14; Beck 1986, S. 125ff.)

- Die Bildungsexpansion hat individualisierende Effekte in Bezug auf Selbstfindungs- und Reflexionsprozesse. Diese werden durch die Inanspruchnahme einer höheren Bildung und längeren Ausbildungszeiten gefördert. (vgl. Heitmeyer/Olk 1990, S.15; Beck 1986, S. 127ff.)

Folglich werden durch Verbesserungen der ökonomischen Lebensbedingungen, durch den Anstieg der erwerbsarbeitsfreien Lebenszeit, der Bildungsexpansion etc. auch sozial „schwächer“ gestellte gesellschaftliche Gruppen, wie beispielsweise die Arbeiterklasse oder Frauen in den Individualisierungsprozess einbezogen. Beck bezieht sich mit sei- nem Individualisierungsbegriff auf die „Freisetzung des Individuums aus sozialen Klas- senbedingungen und aus Geschlechterlagen von Männern und Frauen.“ (Beck 1986, S. 116). Konkreter führt Modernisierung in Becks allgemeinem Modell der Individualisie- rung zu „einer dreifachen ‚Individualisierung’“ (ebd., S. 206), demnach einer Individua- lisierung auf drei Ebenen. Auf der Ebene der Freisetzung, geht es um eine Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen, auf der Ebene der Entzau- berung um den Stabilitätsverlust im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und lei- tende Normen sowie auf der dritten Ebene, der Kontroll- oder Reintegrationsdimension, um eine neue Art der Kontrolle bzw. der sozialen Einbindung (vgl. ebd,).

Durch die Modernisierung der Industriegesellschaft sind also „die Menschen aus den Sozialformen der industriellen Gesellschaft - Klasse, Schicht, Familie, Geschlechtsla- gen von Männern und Frauen - freigesetzt“ (ebd., S. 115) worden (Freisetzungsdimen- sion). Dieser Individualisierungsprozess birgt sowohl Chancen als auch Risiken. Die Bindung des Menschen an soziale Klassen tritt in den Hintergrund. Anstelle von stän- disch geprägten Sozialmilieus entstehen individualisierte Formen der Lebensführung und die Menschen werden gezwungen, ihre Lebensplanung selbst zu gestalten. In den Familien treffen nun Individuen, egal ob Frau oder Mann, aufeinander, die ihr Leben eigenständig planen und ihre Lebensbedingungen miteinander aushandeln müssen. Das Individuum selbst muss seine Existenz auf dem Markt sichern und seine Biographie planen und organisieren. Neben den ausdifferenzierten Individuallagen bestehen aber auch “Tendenzen der Institutionalisierung und Standardisierung von Lebenslagen.” (ebd., S. 119) Alle Individuen werden von Institutionen wie Arbeitsmarkt, Bildungssys- tem oder auch Sozialwesen abhängig und dadurch von ihnen kontrolliert (Kontrolldi mension). Aufgrund der standardisierten Lebenslagen haben die Menschen wieder Ge meinsamkeiten, an denen sie festhalten können, sind aber auch erneut abhängig. (vgl. ebd., S. 116 ff.) Durch die reflexive Modernisierung entsteht der „Fahrstuhl-Effekt“, durch den die gesamte Klassengesellschaft eine Stufe nach oben gefahren wird. Zu- gleich werden jedoch die Klassenidentitäten aufgelöst. „Gleichzeitig wird ein Prozeß der Individualisierung und Diversifizierung von Lebenslagen und Lebensstilen in Gang gesetzt, der das Hierarchiemodell sozialer Klassen und Schichten unterläuft“ (ebd., S. 122). Die Überschneidungszonen von sozialen Schichten wachsen, da die Zugehörigkeit der Schicht an Bedeutung verliert und eine Ablösung von Bindungen an Klassenkultur und Vorgaben des Herkunftsmilieus stattfindet. Traditionelle Orientierungen, Denkwei- sen und Lebensstile verändern sich und die individuelle Verbesserung von Bildung und wirtschaftlicher Lage steht im Vordergrund. Auch die stärkenden Bindungen an Fami- lie, Nachbarschaft, Kollegen, Berufe, regionale Kultur oder Landschaft, verlieren durch die nun herrschende Mobilität des Individuums an Bedeutung. Einen Beruf zu erlangen bedeutet heutzutage nicht mehr lebenslange Absicherung. Ehemals zukunftssichernde Ausbildungen und Studiengänge verlieren auch an Wert. Unterbeschäftigung wird zu einem normalen Lebensbestandteil. Schul- und Ausbildungsabschlüsse werden immer notwendiger, aber immer weniger hinreichend, um einen Zugang zum Beschäftigungs- system zu erlangen, d.h, dass sich die Chancenverteilung durch Ausbildung gewandelt hat. Zum Beispiel kann ein Hauptschulabschluss Chancenlosigkeit bedeuten, wenn er nur in lebenslange Arbeitslosigkeit und Abhängigkeit von Sozialhilfe führt. (vgl. ebd., S. 222 ff.) Eben diese hohe Arbeitslosigkeit, welche kontinuierlich wächst, wird dem Menschen auch als individuelles Schicksal aufgebürdet. Keine Qualifikations- und Be- rufsgruppe bietet noch Schutz vor Arbeitslosigkeit. Das Problem der allgemeinen Ar- beitslosigkeit und damit verbundener Armut entsteht. Die Freisetzung der Frauen aus den alten Geschlechtsrollen erzeugt in gleichem Maße Nachteile für sie. Frauen haben auf dem Arbeitsmarkt immer noch nicht die gleichen Chancen wie Männer und sind dadurch von ihnen ökonomisch abhängig. Die Ungleichheit der Geschlechter bleibt demnach bestehen. (vgl. ebd., S. 184 ff.) Es findet eine Individualisierung unter gesell- schaftlichen Rahmenbedingungen statt, die eine individuelle, selbständige Lebensfüh- rung nicht zulässt. “Ständisch geprägte, klassenkulturelle oder familiale Lebenslauf- rhythmen werden überlagert oder ersetzt durch institutionelle Lebenslaufmuster” (ebd., S. 211). Mit der Individualisierung geht eine Institutionalisierung, eine Marktabhängig- keit, der Lebenslagen einher. Die Herauslösung aus sozialen Bindungen bewirkt eine veränderte Weltsicht, da Freiheiten in einem größeren Umfang zunehmen. Gleichzeitig jedoch nehmen auch die Zwänge zu, das eigene Leben, die eigene Biographie selbst ständig zu planen. Dabei wählt jeder einen Bausatz, der verschiedene biographische Kombinationsmöglichkeiten anbietet.

Die eigene soziale Lage wird zur Konsequenz der selbst getroffenen Entscheidung, so- mit entstehen eigene Schuldzuweisungsmöglichkeiten (Entzauberung). Um Entschei- dungen der eigenen Lebensplanung treffen zu können, benötigen die Individuen jedoch Kenntnisse aller Teilsysteme (d.h. z.B. Wohnungs-, Arbeits- und Konsummärkte), in denen die Entscheidungen getroffen werden müssen. (vgl. ebd., S. 206 ff.) Widersprü- che und Ungewissheiten, Chancen, aber auch Risiken prägen das Leben im Modernisie- rungsprozess. Gerade durch die entstandenen Risiken der Moderne stellt sich daher die Frage, wie die Gesellschaft und ihre Mitglieder, insbesondere „die Jugendlichen“ mit diesen neuen Risiken umgehen. Denn wenn neuartige Lebenslagen und biografische Verlaufsmuster entstehen, gibt es keine standardisierte Normalbiographie mehr, d.h. der individuelle Lebenslauf ist durch selbst getroffene Entscheidungen bestimmt. Gleichzei- tig erzeugt der Prozess der Individualisierung zunehmend biographische Unsicherheit. Gestiegene Freiheitsgrade aber auch zunehmende Verunsicherungen können als „Son- nen- oder als Schattenseiten“ (Heitmeyer/Olk 1990, S. 28) bezeichnet werden. Dadurch kann die Frage nach den Verlierern und Gewinnern des Individualisierungsprozesses folgendermaßen salopp beantwortet werden: Diejenigen, die im Prozess der Individuali- sierung ihre Chancen nutzen, können ihren Lebenslauf auf eigene Art und Weise pla- nen, haben dabei die richtigen Entscheidungen getroffen und gehen mit den gesell- schaftlichen Anforderungen auf eine produktive Weise um, gehören demnach zu den Individualisierungsgewinnern. Auf der Schattenseite des Individualisierungsprozesses stehen dabei die Opfer der neu entstandenen Risiken. Diejenigen, die sich bei der Pla- nung „falsch“ entschieden haben oder denen trotz „richtiger“ Entscheidungen durch neue Anforderungen keine Handlungsalternativen mehr bleiben, müssen nun mit ihrem selbst verschuldeten Scheitern umgehen können. Beide, Gewinner wie Verlierer, wer- den nicht allein durch sozialstrukturelle Variablen, sondern im Wesentlichen Maße durch Bedingungen innerhalb Familie, Schule, Beruf etc. beeinflusst (vgl. Schröder 1995, S. 38ff).

Es wurde nun festgestellt, was unter „Jugend“ zu verstehen, bzw. dass es sich auch in- nerhalb der Fachwissenschaften nicht um eine feststehende Größe handeln kann. Wei- terhin wurden unter einer bestimmten Blickrichtung gesellschaftliche Rahmenbedin- gungen erläutert, die für die Gesellschaft der Bundesrepublik als sozialstrukturelle Ent- wicklungen, als Theorie und Tatbestand angenommen werden und mit denen sich alle Jugendlichen ohne Ausnahme konfrontiert sehen müssen. Um beantworten zu können, ob Jugendliche mit Migrationshintergrund heutige Individualisierungsverlierer sind, muss im Folgenden zunächst erläutert werden, was Jugend im Kontext von Migration bedeutet.

2.3 Jugend im Kontext von Migration

Gemäß der Definition des statistischen Bundesamtes zählen zu den Personen mit Migra- tionshintergrund alle Personen, „die nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepub- lik Deutschland zugezogen sind, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer/-innen und alle in Deutschland als Deutsche Geborene mit zumindest einem zugezogenen oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil“ (Statistisches Bundesamt 2007, S. 33). Dabei muss berücksichtigt werden, dass in der amtlichen Bevölkerungsstatistik des Statistischen Bundesamtes sowohl Daten für die Gesamtbevölkerung im Ganzen als auch getrennt für die deutsche und ausländische Bevölkerung ausgewiesen werden. Grundlage der Ausländerbestandsstatistik ist somit der rechtliche Ausländerbegriff und nicht der Begriff des Migranten (vgl. Bundesministerium des Inneren [BMI] 2007, S. 156) oder die Wortgruppe ‚Personen mit Migrationshintergrund’. „Als Ausländer gelten alle Personen, die nicht Deutsche im Sinne von Art. 116 Abs. 1 GG sind, d.h. nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Dies können direkt zugezogene Personen mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit sein oder auch deren im Land geborene Nach- kommen, die selbst keine Migranten sind, sofern sie nicht die deutsche Staatsangehö- rigkeit erhalten.“ (ebd.)

Der Begriff „AusländerInnen“ hat somit einen problematischen Charakter und zeigt ein „unvollständiges und verzerrtes Bild der heterogenen Migrationssituation, da die einge- bürgerten Personen und die Aussiedlerinnen/ Aussiedler nicht erfasst werden“ (Vink 2005, S. 115),8 wird im Folgenden die Wortgruppe „Kinder und Jugendliche mit Migra- tionshintergrund“ verwendet, weil damit alle Kinder und Jugendlichen gemeint sind, die selbst oder deren Vorfahren in den letzten Jahrzehnten nach Deutschland eingewandert sind, unabhängig von einer bestehenden deutschen Staatsbürgerschaft. Dabei wird da- von ausgegangen, dass es sich bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Bezug auf Merkmale wie Herkunftskultur, Sprachkenntnisse, soziale Schicht, Bilungsstand im Elternhaus etc. um eine sehr heterogene Gruppe handelt. Wenn somit im Folgenden generalisierende Aussagen getroffen werden, dann in dem Bewusstsein, dass damit typische Aspekte, aber nicht alle Einzelfälle erfasst werden können. Um die be- stehenden Lücken zu füllen, wurde vom Bundestag ein neues Mikrozensusgesetz (MZG) beschlossen, dass zum 24. Juni 2004 in Kraft getreten ist. Es können seitdem zusätzlich zu den Daten über Ausländer der amtlichen Statistiken auch Daten über Per- sonen mit Migrationshintergrund in der amtlichen Repräsentativstatistik über die Be- völkerung und den Arbeitsmarkt (Mikrozensus) gewonnen werden. Das Statistische Bundesamt grenzt Personen mit Migrationshintergrund in folgender Art und Weise ab:

1. Ausländer

1.1. Zugewanderte Ausländer

- Ausländer der 1. Generation

1.2. In Deutschland geborene Ausländer

- Ausländer der 2. und 3. Generation 2. Deutsche mit Migrationshintergrund

2.1. zugewanderte Deutsche mit Migrationshintergrund Spätaussiedler,

- eingebürgerte zugewanderte Ausländer,

2.2. nicht zugewanderte Deutsche mit Migrationshintergrund eingebürgerte nicht zugewanderte Ausländer,

- Kinder zugewanderter Spätaussiedler,
- Kinder zugewanderter oder in Deutschland geborener eingebürgerter ausländischer Eltern,
- Kinder ausländischer Eltern, die bei Geburt zusätzlich die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten haben (ius soli),
- Kinder mit einseitigem Migrationshintergrund, bei denen nur ein Elternteil
- Migrant oder in Deutschland geborener Eingebürgerter oder Ausländer ist (vgl. Statistisches Bundesamt 2006, S. 73-79).

Innerhalb der Migrationsforschung werden für Deutschland (sowie EU- Mitgliedsstaaten) zudem verschiedene Migrationstypen unterschieden. Unterschieden werden die jeweiligen Migrationstypen dabei hinsichtlich der jeweiligen Ursachen für die Zuwanderung. Hauptursachen für die Zuwanderung in die EU sind vorrangig:

- Flucht vor Verfolgung,
- Krieg und Bürgerkrieg,
- familiäre Gründe (z.B. Familiennachzug) sowie
- die Suche nach besonderen Arbeitschancen.

Daneben gibt es ethnisch Zugehörige ([Spät-] AussiedlerInnen), sowie eingewanderte Unionsbürger. (vgl. Beer-Kern 2005, S. 592ff.) In Deutschland sind also seit der ersten Anwerbung 1955 mehr als 30 Mio. Deutsche (v.a. Aussiedler) und Ausländer ins Bun- desgebiet eingewandert, dagegen haben ca. 22 Mio. Personen Deutschland wieder ver- lassen. (vgl. ebd.) Laut Bundesministerium des Inneren (BMI) kommen Ausländer und Deutsche mit Migrationshintergrund zusammen auf 15,3 Millionen Personen (knapp 19%) der Bevölkerung in Deutschland. Dies bedeutet, dass im Vergleich zur früheren Ausländerstatistik sowohl die Zahl aller Personen mit Migrationshintergrund in Deutschland wie auch ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung mehr als doppelt so hoch ist wie bislang bekannte Ausländerzahlen. (vgl. BMI 2007, S. 76f.) Bei der Altersgruppe der unter 25-Jährigen haben mehr als ein Viertel (27,2%), ca. 6 Mio. Personen einen Migrationshintergrund (Abb. 1). Davon entfallen auf die 10-25 Jährigen 12,3% (siehe Tabelle 1 im Anhang).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb.1: Bevölkerung im Alter von unter 25 Jahren 2005 nach Migrationshintergrund und Migrationstypen (in %)

[...]


1 Siehe dazu Erwin K. Scheuch (1975): Die Jugend gibt es nicht. Zur Differenziertheit der Jugend in heutigen Industriegesellschaften. In: Jugend in der Gesellschaft. München, S. 54-78.

2 Schäfers und Scherr (2005, S.25) bilden dazu Kategorien in denen Jugendliche in Jugendliche im enge- ren Sinne (zwölf-17 Jahre), Heranwachsende (18-21) und junge Erwachsene (21-ca. Ende des zweiten Lebensjahrzents) unterteilt werden. Daneben gibt es noch andere Einteilungen wie z.B. die von Reinders (2006, S. 1)

3 Ein weiteres qualitatives Merkmal könnte die subjektive Einschätzung Heranwachsender sein, nach dem dann „Jugendlicher ist, wer sich selbst als Jugendlicher sieht“ (Reinders 2006, S.1). Diese Art von Markierung wird aber als zu unsicher betrachtet, da z.B. gerade in Bezug auf die empirische Sozialforschung damit keine klare Eingrenzung der Lebensphase möglich ist, da auch über 40Jährige in die Kategorie „Jugend“ fallen können (vgl. ebd.). Hierbei sei nur auf den Aspekt verwiesen, dass „Jugend“ ebenso ein normativ aufgeladener Begriff ist. Jugendlichkeit wird dabei als Ideal betrachtet, welches auch von Erwachsenen angestrebt wird. (vgl. Schäfers/Scherr 2005, S.21)

4 Wobei das „Kritische“ an Ulrich Becks Arbeit auch hinterfragt werden muss, da er wie sich später he- rausstellen wird, eher einen Mittelweg wählt. Ihm könnte daher auch Kritiklosigkeit vorgeworfen werden.

5 Damit spricht er in hohem Maße die Kontextabhängigkeit jugendlicher Biografieverläufe an, die für eine Bestimmung relevanter Umstände der Lebensphase von Bedeutung ist.

6 Weiterhin werden Elemente des gesellschaftlichen Wandels seit Beginn der Neuzeit aufgeführt. Dieser Wandel äußert sich unter anderem in einem wirtschaftlichen Aufstieg des Bürgertums, wodurch private

7 Auch wenn Beck von anderen Seiten häufig kritisiert wurde, können die im Folgenden angeführten Thesen im Rahmen dieser Arbeit nicht in ihrer Richtigkeit überprüft werden. Ein wesentlicher Kritik- punkt sei dennoch erwähnt: Beck erkläre gesellschaftliche Verhältnisse nicht, sonder beschreibe diese nur.

8 Weiterhin wird durch diesen Begriff, sofern er undifferenziert verwendet wird, eine Fremdheit suggeriert und damit die Tatsache verschwiegen, dass sich die Mehrzahl dieser Personen schon viele Jahre in der Bundesrepublik aufhält (und damit auch als „Inländer“ bezeichnet werden könnte).

Final del extracto de 78 páginas

Detalles

Título
Jugendgewalt, Migration und Moderne
Universidad
TU Dortmund  (Institut für Sozialpädagogik, Erwachsenenbildung und Pädagogik der frühen Kindheit (ISEP))
Calificación
1,1
Autor
Año
2008
Páginas
78
No. de catálogo
V140155
ISBN (Ebook)
9783640497188
ISBN (Libro)
9783640496938
Tamaño de fichero
1343 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Jugendliche, Migrationshintergrund, Individualisierungsverlierer, Individualisierungstheorem, Gewalt, Heitmeyer, Jugend heute, Desintegrationsansatz, Individualisierung
Citar trabajo
Julia Leschinski (Autor), 2008, Jugendgewalt, Migration und Moderne, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/140155

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