Der Hirntod als der Tod des Menschen

Eine Auseinandersetzung mit der Hirntodproblematik


Seminararbeit, 2008

40 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhalt

1 Einleitung

2 Das Hirntodkonzept
2.1 Todesbegriff(e)
2.2 Definition Hirntod
2.2.1 Diagnose Hirntod
2.2.2 Vom Teilhirntod zum Ganzhirntod
2.3 Ebenen des (Hirn)Todes

3 Kritik am Hirntodkonzept
3.1 Die Hirntoddefinition als utilitaristisches Kalkül
3.2 Zweifel am Hirntod als endgültigem Tod
3.3 Die doppelte Begründung der Hirntodkonzeption
3.3.1 Der Hirntod als endgültiger Bewusstseinsverlust und Ende der Person
3.3.2 Der Hirntod als Desintegration der Einheit des Organismus

4 Zusammenfassung

5 Anhang
5.1 Sekundärliteratur
5.2 Internetadressen

1 Einleitung

Jahrhunderte lang galten das völlige und unumkehrbare Aussetzen von Herzschlag, Kreislauf und Atmung und die daraufhin eintretenden Todeszeichen als die Kriterien für das Ableben eines Menschen. In der Zeit von künstlicher Beatmung und Herzmassage bot sich eine neue Erfahrung des Todes. Im Jahre 1959 hatten die französischen Intensivmediziner Mollaret und Goulon „Patienten beobachtet, deren Gehirn nach einem längeren Atemstillstand durch Sauerstoffmangel irreversibel (…) zerstört war, während ihr Organismus durch künstliche Beatmung am Leben erhalten werden konnte“[1]. Dieser medizinische Zustand wurde von ihnen unter dem Begriff des „‚Coma dépassé’“[2] („‚jenseits des Komas’“[3] ) als eine neue Form des Komas eingeführt, die den „‚Totalverlust’ vegetativer Lebensfunktionen“[4] beschrieb. Nach dem traditionellen Todesverständnis bezeichnete das irreversible Koma aber nicht den Tod, sondern das unaufhaltsame Sterben eines Menschen durch kontinuierlichen Verlust der gesamten Gehirntätigkeit: „Dieses Überleben nimmt in Wahrheit ein Ende, wenn der Herzstillstand [nach Abbruch der künstlichen Beatmung] definitiv ist.“[5] Erst im Zuge der fortschreitenden Entwicklung der Transplantationsmedizin erfolgte eine Infragestellung der klassischen Definition des Todes als Herz-Kreislauf- und Atemstillstand. Die Abkehr vom damals gültigen Todeskonzept wurde schließlich 1969 mit der Etablierung des Coma dépassé, gleichbedeutend mit Hirntod, als neues Kriterium für die Diagnose des bereits eingetretenen Todes des Menschen durch eine Ad-hoc-Kommission der amerikanischen Harvard Medical School vollzogen. Patienten im irreversiblen Koma wurden aufgrund dieser Gleichsetzung von Gehirnversagen und Tod schon vor der Beendigung aller intensivmedizinischen Behandlungsmaßnahmen für tot erklärt. „Warum [aber] soll denn eigentlich der komatöse Patient, dessen Herz- und Atmungstätigkeit künstlich unterstützt werden, kein Leben mehr haben, also tot sein?“[6] ist die entscheidende Frage, mit der sich die vorliegende Arbeit beschäftigt. Die „Unanschaulichkeit des Hirntodes“[7] und der Zusammenhang zur Transplantationsmedizin lassen prinzipielle Zweifel an der Gültigkeit des Hirntodkonzeptes aufkommen. So wird in dieser Arbeit von der These ausgegangen, dass der Tod des Organs Gehirn nicht gleichbedeutend mit dem Tod des Menschen als ganzheitliches Individuum ist und der Hirntod ein Übergangsstadium innerhalb des sich irreversibel fortsetzenden Sterbeprozesses darstellt, nicht aber schon dessen endgültiges Ende.

Im Folgenden werden zunächst das Hirntodkonzept und dessen medizinischen Aspekte sowie die mit ihm verbundenen Kontroversen und Diskussionsebenen vorgestellt, um auf diesem Wege einen halbwegs klaren Einblick in die Debatte zu gewinnen. Anschließend erfolgt eine kritische Auseinandersetzung mit der Hirntodproblematik entlang den in dieser Arbeit für wesentlich erachteten und in der medizinisch-philosophischen Diskussion immer wieder auftretenden strittigen Punkten. Dabei geht es vor allen Dingen um die Akzeptabilität des Hirntodkriteriums als neue, pragmatisch motivierte Definition des Todes und die zentrale Frage, ob der Hirntod mit dem Tod der Person und dem Tod des biologischen Organismus gleichgesetzt werden kann. Auf den Zusammenhang von Hirntodkonzept und Transplantationsmedizin wird in diesem Teil eingegangen, dabei aber kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben. Vielmehr soll mit dem kurzen Abriss das ethische Konfliktpotential, das sich durch diese Verbindung auftut, verdeutlicht werden. Die Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer ethischen Rechtfertigung der Transplantationsmedizin ist nicht Gegenstand der Arbeit.

2 Das Hirntodkonzept

2.1 Todesbegriff(e)

„Der Tod von etwas ist der Zustand des irreversiblen Erloschenseins seiner Lebensfunktionen.“[8] Er markiere negativ gewendet das unumkehrbare Ende der Existenz eines Lebewesens bzw. Individuums.[9] Als solcher betreffe er das Ende des Organismus als Ganzen bzw. des Menschen als Ganzen.[10] Dabei kann er „im allgemeinen als zeitlich gestufte Absterbefolge gesehen werden, innerhalb der wir das Absterben einzelner Teile als Partialtod (Organ-, Zell- oder Gewebetod) bezeichnen, die in einer letzten Phase mit dem Totaltod oder Individualtod abschließt“.[11] Das Sterben eines Organismus stellt demnach kein punktuelles Geschehen dar, sondern den zeitlich ausgedehnten Übergang vom Leben in den Tod, der das sukzessive Sistieren der Lebensfunktionen der Organe, der Gewebe und der letzten Zellen in Abhängigkeit ihrer verschiedenen Ischämietoleranzzeit einschließt.[12] Wegen dieser partialen Sterbeabfolge laufe auch nach offiziellem Todeseintritt noch ein gewisses Restleben in Form von biologischen Prozessen im toten Körper ab.[13] So sind biologische Lebensvorgänge von Haut, Haaren, Knorpelgewebe oder Spermien etc. noch Tage oder Wochen nach der Beerdigung nachweisbar.[14] Der isolierte Partialtod, d.h. der irreversible Funktionsverlust eines Organs[15], kann aber nicht schon mit dem Tod des Organismus als Ganzen gleichgesetzt werden, denn der „Tod als Zustand [kann] nur sinnvoll einem (Gesamt-)Lebewesen zugeschrieben werden, nicht einem Organ“[16].

Das Schicksal des Organismus ist an die Tätigkeit der lebenswichtigen Organe und Organsysteme und deren Zusammenwirken mit anderen Organen gebunden.[17] Dabei gelten Herz, Lunge und Gehirn als „die uralten ‚Eintrittspforten des Todes’ (‚artria mortis’)“[18]. Der vollständige und unwiderrufliche Funktionsausfall eines dieser Organe zieht das irreversible Absterben anderer Organe und letztendlich den Tod des Gesamtorganismus nach sich.[19] Aufgrund dieser funktionellen Abhängigkeit der Organe voneinander differenziert man in der Medizin zwischen zwei Arten des Todes: dem klinischen Tod und dem biologischen Tod. Unter klinischem Tod versteht man den Zustand in einem Zeitraum von etwa drei Minuten nach einem Herz- und Atemstillstand, innerhalb dessen eine Wiederbelebung des Organismus durch Herzmassage und künstliche Beatmung möglich ist.[20] Der klinische Tod entspricht weitestgehend dem klassischen bzw. traditionellen Todesbegriff, der den irreversiblen Ausfall von Kreislauf und Atmung verbunden mit dem Aufhören der Tätigkeit des Zentralnervensystems bezeichnet.[21] Man spricht auch synonym vom „Herztod“[22] oder „Ganzkörpertod“[23]. Die Feststellung des klinischen Todes erfolgt anhand von acht klinischen Zeichen, die auch unsichere Todeszeichen genannt werden.[24] Diese umfassen neben Herz- und Atemstillstand Pulslosigkeit, tiefes Koma, beidseits auf Licht nicht reagierende Pupillen, das Fehlen der okulozephalen Reflexe, das Fehlen der Kornealreflexe, das Fehlen zerebraler Reaktionen auf schmerzhafte Reize sowie das Fehlen des Husten- und Schluckreflexes.[25] Ist eine Reanimation nicht mehr möglich oder nach 30 bis 40 Minuten erfolglos, setzen also Herz-, Kreislauf- und Atemaktion nicht erneut ein, folgt auf den klinischen Tod der biologische Tod bzw. „Totaltod“[26], der den Zeitpunkt des irreversiblen Absterbens sämtlicher letzter Körperzellen kennzeichnet.[27] Mit Eintritt des absoluten Todes setzen zusätzlich zu den bereits erwähnten unsicheren Todeszeichen die so genannten sicheren Todeszeichen wie Totenstarre (rigor mortis), Totenflecke (livor mortis), Fäulnis und Verwesung ein.[28] Erst das Auftreten dieser sicheren Todeszeichen zeigt den Todeseintritt als das Ende des Sterbens eines Menschen mit Sicherheit an.[29]

2.2 Definition Hirntod

Der Hirntod wird nach den Empfehlungen und Richtlinien des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer zur Feststellung des Hirntodes als „‚Zustand des irreversiblen Erloschenseins der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms, bei einer durch kontrollierte Beatmung noch [künstlich] aufrechterhaltenen Herz-Kreislauffunktion’“[30] definiert. Und weiter: „‚Mit dem Hirntod ist naturwissenschaftlich-medizinisch der Tod des Menschen festgestellt.’“[31] Man spricht auch vom Phänomen des „‚dissoziierten’ Hirntod[es]“[32] aufgrund des zeitlich und örtlich getrennten Funktionsausfalls des Gehirns vor dem Erlöschen der Herz-Kreislauf- und Atemtätigkeit. Bei einem eingetroffenen Hirntod kommt es zum restlosen und unwiederbringlichen Ausfall aller intrakraniellen Funktionen oberhalb des großen Hinterhauptlochs, dem Übergang zum Rückenmark. Physiologen sprechen in diesem Sinne von einer vollständigen funktionalen Entkoppelung von Gehirn und Rückenmark aufgrund unterbrochener intrakranieller Zirkulation.[33] Dabei löse sich die Gehirnmasse trotz aufrechterhaltenem Kreislauf fortwährend auf.[34] Eine andere Definition bezeichnet den Hirntod demgemäß „‚als die Totalnekrose des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms (…) d.h. als irreversible Schädigung und damit Ausfall aller Funktionen und das Unvermögen, vitale Funktionen wie Atmung und Blutdruck aufrechtzuerhalten und vegetative Funktionen zu erhalten’“[35].

Der vollständige und endgültige Ausfall der Hirnfunktionen ist Folge einer unzureichenden Versorgung des Hirngewebes mit Blut und Sauerstoff, die zu einem Absterben der Gehirnzellen führt. Hierbei wird zwischen einer primären Hirnschädigung und einer sekundären Hirnschädigung unterschieden. Sekundäre Hirnschädigungen entstehen indirekt durch eine längere Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr zum Gehirn beispielsweise infolge eines Atem- und Herz-Kreislaufstillstands. Im Falle einer primären Hirnläsion hat das schädigende Ereignis (z.B. schwere Schädel-Hirn-Verletzungen, Tumore) das Gehirn selbst direkt getroffen. Das Hirngewebe reagiert auf die unmittelbare Schädigung mit einer Schwellung (Hirnödem). Durch diese Volumenvergrößerung kommt es zu einer Drucksteigerung und zu einem Platzproblem im knöchernen Schädel sowie zu oberen und unteren Einklemmungserscheinungen im Bereich des Hinterhauptlochs. Übersteigt der intrakranielle Druck (Schädelinnendruck) den mittleren arteriellen Blutdruck resultiert der völlige Stillstand der Gehirndurchblutung und schließlich der „totale Hirninfarkt“[36]. Da das Gehirn von allen Organen und Körpergeweben die kürzeste Ischämietoleranzzeit besitzt, ist eine Rezirkulation unter Reanimationsbedingungen nach 10 bis 30 Minuten erfolglos. Ein 8- bis 10-minutiger Durchblutungsstillstand bewirkt den irreversiblen Ausfall zunächst der Funktionen der Großhirnrinde (Cortex) und daraufhin des Hirnstamms. Auf den Abbruch aller intensivmedizinischen Erhaltungsmaßnahmen folgt dann innerhalb von wenigen Minuten der Herz-Kreislauf- und Atemstillstand. Aber auch bei Fortsetzung der apparativen und medikamentösen Unterstützungsmaßnahmen kommt es nach mehreren Wochen oder Monaten zum Herzstillstand. Der Eintritt des Hirntodes markiert demnach den Zeitpunkt, ab dem der weitere Absterbeprozess aller anderen Organe, Gewebe und Zellen irreversibel abläuft, der innerhalb einer gewissen Zeit in dem unausweichlichen Totaltod des gesamten Körpers mündet.

2.2.1 Diagnose Hirntod

Die Feststellung des Hirntodes erfolgt in Deutschland entsprechend den Richtlinien und Empfehlungen der Bundesärztekammer nach einem dreistufigen Diagnoseschema.

1.) Vor Beginn der Diagnosestellung müssen zunächst zwei Grundvoraussetzungen sichergestellt werden: Zum einen muss geprüft werden, ob eine schwere primäre oder sekundäre Gehirnschädigung vorliegt, die mit einem unumkehrbaren Funktionsausfall einhergeht und zum anderen müssen mögliche Ursachen für einen reversiblen Ausfall der Hirnfunktionen zweifelsfrei ausgeschlossen werden. Als potentielle Ursachen, die einen irreversiblen Komazustand vortäuschen können, kommen beispielsweise Intoxikation, Unterkühlung, Kreislaufschock, metabolische Störungen in Frage. Jeder Patient mit einer unklaren tiefen Bewusstlosigkeit ist bis zur zweifelsfreien Klärung der Ursache von der Hirntoddiagnostik auszuschließen.

2.) Anschließend wird die Vollständigkeit des Gehirnversagens durch das gleichzeitige Vorhandensein von bestimmten klinischen Todeszeichen bzw. Symptomen untersucht:

a) Tiefes Koma bzw. irreversibler Bewusstseinsverlust. Als tiefes Koma wird ein Zustand definiert, in dem sich beim Patienten keine vom Gehirn abhängige Reaktionen auf innere und äußere Reize etwa gezielte Abwehrbewegungen auf Schmerzreize verzeichnen lassen. Die tiefe Bewusstlosigkeit geht auf einen irreversiblen Funktionsausfall im retikulären System des Hirnstamms, das für die Wachsamkeit und Aufmerksamkeit zuständig ist, zurück.
b) Ausfall der Hirnstammreflexe (Hirnstammareflexie). Bei einem Hirntoten sind 5 wichtige vom Hirnstamm ausgehende Reflexe nicht mehr auslösbar. Dazu zählen der Pupillenreflex, der Kornealreflex, der okulo-zephale Reflex (Puppenkopfphänomen), der Husten-, Schluck- und Würgereflex sowie Schmerzreaktion im Gesicht bzw. Trigeminusbereich. Der Hirntod gilt nur dann als bewiesen, wenn sowohl der gleichzeitige und beidseitige Ausfall aller Hirnstammreflexe als auch das Vorliegen der übrigen klinischen Ausfallsymptome nachgewiesen werden kann. Zeigt der Patient nur einen dieser Reflexe ist eine Hirntodfeststellung nicht möglich.
c) Ausfall der Vitalfunktionen des Hirnstamms. Mit Eintritt des Hirntodes geht dem betreffenden Patienten die Fähigkeit zur Eigenatmung und zentralen Steuerung und Regulation der Herz-Kreislauftätigkeit u. a. verloren. Der Ausfall der Spontanatmung muss dabei durch einen Apnoe-Test eindeutig belegt werden.

3.) Die zweifelsfreie Feststellung des Hirntodes beinhaltet neben dem Nachweis seiner Vollständigkeit zusätzlich die Bestätigung seiner Endgültigkeit bzw. Irreversibilität. Dieser Nachweis kann alternativ auf zwei Wegen erbracht werden: entweder durch mehrmaliges Wiederholen der genannten Untersuchungen in vorgeschriebenen zeitlichen Abständen bei immer gleichem klinischem Befund oder durch den Einsatz apparativer Zusatzuntersuchungen. Die Anwendung technischer Geräteuntersuchungen lässt sich methodisch in zwei grundsätzliche Verfahrensweisen einteilen: einerseits zum Nachweis des zerebralen Durchblutungsstillstands und andererseits zum Nachweis des Erloschenseins bioelektrischer Aktivität des Gehirns. Der Stillstand der zerebralen Blutzirkulation kann durch transkranielle Dopplersonographie, zerebrale Angiographie und zerebrale Perfusionsszintigraphie sichtbar gemacht werden. Mit Hilfe von Elektorenzephalographie (Nulllinien-EEG) und evozierte Potenziale (akustisch, somatosensorisch und visuell) lassen sich Aussagen über die bioelektrische Gehirnaktivität treffen. Die apparative Zusatzdiagnostik gewinnt nur mit Blick auf die zuvor festgestellten klinischen Befunde an Aussagekraft.Die klinischen Untersuchungen sind je nach Schweregrad bzw. Art der Hirnschädigung und je nach Alter des Patienten nach 12 bis 72 Stunden zu wiederholen.

Erst wenn sämtliche Kriterien, die für eine vollständige und irreversible Hirnschädigung sprechen, erfüllt sind, steht die Hirntoddiagnose mit Sicherheit fest. Gemäß den empfohlenen Richtlinien der Bundesärztekammer müssen zwei Ärzte aus den Fachgebieten Anästhesie, Neurologie oder Neurochirurgie unabhängig voneinander und unabhängig von einem Transplantationsteam die Hirntoddiagnose stellen. Die klinischen und apparativen Untersuchungsergebnisse werden von den beiden untersuchenden Ärzten in einem vorgegebenen Hirntodprotokoll mit Datum und Uhrzeit dokumentiert und aufbewahrt.

2.2.2 Vom Teilhirntod zum Ganzhirntod

Außerhalb der geltenden Hirntoddefinition als irreversibler Ausfall der Gesamtfunktion des Gehirns gibt es Fälle, bei denen es nur zu einem Funktionsverlust bestimmter Hirnbereiche gekommen ist, während andere Teile des Gehirns nachweisbar intakt und funktionstüchtig sind. Man spricht in diesen Fällen „von ‚neurologischen Defekt-Syndromen’ oder ‚pseudo-komatösen Zustandsbildern’“[37]. Solche Krankheitsbilder werden hinsichtlich ihrer Pathophysiologie wie auch ihrer funktionellen und strukturellen Zuordnung zu verschiedenen Symptomen und Hirnarealen unterschieden. Dazu zählen u. a. das appallische Syndrom, das Locked-in-Syndrom und der akinetische Mutismus. Wesentliche Teilhirndefekte sind der Hirnstammtod und der Großhirn- bzw. Hirnrindentod. Vom Hirnstammtod spricht man, wenn bei erhaltener isolierter elektrischer Großhirnaktivität sämtliche Vitalfunktionen des Hirnstamms irreversibel ausgefallen sind. Der Großhirntod bezeichnet demgegenüber den ausschließlichen Funktionsausfall des Großhirns, der den irreversiblen Verlust des qualitativen Bewusstseins markiert. Während nach britischer Regelung der Nachweis des Hirnstammtodes für die Todesfeststellung ausreicht, zeigt sich in Amerika die Tendenz, den menschlichen Tod mit dem Großhirn- bzw. Hirnrindentod gleichzusetzen.[38]

In Anbetracht dieser Fälle entwickelten sich Auffassungen, die den menschlichen Tod bereits im Funktionsausfall von bestimmten Gehirnteilen erblicken. Für Anhänger solcher Teilhirntodtheorien muss demnach nicht das gesamte Gehirn abgestorben sein, um vom Tod des Menschen zu sprechen. Ein alternatives Hirntodkonzept, das sich auf das Teilhirntodkriterium stützt, sei ihrer Ansicht nach die logische Weiterentwicklung des geltenden Hirntodkriteriums, denn auch Vertreter dieses Kriteriums hätten eigentlich indirekt das menschliche Leben nach signifikanten und nicht signifikanten Gehirnleistungen differenziert, indem sie konkrete zelluläre, neurophysiologische und neurovaskuläre Gehirnaktivität als irrelevant für die Todesfeststellung erachten.[39]

Das in der Hauptsache vertretene Teilhirntodkonzept setzt den irreversiblen Verlust hirnvermittelter Bewusstseinsleistungen und kognitiver Fähigkeiten mit dem Tod des Menschen als das Ende seiner personalen und individuellen Existenzweise und Identität gleich.[40] Nach dieser „‚ontologisch[en]’… Definition“[41] des menschlichen Todes sei die Unversehrtheit des Großhirns unabdingbare Voraussetzung für typisch menschliche Eigenschaften wie Wahrnehmen, Empfinden, Denken, Sprache etc..[42] Aus diesem Grund wurde dieses Konzept des Teilhirntodes auch als zerebrale oder kortikale Definition des Todes (cerebral or cortical definition of death) bezeichnet.[43] Da nach heutigen neurobiologischen Erkenntnissen das Großhirn nicht allein an dem Vollzug kognitiver und bewusstseinsrelevanter Leistungen beteiligt ist, wurde später auf eine neuroanatomische Festlegung verzichtet und konsequenterweise statt von einer neokortikalen Todesdefinition nur noch vom Teilhirntod oder higher-brain-oriented definition of death, die den Tod des Menschen im irreversiblen Ausfall höherer Hirnfunktionen sieht, gesprochen.[44]

Eine andere in der Hirntoddiskussion wesentliche Teilhirntodtheorie betont die biologische Bedeutung des Gehirns für die zentrale Integration des Gesamtorganismus. Sie setzt den menschlichen Tod an dem irreversiblen Verlust der Fähigkeit zur Regulation und Integration der Körperfunktionen zu einer übergeordneten Einheit durch die alleinige Zerstörung der im Hirnstamm angesiedelten vegetativen Zentren an.[45]

Vertreter der bewusstseinsorientierten Teilhirntodtheorie lehnen Konzepte, welche die vegetativen Hirnstammleistungen für die Bewertung menschlichen Lebens hervorheben, mit der Begründung ab, dass erhaltene Spontanatmung und Herztätigkeit lediglich Zeichen tierischen, nicht aber menschlichen Lebens seien.[46] Zudem seien spezifisch menschliche Funktionen wie Kognition und Bewusstsein im Gegensatz zu den körperlich integrierenden Hirnfunktionen nicht technisch ersetzbar.[47]

Die Kritik am Großhirn- und Hirnstammkonzept greift bei den von ihnen jeweils unberücksichtigt gelassenen erhaltenen Hirnfunktionen und ihrer einseitigen Ausrichtung auf den personalen oder vitalen Aspekt des menschlichen Todes an. Anhänger des Ganzhirntodkriteriums begegnen diesen Einwänden deshalb mit dem Verweis auf die körperlich-geistige Ganzheit und Einheit des Menschen: „Wir erfahren eine Person/ einen Menschen immer als eine untrennbare Einheit von Körper und Geist beziehungsweise von Leib und Seele. Der Aspekt des Körpers ist also genauso wichtig wie der des Bewußtseins, vielleicht sogar wichtiger, da er dem Bewußtsein vordergründig ist und dieses erst ermöglicht.“[48] Alle konzeptionellen Versuche Menschen aufgrund bestimmter Teilhirndefekte das Leben abzusprechen sind gemäß dieser ganzheitlichen Sichtweise unzulässig und da sie immer entweder nur den leiblichen oder nur den geistigen Aspekt des menschlichen Wesens erfassen, für eine angemessene Todesdefinition ungeeignet: „Ein Mensch im irreversiblen Koma ist nicht tot, mag er auch die Fähigkeit zu bewußtem Erleben und willentlicher Verhaltenssteuerung unwiederbringlich verloren haben. Auch der irreversible Verlust der Integration der Körperfunktionen zu einer Einheit (…) würde nicht ausreichen, einen Menschen tot zu nennen, wenn trotzdem ein weiteres Bewußtseinsleben möglich wäre.“[49] In Deutschland hat sich deshalb keines der beiden Teilhirntodkonzepte durchgesetzt. Mit der von der Bundesärztekammer formulierten „‚biologischen’ (…) Definition“[50] des menschlichen Todes wurden die Definitionen von Großhirntod und Hirnstammtod integriert: „‚Der Tod eines Menschen ist … sein Ende als Organismus in seiner funktionellen Ganzheit’“.[51] „‚Der Organismus als Ganzes endet mit dem Absterben des Gehirns [als das zentrale Steuerungsorgan], das beim Menschen zugleich die unersetzliche physische Voraussetzung seines [personalen] Gefühls- und Geisteslebens ist.’“[52]

2.3 Ebenen des (Hirn)Todes

Die medizinische Todesfeststellung orientiert sich an das Vorliegen sicherer Todeszeichen, die den Eintritt des Todes anzeigen.[53] Aufgrund ihrer begrifflichen Mehrdeutigkeit und vielfältigen Anwendbarkeit[54] wurde zu deren methodischen Explikation zwischen den konzeptionellen Ebenen der Attribution, der Todesdefinition, der Todeskriterien und der diagnostischen Testverfahren unterschieden.[55] Jede untergeordnete Ebene leitet sich aus ihrer hierarchisch übergeordneten Ebene ab, d.h. die Determination der vorherigen Ebene bedingt ihrerseits die der nächsten Ebene.[56] Die „durchgängige Bestimmtheit auf den vier Ebenen [gehört deshalb] zu den Mindestanforderungen an ein akzeptables Todeskonzept“[57].

Auf der Attributionsebene wird das Subjekt des Todes („‚Wer oder was stirbt?’“[58] ), hier der Mensch, festgelegt und das dazugehörige Menschenbild bestimmt[59], um die entsprechende Todesdefinition zu fundieren. Die „abstrakt-philosophische Ebene“[60] der Todesdefinition bzw. „des Todesverständnisses oder Todesbegriffs“[61] („‚Was ist der Tod?’“[62] ) bezieht sich auf das Subjekt des Todes und bezeichnet das Erlöschen der dem Subjekt zugeschriebenen „Definitionsmerkmale“[63]. Mit der Todesdefinition werden automatisch die Kriterien als die notwendigen und hinreichenden Bedingungen zur Bestimmung des menschlichen Todes festgesetzt.[64] Die „naturwissenschaftliche Ebene“[65] des Todeskriteriums bzw. der „‚operationale[n] Definition’“[66] präzisiert die Definitionsmerkmale bzw. klinischen Ausfallsymptome („,Woran läßt sich der Tod erkennen?’“[67] ) die, wenn sie vorliegen, den Eintritt des unumkehrbaren Todeszustandes mit absoluter Gewissheit und objektivierbarer Sicherheit zu erkennen geben.[68] Auf der „medizintechnische[n] Ebene“ der diagnostischen Tests sind medizinische Untersuchungsverfahren anhand des zu bestätigenden Todeskriteriums auszuwählen, die geeignet sind, das Vorliegen bzw. die Erfüllung der zuvor bestimmten Todeskriterien sicher nachzuweisen.[69]

[...]


[1] Hoff/ in der Schmitten, 1994, S. 155

[2] ebenda

[3] ebenda

[4] Reuter, 2001, S. 100

[5] Bavastro, 1996, S. 11

[6] Balkenohl, 1998, S. 51

[7] Oduncu, 1998, S. 152

[8] Kuthen, http:// www.Ipb-bw.de/publikationen/organ/organ9.htm, S. 1

[9] vgl. Oduncu, 1998, S. 182, S. 184

[10] ebenda, S. 146

[11] http://www.freidok.unifreiburg.de/volltexte/4252/pdf/Pompey_Gehirntod_und_totaler_Tod.pdf, S. 9f

[12] vgl. http://www.lexikon.meyers.de/meyers/Tod; vgl. Oduncu, 1998, S. 146

[13] vgl. Oduncu, 1998, S. 146

[14] ebenda

[15] vgl. http://www.schaepp.de/tod/in.html

[16] Kuthen, http://www.Ipb-bw.de/publikationen/organ/organ9.htm, S. 1

[17] vgl. http://www.schaepp.de/tod/in.html

[18] Oduncu, 1998, S. 147

[19] vgl. http://www.schaepp.de/tod/in.html

[20] ebenda

[21] vgl. http://www.corinquietum.de/appetit/hirntod.html

[22] http://homepage.univie.ac.at/Michael.Peintinger/literatur/sa_mrfto.pdf, S. 3

[23] Oduncu, 1998, S. 156

[24] http://homepage.univie.ac.at/Michael.Peintinger/literatur/sa_mrfto.pdf, S. 3, vgl. http://lexikon.meyers.de/meyers/Tod

[25] vgl. http://homepage.univie.ac.at/Michael.Peintinger/literatur/sa_mrfto.pdf, S. 3

[26] Oduncu, 1998, S. 156

[27] vgl. http://www.schaepp.de/tod/in.html, vgl. Oduncu, 1998, S. 146, S. 156

[28] vgl. http://www.lexikon.meyers.de/meyers/Tod, vgl. http://www.schaepp.de/tod/in.html

[29] vgl. http://www.lexikon.meyers.de/meyers/Tod

[30] Reuter, 2001, S. 134, zitiert nach der Bundesärztekammer

[31] ebenda

[32] Reuter, 2001, S. 48

[33] vgl. Reuter, 2001, S. 54

[34] ebenda

[35] Reuter, 2001, S. 48, zitiert nach Pendl

[36] ebenda, S. 48

[37] Oduncu, 1998, S. 79

[38] ebenda, S. 80, S. 81, S. 187

[39] vgl. Vollmann, 2001, S. 52

[40] vgl. Hoff/ in der Schmitten, 1994, S. 164; vgl. Oduncu, 1998, S. 155; vgl. Reuter, 2001, S. 117, S. 152

[41] Birnbacher, 1999, S. 55

[42] vgl. Oduncu, 1998, S. 155, S. 188; vgl. Birnbacher, 1999, S. 55

[43] vgl. Vollmann, 2001, S. 51

[44] ebenda, S. 51f

[45] vgl. Hoff/ in der Schmitten, 1994, S. 165; vgl. Quante, 1999, S. 33f

[46] vgl. Oduncu, 1998, S. 81, zitiert nach Kurthen

[47] vgl. Vollmann, 2001, S. 52, S. 53

[48] Oduncu, 1998, S. 172

[49] Birnbacher, 1994, S. 33f

[50] Birnbacher, 1999, S. 55

[51] Vollmann, 2001, S. 47, zitiert nach der Bundesärztekammer

[52] Reuter, 2001, S. 137, zitiert nach der Bundesärztekammer

[53] vgl. Birnbacher, 1994, S. 29; vgl. Oduncu, 1998, S. 144

[54] vgl. Birnbacher, 1994, S. 29

[55] vgl. Birnbacher, 1994, S. 29; vgl. Oduncu, 1998, S. 144; vgl. Vollmann, 2001, S. 48;

vgl. Kurthen, http:// www.Ipbbw.de/publikationen/organ/organ9.htm, S. 2

[56] vgl. Kurthen, http:// www.Ipbbw.de/publikationen/organ/organ9.htm, S. 2

[57] Kurthen, http:// www.Ipb-bw.de/publikationen/organ/organ9.htm, S. 2

[58] Oduncu, 1998, S. 14

[59] vgl. Vollmann, 2001, S. 48; vgl. Kurthen, http:// www.Ipb-bw.de/publikationen/organ/organ9.htm, S. 2

[60] Oduncu, 1998, S. 144

[61] Hoff/ in der Schmitten, 1994, S. 159

[62] Oduncu, 1998, S. 13

[63] Birnbacher, 1994, S. 29

[64] vgl. Oduncu, 1998, S. 13f, S. 143; vgl. Kurthen, http:// www.Ipb-bw.de/publikationen/organ/organ9.htm, S. 2

[65] Oduncu, 1998, S. 144

[66] Birnbacher, 1994, S. 29

[67] ebenda, S. 13

[68] vgl. Oduncu, 1998, S. 144

[69] vgl. Vollmann, 2001, S. 48

Ende der Leseprobe aus 40 Seiten

Details

Titel
Der Hirntod als der Tod des Menschen
Untertitel
Eine Auseinandersetzung mit der Hirntodproblematik
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Philosophie)
Veranstaltung
Der Tod aus der Sicht der Philosophie
Note
1,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
40
Katalognummer
V140160
ISBN (eBook)
9783640502172
ISBN (Buch)
9783640501953
Dateigröße
556 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Hirntod, Menschen, Eine, Auseinandersetzung, Hirntodproblematik
Arbeit zitieren
Melanie Fischer (Autor:in), 2008, Der Hirntod als der Tod des Menschen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/140160

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