Zur identitätsstiftenden Funktion von Dingen in der neuesten deutschen Gegenwartsliteratur

Eine literaturwissenschaftliche Analyse anhand Peter Bieris "Nachtzug nach Lissabon" und Eleonore Freys "Siebzehn Dinge"


Magisterarbeit, 2007

114 Seiten, Note: 1.0


Leseprobe


INHALT

I. Einleitung
1. Im Bann der Dinge
2. Zielsetzung
3. Einordnung in den Forschungsstand
4. Methodisches Vorgehen

II. Theoretischer Rahmen
1. Dingablehnung versus Dingfeier
2. Dinggeschichte: „Die Geschichte ist ein Zauberspiegel“
3. Martin Heidegger: Das Sein, die Dinge und unzuhandenes Zeug
4. Georg Lukács: Verdinglichung - ein menschliches Fehlverhalten
5. Walter Benjamin: Entzifferbare Dingwelt
6. Zur problematischen Subjekt-Objekt-Dichotomie
7. Zum Einfluss der Dinge auf die menschliche Identität

III. Erzeugte Identität am Beispiel
1. Das Verhältnis von Dingen & Literatur
1.1. Narrative Dingbeschreibung
1.2. Formale Unterschiede der Dingeinbettung
2. Ein Nachtzug nach Lissabon voller Dinge
2.1. Annäherung an einen vermeintlich bekannten Text
2.1.1. Zum Autor Peter Bieri
2.1.2. Alles Einsteigen! Der Nachtzug nach Lissabon fährt ab!
2.2. Prados Buch - ein prägendes Ding
2.2.1. Das Dingverhältnis als Spiegel des Charakters
2.2.2. Ein Buch als Ticket ins Innere
2.3. Kleider machen Leute
2.3.1. Kleidung als Ausdruck der Identität
2.3.2. Gregorius’Kleidung an der Schwelle von Innen und Außen
2.4. Eine Brille bestimmt das Sein
2.4.1. Verzerrende Brillen
2.4.2. Die Unzuhandenheit der Brille
2.4.3. Die Brille im Spannungsfeld von Sicherheit und Irritation
2.4.4. Die neue Sicht der Dinge
2.4.5. Dinge definieren menschliche Beziehungen
2.5. Zwischenergebnisse 1: Zum Stand der Dinge
2.6. Der Spiegel - Gedanken zu einem verknüpfenden Ding
3. Siebzehn Dinge dokumentieren ein Leben
3.1. Annäherung an einen unbekannten Text
3.1.1. Zur Autorin Eleonore Frey
3.1.2. Das Sammeln - ein menschlicher Wesenszug
3.1.3. Nina packt ihre Siebzehn Dinge
3.2. Der Walkman - das krönende 17. Ding
3.2.1. Der Walkman - mehr als nur ein Abspielgerät
3.2.2. Stillstand & Fortschritt: Sinnbild für Ninas Lebensweg
3.2.3. Zum Zusammenhang von Walkman und Körperlichkeit
3.2.4. Der Walkman - Schlüssel in eine andere Welt
3.2.5. Über die Wassermotive: Das Rauschen des Walkmans
3.2.6. Der Sound der Gefühle
3.3. Vier Dinge stellen Nina vor
3.3.1. Der grüne Elefant - ein transitorisches Objekt
3.3.2. Nummer 39 - der Druck der Nummerierung
3.3.3. Nonos Mundharmonika - ein Aufmerksamkeitsinstrument
3.3.4. Das Notizbuch - ein Sammelsurium der Gedanken
3.4. Vier Dinge führen zu Ninas Seelenleben
3.4.1. Ein Schneckenhaus - ein Wunderding
3.4.2. Ninas Blechschachtel - ein androgynes Ding
3.4.3. Die stillstehende Armbanduhr - Vermittlung von Zeit
3.4.4. Ein Tuch zum Brillenputzen - ein universeller Joker
3.5. Vier Dinge spitzen Ninas Lage zu
3.5.1. Der rote Lippenstift - ein Symptom
3.5.2. Der Sturzhelm - Speed & das Risiko
3.5.3. Das Foto der Anna Fo - eine erfolgreiche Projektrealisierung
3.5.4. Ninas Portemonnaie - Sinnbild des Chaos
3.6. Vier Dinge ermöglichen einen Neuanfang
3.6.1. Der Kiesel - ein Talisman
3.6.2. Ninas Wasserflasche - ein Lebensquell
3.6.3. Die seltsame Jerichorose - eine Metamorphose
3.6.4. Eine Postkarte - viele Erinnerungen
3.7. Zwischenergebnisse 2: Der Lauf der Dinge

IV. Schlussgedanken: Dinge zu Ende denken

V. Literatur

I. Einleitung

1. Im Bann der Dinge

Überall sehe ich nun Dinge, immer mehr, unaufhörlich, so weit das Auge reicht.(Roger-Pol Droit)

Die Dinge waren schon immer in der Kunst präsent. In der Malerei erfolgte seit etwa Mitte des 16. Jahrhunderts eine Hinwendung zu den Dingen, die in den bekannten Stillleben des 17. Jahrhunderts ihren Höhepunkt fand. In der Literatur ist diese Entwicklung erst viel später zu verzeichnen.

Im 19. Jahrhundert versuchten Realismus und Naturalismus Wirklichkeitsnähe zu vermitteln, dennoch waren Dinge zumeist nur Staffage. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts finden sich laut Christoph Eykman „beschreibungsintensive Romane, in welchen Dinge [… ] in hohem Maße bedeutungsstiftend sind.“1

Das 21.Jahrhundert scheint das Jahrhundert der Dinge zu werden. Während die Dingwelt der nordamerikanischen Navaho-Indianer nur 2632 Gegenstände umfasste, zählen westliche Gesellschaften heute mehr als 100 000 Objekte. Bernd Guggenbauer beschreibt daher Zivilisation als „Zuvielisatio n “3. Die Innovationsrate, welche die Zahl der Neuerungen pro Zeiteinheit dokumentiert, belegt die höchste Dingproduktion in den letzten vier Jahrzehnten.

Je mehr Dinge eine Epoche verzeichnet, desto höher erscheint das literarische Bedürfnis diese adäquat darzustellen. Das Dingarchiv ist scheinbar ins Unendliche gewachsen und schon lange kann man keinen vollständigen ‚Thesaurus der Dinge’ mehr erstellen. Schon aufgrund dieser Quantität ist es keineswegs erstaunlich, dass Dinge einen erheblichen Einfluss auf die menschliche Identität ausüben. Doch neben der Quantität ist auch eine dingliche Qualität zu verzeichnen, denn Dinge prägen und strukturieren menschliches Sein, sowohl in der Realität als auch in der Literatur.

2. Zielsetzung

In dieser Magisterarbeit stehen nicht nur die Subjekte im Mittelpunkt, sondern vor allem die Dinge, denn „der [rein] anthropologische Diskurs [… ] macht blind“4. Durch eine Fokussierung auf die Subjekte sind die Dinge in literaturwissenschaftlichen Analysen allzu oft außen vorgelassen, dabei üben sie einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf ihre Besitzer aus.

Den Untersuchungszeitraum dieser Arbeit stellt die neueste deutsche Gegenwartsliteratur dar, denn in den Texten von Wilhelm Genazino, Burkhard Spinnen oder der sogenannten Popliteraten, spielen Dinge eine erhebliche Rolle. Bewusst habe ich mich für zwei von der Forschung weitgehend noch nicht interpretierte Texte entschieden, die jedoch als würdige Repräsentanten einer Vielzahl ähnlicher Texte gelten können.

Die ausgewählten Texte Nachtzug nach Lissabon von Peter Bieri, veröffentlicht unter dem Pseudonym Pascal Mercier, und Siebzehn Dinge von Eleonore Frey sind sehr unterschiedlich konzipierte Texte, die dennoch bemerkenswerte Parallelen aufweisen.

Die zwei Hauptfiguren Gregorius und Nina sind Einzelgänger und besitzen nur eine geringe soziale Bindung. Sie unterscheiden sich zwar in Bezug auf Geschlecht und Alter, befinden sich aber beide in einer Phase des Umbruchs und Neuanfangs. Die beiden Protagonisten sind auf der Suche nach ihrer Identität und setzten sich auf der Reise ins Innere immer wieder intensiv mit der äußeren Dingwelt auseinander. Die zeitnahe Erscheinung der beiden Texte sowie deren Verknüpfung der Dingwelt mit den zentralen Themen des Menschseins wie Freundschaft, Liebe und Tod rechtfertigen eine intensive Betrachtung der beiden Texte.

Menschen verfügen nicht nur über Beziehungen untereinander, sondern auch über Relationen, die durch Dinge zustande kommen. Doch Dinge strukturieren nicht nur Beziehungen zwischen Menschen, sondern es besteht von jeher eine ausgeprägte Subjekt-Objekt-Beziehung, die keineswegs nur einseitig vom Subjekt ausgehend ist. Nicht nur wir beeinflussen die Dinge, sondern sie beeinflussen auch maßgeblich uns. Von diesen Vorannahmen lassen sich drei Forschungsziele ableiten:

Erstens rückt diese Analyse die Dinge ins Zentrum und räumt ihnen ihren adäquaten Platz in der Literaturwissenschaft ein, da Literatur schon immer die Aufgabe zukam, den Dingen ihren rechten Platz’zuzuweisen.

Von jeher bestehen Irritationen in der Relation von Dingen und Menschen. Die Trennung von Subjekt und Objekt erscheint durch die zunehmende Existenz von Hybriden5 nicht mehr haltbar und muss folglich neu justiert werden. Aus diesem Grund ist ein Verwachsensein der Protagonisten mit ihren Dingen als zweites Forschungsziel herauszuarbeiten.

Drittens handelt es sich um zwei Texte, die von der Forschung noch nicht berücksichtigt wurden. Aus diesem Grund stellt diese Arbeit weiterhin einen Forschungsbeitrag bezüglich der Erschließung der Texte von Peter Bieri und Eleonore Frey dar.

3. Einordnung in den Forschungsstand

Die Dinge rücken nun auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung vermehrt in den Fokus der Forschung, wie dieser prägnante Überblick der Erscheinungen der letzten zehn Jahre dokumentiert.

Bereits 1997 richtet Gert Selle in Siebensachen. Ein Buch über die Dinge den Blick auf das digitale Zeitalter und fragte, ob jenes eine Bedrohung für die Dinge darstellt. 1999 beleuchtet Christoph Eykman Die geringen Dinge. Alltägliche Gegenstände in der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts.

Ein Jahr später setzen sich die Autoren des Sammelbandes Von Dingen und Menschen. Funktion und Bedeutung materieller Kultur, um die Herausgeber Albrecht Hartmann und Rolf Haubl, mit der Beziehung von Subjekt und Ding am Beispiel konkreter Alltagsgegenstände auseinander. Ein besonderes Augenmerk gilt es auf den Aufsatz Bedingte Emotionen. Über identitätsstiftende Objekt-Beziehungen, der von Rolf Haubl verfasst wurde, zu richten. Ebenfalls im Jahr 2000 erschien der Sammelband UmOrdnungen der Dinge, herausgegeben von Gisela Ecker und Susanne Scholz, in dem die Autoren kulturwissenschaftliche Thesen auf literarische Beispiele beziehen und den Einfluss von Requisiten oder Accessoires herausarbeiten.

Im Jahr 2003 publizierten Buch Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte erläutert Karl-Heinz Kohl mit Hilfe verschiedener Beispiele das Verhältnis von Mensch und Ding aus der Perspektive von Ethnologie und Religionsgeschichte. In Fetischismus und Kultur: Eine andere Theorie der Moderne beschreibt Hartmut Böhme im Jahre 2006 aus historischer Perspektive wie der Fetischismus zu einer der wichtigsten Denkkategorien der europäischen Kultur avancierte.

4. Methodisches Vorgehen

Die vorliegende Arbeit ist dreigeteilt. Den Rahmen bildet im ersten Teil eine

Einordnung der Dingproblematik in einen philosophischen und

kulturwissenschaftlichen Hintergrund. Hierbei ist zu beachten, dass die dargelegten Theorien mehr als einen Werkzeugkasten darstellen. Offenkundig existiert eine natürliche Verwobenheit von Literatur und Theorie, da Literatur zumeist theoretisch vorgeprägt ist.

Der zweite Teil beleuchtet das Subjekt-Objekt-Verhältnis und trägt zur Klärung des Identitätsbegriffs sowie der verwendeten Terminologie bei.

Den größten Part der Arbeit bildet jedoch die literaturwissenschaftliche Analyse der beiden Primärtexte im dritten Teil.

Das erste Kapitel des Theorieteils Dingablehnung-Dingfeier stellt die verschiedenen Möglichkeiten des Dingerlebens vor und wagt einen Ausblick in die Zukunft. Identität ist immer durch historische Erfahrungen bedingt, daher beleuchte ich daraufhin in Dinggeschichte mittels Sigfried Gideon, Norbert Elias und Christoph Asendorf wie Dinge als Träger von historischen Erfahrungen auftreten und einen Bogen von Vergangenheit über Gegenwart in die Zukunft spannen.

Im Anschluss beschreibe ich anhand der berühmten Zeuganalyse Martin Heideggers in Das Sein, die Dinge und unzuhandenes Zeug den Zustand der ‚Unzuhandenhe i t , der in den Textbeispielen immer wieder zu finden ist.

Daraufhin ist in Verdinglichung - ein menschliches Fehlverhalten mit Hilfe von Georg Lukács Verdinglichungstheorie, das ‚Zum-Ding-werden’von Menschen zu erläutern, welches in Siebzehn Dinge von zentraler Bedeutung ist.

Abgerundet wird dieser theoretische Teil durch Walter Benjamins Blick auf die kleinen Dinge des Alltags. Auch dessen Auseinandersetzung mit dem kindlichen Blick auf die Welt sowie sein berühmter Begriff der ‚Aura’ stehen im Kapitel Entzifferbare Dingwelt im Vordergrund.

Der zweite Teil beleuchtet einerseits die Spannungen der Subjekt- und Objekt- Dichotomie, andererseits die Frage nach dem Verhältnis von Ding und Identität. Die Frage was ein ‚Ding’ausmacht und ob diese Zweiteilung allen Phänomen gerecht wird, stehen im Fokus des Kapitels Zur problematischen Subjekt-Objekt-Dichotomie. In dem Kapitel Zum Einfluss der Dinge auf die menschliche Identität erfolgt eine Einordnung des dieser Arbeit zugrunde liegenden Identitätsbegriffs sowie ein Überblick, auf welche Art Dinge die Identität ihrer Besitzer beeinflussen können.

So stellt der Psychologe Tilmann Habermas heraus, dass „Identitätsfindung und Identitätsreorganisatio n “6 maßgeblich durch Dinge geprägt sind. Den Identitätsbegriff selbst verwende ich in Anlehnung an Erik Erikson s Ich-Identitä t . Der dritte Teil beschreibt den Lauf der Dinge anhand literarischer Textbeispiele. Das Kapitel Narrative Dingbeschreibung erläutert hinführend die Möglichkeiten der Narration biographischer Dingerlebnisse.

Das hierauf folgende Kapitel Formale Unterschiede der Dingeinbettung zeigt die formalen Unterschiede und die differenzierte Dingintegration auf. Nach diesen zwei Übergangskapiteln untersuche ich den Dingumgang der Hauptfiguren zunächst in Peter Bieris Nachtzug nach Lissabon und im Anschluss in Eleonore Freys Siebzehn Dinge. Zwischen beiden Analysen ermöglicht die Auseinandersetzung mit dem besonderen Ding Spiegel’im Kapitel Der Spiegel - Gedanken zu einem verknüpfenden Ding einen nahtlosen Übergang. Ferner gestattet ein kurzer Exkurs über das Phänomen des Sammelns im Kapitel Das Sammeln - ein menschlicher Wesenszug den genaueren Blick für Ninas außergewöhnliche Sammlung.

Aufgrund des neueren Erscheinungsdatums existiert zu keinem der beiden ausgewählten Primärtexte Forschungsliteratur, daher greife ich auf Rezensionen in Zeitungen, Zeitschriften und auch im Internet zurück und verknüpfe diese mit eigenen Interpretationsansätzen. Beide Texte untersuche ich nach verbindenden Motiven und Strukturen. Im Fokus meiner Analyse steht stets die Frage, wie sich der Dingumgang gestaltet und nach welchem Muster die beschriebenen Objekte die Identität ihrer Nutzer beeinflussen. Doch nun genug der Vorworte und rein in die spannende Dingwelt!

II. Theoretischer Rahmen

1. Dingablehnung versus Dingfeier

Ich sehe eine Mischung

von höchster Vertrautheit und beunruhigender Fremdheit. (Roger-Pol Droit)

Dieses Zitat von Roger-Pol Droit bringt die Zwiespältigkeit des Verhältnisses von Mensch und Ding pointiert zum Ausdruck. Einerseits werden Dinge von verängstigten Zeitgenossen als fremdartig, tyrannisch oder als Bedrohung empfunden, andererseits lässt sich auch eine tiefe Vertrautheit mit der Dingwelt beobachten. Weiterhin wächst gerade bei philosophischen Vertretern die Forderung nach einer Erklärung der ‚Dingrecht

In den kleinen Dingen gelangen somit die großen Probleme der Welt ans Licht. Bei vielen Menschen entsteht ein Unbehagen aufgrund der wachsenden Macht der Dinge. Die Widerspenstigkeit tritt in Situationen zutage, in denen Dinge ihren Dienst verweigern. Die „Tücke des Objekte s “7, wie die zerstörte Brille im Roman Nachtzug nach Lissabon oder die stehen bleibende Armbanduhr in Siebzehn Dinge, gehört zur negativen Alltagserfahrung.

Erhart Kästner beschreibt die Eventualität eines Generalstreiks der Dinge.8 Die Folgen solch einer Revolution der Dinge sind kaum vorzustellen. Unsere gesamte Welt scheine zusammenzubrechen, wenn alle Computer, Telefone, Fernseher, Kugelschreiber oder Bleistifte ihren Dienst quittieren würden. Diesen Gedanken entwickelt der Philosoph Michel Serres weiter und hält fest: „Die Sklaven schlafen nie lange.“9

Doch erwarten wir Menschen nicht auch zuviel von den Dingen? Dinge sind, wie Menschen, nicht perfekt und dennoch ärgert man sich immens, wenn sie nicht funktionieren. „Darin, dass das Ding etwas ist, das in einen Erwartungszusammenhang sich stellt, liegt es begründet, dass man hinsichtlich seiner Enttäuschungen erleben kann“10, analysiert Albert Grote.

Auf der anderen Seite findet ein emphatisches Erleben der Dingwelt in Form einer regelrechten Dingverehrung statt. Diese positive Wahrnehmung der Dinge in der Literatur des 20. Jahrhunderts prägte maßgeblich der Dichter Rainer Maria Rilke. Dessen Neue Gedichte11, die Bernhard Blume als „Dinggedichte “12 charakterisiert, sind Neukonstitutionen der Dinglichkeit, da sie Dinge der Alltagswelt poetisieren.

Die Verehrung von Fetischen ist die intensivste menschliche Verbindung zur Dingwelt. Der Begriff ‚Fetisc h ’von portugiesisch ‚feiti ç o ’und lat. ‚facitiu s ’ bedeutet ‚zauberisch künstlich hergestellt’. Dieser Ausdruck reicht in die Kolonialzeit auf Charles de Brosses zurück, der diesen Begriff zur Bezeichnung von kultischen sowie vorreligiösen Riten nutzte. Ein Fetisch ist demnach mit Bedeutung und Magie aufgeladen.

Dies lässt sich auf das Beispiel des zauberischen Kieselsteins in Siebzehn Dinge anwenden. Die Protagonistin glaubt dem Kieselstein wohne eine besondere Kraft inne, die sich auf sie überträgt und ihren Genesungsprozess unterstützt.

Der höchst ambivalente Fetischbegriff vermengte eine religiöse, ökonomische und sexuelle Komponente. Heute ist der Terminus primär sexualpathologischen Bedeutungen unterworfen. Während der Fetisch in solchen Fällen für eine andere Person steht, werden bei der Variante der „Objektophilie“13 Menschen von Dingen gar direkt sexuell angezogen.

Es bestehen also durchaus enge Verbindungen zwischen Mensch und Ding, dennoch missinterpretiert der Mensch häufig die Dinge, da die Kommunikation (bisher) einseitig verläuft. Dinge sprechen uns (noch) nicht direkt an. Jedoch haben sie allein durch ihre Präsenz eine Aussagekraft, die aber nicht immer eindeutig dechiffriert werden kann: „Was die Dinge sagen und was sie nicht sagen, ist in den schnellen Fliehmomenten ihres Auftretens nicht klar zu unterscheiden “14, beklagt der Literat Wilhelm Genazino.

Die Entschlüsselung der Dingsprache wird vermutlich bald möglich sein, denn intelligente Dinge sind bereits geplant und könnten in einigen Jahren Realität sein.

Die Frage warum Dinge denken lernen sollten, begründet Neil Gershenfeld, einer der renommierten Forscher des Massachusetts Institute of Technology15: „Weil die Rechte der Menschen regelmäßig von Maschinen ausgehöhlt werden - und umgekehrt. “16 Die Welt benötigt demzufolge nicht nur eine Erklärung der Menschenrechte, sondern auch der ‚Dingrechte Im ersten Moment erscheint diese Forderung absurd, doch Gershenfeld ist damit nicht allein. Auch Literaten wie Roger-Pol Droit ( „Es wäre Zeit für eine allgemeine Erklärung der Ding- und Objektrechte. Auf jeden Fall ist es Zeit, andere Wege zu suchen.“17 ) oder Philosophen wie Bruno Latour ( „Nicht-menschliche Wesen sind frei geboren, doch überall liegen sie in Ketten. “18 ) stimmen dem zu.

Der Philosoph Michel Serres macht darauf aufmerksam, „wenn die Objekte selbst zu Rechtssubjekten werden, dann neigen sich alle Waagschalen der Gleichgewichtsposition zu“19.

Diese Forderungen bleiben jedoch keineswegs einseitig, sondern erfordern gleichzeitig menschliche Benutzerrechte, denn „[Menschen] haben ein Recht darauf, Technologie benutzen zu dürfen, ohne sich ihren Zwängen zu unterwerfe n “20, hebt Gershenfeld weiter hervor. Nie wieder bockige Computer oder feststeckende Fahrzüge. Welch’schöne Utopie, mag man hier selbst anmerken.

Doch wie können diese Dingrechte bzw. Benutzerrechte realisiert werden? „Indem wir Systeme aus Menschen und Dingen bilden, um schwierige Probleme zu meistern“21, so Gershenfelds Lösungsansatz.

Menschen und Dinge sollten also nicht gegeneinander arbeiten, sondern miteinander. Dieser Ansatz steht Bruno Latours Begriff eines ‚Netzes’sehr nahe, den ich im Subjekt- Objekt Kapitel detaillierter erläutere. Nach diesem kurzen Ausblick in die mögliche Zukunft der Dinge gilt es den Blick nun zeitlich zurück auf die historische Funktion der Dinge zu richten.

2. Dinggeschichte: „Die Geschichte ist ein Zauberspiegel“

Die Veränderung der Gesellschaft im Laufe der Zeit ließe22 sich auch anhand einer Dinggeschichte erzählen. Dinge zeugen von kulturellen und sozialen Veränderungen und treten auch als deren Auslöser auf. Identität generiert sich stets aus solchen historischen Erfahrungen. Erstaunlicherweise beginnt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der historischen Funktion von Dingen erst im 20. Jahrhundert.

Im Topos23 der Welt als Bühne stellen die Dinge, Erving Goffman zufolge, das Bühnenbild.24 „Die Dinge bedeuten nicht das, was sie zu vorstellen scheinen, die Funktion ist hinter der Dekoration schwer aufzufinden“25, beklagt Christoph Asendorf. Dinge schauspielern und ihre Rolle ist nicht immer klar ersichtlich.

Daher plädiert der Architekturhistoriker Sigfried Gideon (1888-1968) für eine Geschichtsschreibung, die sich vermehrt den Objekten zuwendet. „Für die Historiker gibt es keine banalen Dinge. Er darf [...] nichts als selbstverständlich hinnehmen.“26 Den Hauptteil der Dingwelt bilden kleine Alltagsdinge, wie Haarnadeln, Wäsche- und Büroklammern, die tausendfach jeden Haushalt bevölkern. Schätzungsweise über 10.00027 Dinge verfügt ein durchschnittlicher westlicher Haushalt.

„Diese kleinen Dinge des täglichen Lebens akkumulieren sich zu Gewalten, die jeden erfassen, der sich im Umkreis unserer Zivilisation bewegt“28, erkennt und beschreibt Gideon einen Zusammenhang von Ding und Zivilisation.

Auf diesen Umstand verweist auch der Soziologe Norbert Elias, der sich intensiv mit den Begriffen Kultur’und ‚Zivilisatio n ’beschäftigte. Elias versteht Dinggeschichte als Teil des Zivilisationsprozesses. So beleuchtet Elias die zivilisatorischen Umbrüche des Mittelalters anhand des Gebrauchs von Messer und Gabel: „Auch das Messer ist, der Art seines gesellschaftlichen Gebrauchs nach, Inkarnat der „Seelen“, ihrer veränderten Triebe und Wünsche, Verkörperung geschichtlicher Situationen und gesellschaftlicher Aufbaugesetze.“29 Eine gesellschaftliche Fortentwicklung

manifestiere sich durch die Funktion und Verwendung dieser Dinge. Elias fragt auch nach der Ächtung des Essens mit den Händen. Warum wurde dies nach der Entwicklung des Bestecks als barbarisch oder unzivilisiert erachtet, stellt Elias durchaus interessante Überlegungen an.30

An den Dingen haftet eine normative Aufforderung sie zu benutzen.31 Eine gesellschaftliche Norm etabliert sich durch die bloße Dingexistenz. Dinge geben daher Auskunft über die Veränderungen der Lebensweise. Aus diesem Grund tritt Gert Selle für eine „Theorie der historischen Verankerung des Lebens durch die Dinge“32 ein.

Sigfried Gideon spannt den Bogen von der Vergangenheit bis in die Zukunft und schlussfolgert, dass „eine Zeit, die das Gedächtnis für die Dinge, die ihr Leben formen, verloren hat, weiß nicht, wo sie steht, und noch weniger, was sie will.“33 Diese Dingvergessenheit prangert auch Martin Heidegger an, dessen berühmte Zeuganalyse die ‚vorhandenen Dinge’bzw. ‚unzuhandenes Zeug’in den Mittelpunkt rückt.

3. Martin Heidegger: Das Sein, die Dinge und unzuhandenes Zeug

Dinge sind <in> der Zeit [...]. Man möchte so in der Zeit ruhen wie die Dinge. (Martin Heidegger)

Martin Heideggers (1889-1976) frühe Schaffensperiode hatte ihren Höhepunkt in der Veröffentlichung von Sein und Zeit im Jahre 1927.34 Das Fragment gilt als eines der bedeutsamsten philosophischen Werke des 20. Jahrhunderts. Heidegger kreierte hierin einen eigenen Wortschatz, um sich von den etablierten Denkschemen der herkömmlichen Philosophie zu lösen.

Er versucht Erkennen un d Sei n ’aus dem alltäglichen Dasei n ’heraus zu begreifen. Der zentrale Grundgedanke ist, dass die Menschen schon bevor sie erkennen, bereits handelnd und verstehend in die Welt integriert sind.

Die Aufdeckung dieses vorphilosophischen Verständnisses strebt Heidegger durch Analyse der ‚Seinscharaktere des Dasein35 an.

Heidegger stellt also die emphatische Frage nach dem „Sinn von Sei n “36. Das Dingproblem, er nutzt einen anderen Dingbegriff als die traditionelle Ontologie, ist zentral in Sein und Zeit. Heidegger beschreibt zunächst die ‚Vorhandenheit’, die sich auf das Wesen und die Materialität eines Gegenstandes bezieht und ordnet diese den ‚Dingen’ zu.

Die zweite Kategorie der ‚Zuhandenheit’ bezieht sich auf das ‚Um-z u , auf den Zweck von ‚Zeug.37 Während vorhandene Dinge das erkennende Bewusstsein ansprechen, bezieht sich Zeug auf eine Tätigkeit. Doch Zeug entzieht sich auch seiner zugedachten Verwendung und wird in Störfällen unzuhanden Aufmerksamkeit erregt unbrauchbares bzw. kaputtes Zeug welches, wie beispielsweise die zerbrochene Brille in Nachtzug nach Lissabon, nach Heideggers Definition ‚auffälli g ’wird.

‚Aufdringlich’ist beispielsweise der dringend benötigte Schlüssel, der nicht an seinem gewohnten Platz zu finden ist. Der dritte Modus der ‚Aufsässigkeit’38 dient zur Beschreibung von störrischem und tückischem Zeug, welches im Weg liegt und so unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Im 1950 erschienen Aufsatz Das Ding39 beleuchtet Heidegger die Begriffsgeschichte des Dings in der Philosophie, welche Aufschluss über den seinsgeschichtlichen Zustand gibt. ‚Seins-Vergessenheit’ zeige sich primär in dem Umgang der Menschen mit den Dingen. Heidegger verweist darauf, dass Menschen nicht mehr wissen wie die Dinge eigentlich sind. Die Nähe zu den Dingen sei verloren und somit sei auch die Nähe zum ‚Sei n ’eingebüßt.

Die neuzeitliche Technik zeige, gemäß Heidegger, die jüngste Stufe dieser Seins- Vergessenheit. Seins-Vergessenheit setzt der Philosoph daher mit Ding-Vergessenheit gleich.

Während Heidegger die Vergessenheit der Dinge anprangert, kritisiert Georg Lukács hingegen die Ignoranz gegenüber menschlichen Eigenschaften in Form einer ‚Verdinglichung’der Menschen.

4. Georg Lukács: Verdinglichung - ein menschliches Fehlverhalten

Zwischen 1920 und 1930 war ‚Verdinglichung’ eine der Leitvokabeln der Sozial- und Kulturkritik. In dem Aufsatz Die Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats aus dem Essayband Geschichte und Klassenbewusstsein vereinigt der ungarische Philosoph Georg Lukács (1885-1971) die Einflüsse von Max Weber und Karl Marx. Lukács stellt eine kritische Gegenwartsdiagnose und verweist darauf, dass Rationalisierung und Arbeitsteilung zur Verdinglichung des Menschen führen.

Unter Verdinglichung ist ein menschliches Verhalten zu verstehen, welches gegen jegliche ethischen Prinzipien verstößt. Menschen werden hierbei wie leblose Gegenstände behandelt. Laut Lukács ist dieses Fehlverhalten „immer tiefer, schicksalhafter und konstitutiver in das Bewusstsein des Menschen “40 eingedrungen. Rüdiger Dannemann zeigt auf, dass Verdinglichung für Lukács das „Stigma der modernen, kapitalistischen Gesellschaft“41 ist.

Hartmut Böhme beschreibt die Fließbandfertigung als „Ding-Mensch- Ensemble“42. Als schwärzeste historische Epoche nennt der Philosoph Günter Anders den Nationalsozialismus: „Die Verwandlung des Menschen in Rohstoff hat wohl [… ] in Auschwitz begonnen“43, in der das „Auf-reine-Quantität-Reduziertsein“44 seine perfideste und unsagbarste Form entfaltete. Durch menschenunwürdige Arbeitsbedingungen, sei es in afrikanischen Minen oder chinesischen Fabriken, werden Menschen heute noch wie Dinge behandelt. Auch Menschenhandel bzw. Prostitution stellen Extremformen der Verdinglichung dar.

Darüber hinaus besteht das Phänomen der ‚Selbstverdinglichung’. Im zweiten literarischen Beispiel Siebzehn Dinge wird die Protagonistin Nina aus eigenem Antrieb zum Walkman. Für den Philosophen Günther Anders entsteht Selbstverdinglichung bereits durch das Auftragen von Make-up, mittels dessen sich Frauen „in Dinge, in Kunstgewerbegegenstände, in Fertigwaren“45 verwandeln. [Hv. im Original] Nina nutzt in Siebzehn Dinge den Lippenstift, um anderen zu gefallen und selbstverdinglicht sich somit nach Günther Anders Definition. Der Soziologe Axel Honneth stellt die Prognose auf, dass personale Verdinglichung weiter zunehmen wird.46 So verweist Honneth auf die Selbstdarstellung im Bewerbungsgespräch, in der auch ein „Zur-Ware-werden“47 zu beobachten sei. Verdinglichung ist somit der Antipode zum Anthropomorphismus. Das Erkennen solcher Phänomene bedarf des Blicks auch auf die kleinen Dinge, ganz so wie es Walter Benjamin forderte.

5. Walter Benjamin: Entzifferbare Dingwelt

Walter Benjamin (1892-1940) beschäftigte sich in zahlreichen Texten mit der Dingwelt. Dinge nehmen eine zentrale Position im fragmentarischen Passagenwerk ein, welches von immenser Bedeutung innerhalb Benjamins kurzer Schaffenszeit ist. Benjamin strebte hierin die Konzeption einer umfassenden materiellen Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts an. Hierfür verfasste er prägnante Gedanken, beispielsweise über dingliche Themen, wie Assoziationen über Warenhäuser, Mode, Sammler oder Interieur, welche nicht immer eine eindeutige Verknüpfung untereinander aufweisen.

Der Begriff ‚Passage’ bezeichnet einerseits eine Art Einkaufszentrum, andererseits symbolisiert er den Übergangscharakter des 19. Jahrhunderts. Die Passagenwelt offenbart sich als eine verzauberte Welt, was sich im spannungsvollen Warenarrangement widerspiegelt.

Benjamin kritisiert das allzu schnelle Veraltern der Ware, denn „je kurzlebiger eine Zeit, desto mehr ist sie an der Mode ausgerichtet“48. Auch die Hauptfigur Gregorius setzt sich in Nachtzug nach Lissabon mit den Zwängen der Mode auseinander. Aufgrund einer neuen Brille sieht er sich gezwungen, hierzu passende Kleidung zu erwerben, wobei er neunzehn Jahre lang kein Kleidergeschäft betreten hat.

Weiterhin prägte Benjamin den Begriff der ‚Aura’. In Zeiten der Massenproduktion und Reproduktion verlieren die unzähligen Kopien ihre Aura, die Benjamin als „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“49 definiert.

Die Individualität ihrer Besitztümer sowie deren Aura fasziniert auch Nina in Siebzehn Dinge. Jedes Ding ist für sie ein unverzichtbarer Teil ihres Lebens. In den Skizzen und Aphorismen der Einbahnstraße schildert Benjamin das kindliche Dingverhältnis. So heißt es unter Baustelle50:

In Abfallprodukten erkennen sie dann das Gesicht, das die Dingwelt gerade ihnen, ihnen allein zukehrt. [...] Kinder bilden sich damit ihre Dingwelt, eine kleine in der großen, selbst.

Auch Gregorius entnimmt zweimal in Nachtzug nach Lissabon Dinge dem Abfall. Zunächst errettet er einen Schwarzweißfernseher und später holt er weggeworfene Kleidung aus dem Müll zurück.

Wie ein Ding aus dem Abfall zum Spiegelbild der Seele werden kann, zeigt das u.a. Beispiel des Lappens in Siebzehn Dinge. Nina entwendet Teile ihrer Dingsammlung dem Müll.

Das Motiv51 eines solchen unbewussten Sammelns greift Benjamin in seiner Beschreibung Unordentliches Kind52 auf:

Jeder Stein, den es findet, jede gepflückte Blume und jeder gefangne Schmetterling ist ihm schon Anfang einer Sammlung, und alles, was es überhaupt besitzt, macht ihm eine einzige Sammlung aus.[...] Es jagt die Geister, deren Spuren es in den Dingen wittert [...].

Die Dinge scheinen analog dazu auch Nina zuzufallen, denn sie sammelt auf kindliche Art und Weise und eine Systematik ist nicht zu erkennen. In dieser Hinsicht ähnelt Nina dem Kind in Benjamins Beschreibung.

Benjamin macht seine Beobachtungen an kleinen Dingen fest und folgt dem Ansatz der ‚Physiognomik ’.53 Äußerlichkeiten versteht dieser Ansatz als Spiegel des Innenlebens. Die Bedeutung des Blicks ins Innere beschreibt Benjamin sehr anschaulich am Beispiel eines scheinbar riesenhaften Buffets.54 Die geheimnisvolle Welt innerhalb des riesigen Schranks rege des Kindes natürliche Neugierde und Phantasie an.

Den Blick richtet Benjamin vom Kleinen aufs Große, vom scheinbar Unbedeutenden zum Bedeutenden. Dinge sind für Benjamin nicht nur abstrakte Zeichen, sondern sind an der Konstruktion des Lebens direkt beteiligt.

Die Dingwelt lässt sich dechiffrieren und wird lesbar wie ein Text. In diese geheimnisvolle Welt der Dinge gilt es einzutauchen, denn der Blick auf die dingliche Außenwelt ermöglicht Einblicke in das innere Seelenleben.

6. Zur problematischen Subjekt-Objekt-Dichotomie

Hinter der Wissenschaft die Dinge spüren und verehren, auf die es eigentlich ankommt und über die schwer zu sprechen ist. (Werner Heisenberg)

Das Verhältnis von Mensch und Ding bzw. zwischen belebter und unbelebter Materie befindet sich seit jeher im Fokus der Wissenschaft. Die scheinbar unüberwindliche Trennung der Subjekt-Objekt-Dichotomie steht inzwischen auf dem Prüfstand. ‚Subjekt’stammt vom lateinischen ‚subiectum’ und bedeutet ‚das Zugrundeliegend Der französische Philosoph René Descartes (1556-1650) gilt als Gründungsvater der modernen Subjekt-Philosophie. Die Kategorie des Subjekts ist klar umrissen, doch die Objekt Kategorie bereitet immer wieder Probleme.

Im Roman Glennkill von Leonie Swann stellen Schafe, die den Mord an ihrem Schäfer aufdecken wollen, die entscheidende Frage: „Was ist ein Ding? “55 Diese schwierige Frage ist selbst für clevere Schafe nicht ohne weiteres zu beantworten. Jedoch schreiben sie einem Ding folgende Eigenschaften zu: „Es ist beschämend. [… ] Es ist skandalös. [… ] Es ist würdelos. [… ] Es ist dumm. Es ist menschlich.“56 [Hv. M.S.]

Tiere haben kein Bedürfnis nach Dingen, auch wenn Hundebesitzer, die ihre Tiere mit Schleifchen verzieren, wohl anderer Meinung sind. Nur die „Menschen hängen an den Dingen. Die Dinge hängen an den Menschen. Wir werden den Mörder finden, wenn wir die Dinge genau beobachten“57, schlussfolgern die gewitzten Schafe und bezeichnen den entscheidenden Hinweis zur Überführung des Mörders, konsequent als „Menschending“58. Doch was ist die etymologische Bedeutung dieses Begriffs?? Der Begriff ‚Ding’von mittelhochdeutsch ‚dinc’geht auf das altsächsische ‚thing ’zurück.59 Dieser Terminus bezeichnete eine Rede, ein Gespräch bzw. eine Versammlung.

Eine Bedeutungsverschiebung von der sozialen in die sachliche Sphäre war im Laufe der Zeit zu verzeichnen.

Das lateinische Partizip Perfekt ‚obiectu m ’ meint ‚das Entgegengeworfe n e . Seit dem 18. Jahrhundert gebraucht man synonym auch ‚Gegenstand’. Das ‚Objekt’ bzw. der ‚Gegenstand’stehen somit dem ‚Subjekt’entgegen.

„Sofern der Gegenstand etwas der Person Äußerliches, Entgegengesetzes und Eigenständiges ist, handelt es sich um eine Beziehung des Widerstand s “60, fasst KarlHeinz Kohl zusammen.

Auch der Begriff ‚Sac h e , welcher vom gotischen ‚sakan’für ‚streite n ’stammt, wird gleichbedeutend verwendet.61 Dieser Begriff wandelt sich vom Akt des Streitens zur Streitsache selbst. Gemeinsam ist allen Termini der Anspruch eine res publica zu sein. Das Ding ist und war immer ein öffentliches Gut und die Öffentlichkeit stets durch Dinge geprägt.

Seit langer Zeit existiert die künstliche Trennung zwischen Subjekt und Objekt. Doch wo verläuft die Grenze? „Ist die Luft ein Ding? Ist ein Ding notwendigerweise ein fester Körper?“62, stellt Roger-Pol Droit zentrale Fragen.

In der Wissenschaft wurden Objektbeziehungen bereits vielfach analysiert. So untersuchte der Entwicklungspsychologe Jean Piaget (1896-1980) wie Kinder den Umgang mit Objekten erlernen. Diese verfügen über eine spezielle Relation zur Dingwelt, denn im kindlichen Spiel existiert keine ausgeprägte Differenzierung zwischen dem Unbelebten und dem Belebten, daher können sich Kinder stundenlang mit unbelebten Dingen beschäftigen. „[Kinder] haben jenen Schritt noch nicht vollzogen, der die Welt in lebende und tote Objekte einteilt“63, hebt Hartmut Böhme hervor.

Der Soziologe Bruno Latour arbeitet drei zentrale Verhaltensmuster innerhalb der Wissenschaften heraus. Die erste Gruppe versucht die Ausgewogenheit zwischen Subjekt und Objekt zu erreichen. Jedoch scheitert dieser Versuch und die Pole driften stets weiter auseinander. Der zweite Ansatz des ‚linguistic tu r n ’hingegen analysiert primär den Bereich der Mitte, repräsentiert durch das Medium Sprache. Doch diese Wende zum Immateriellen scheitert ebenfalls.

Die dritte Richtung, zu der sich Latour zählt, „isoliert den Gedanken des Seins und verwirft die ganze Trennung“64. Er begründet diese Verwerfung vor allem aufgrund der Existenz von ‚Hybriden.65 Hierbei handelt es sich um Mischwesen, welche sich weder als Subjekte noch als Objekte verorten lassen. Als Beispiel nennt Latour das Ozonloch, welches ein Phänomen in der Natur ist, aber durch den Menschen erzeugt wurde.

Unabhängig davon wie man diese Phänomene bezeichnet, ob als ‚Hybri d e ’oder ‚Objektsubje k t66, sie verweisen allesamt auf den Problemcharakter der dichotomen Einteilung. Die Grenzen zwischen den Kategorien sind, wie bereits erwähnt, fließend.

Daher bezeichnet Latour Subjekt und Objekt als „polemische Begriffe“67

Die problematische Einordnung sowie die Existenz von Mischformen zeigen die Unzulänglichkeit der Subjekt-Objekt-Dichotomie auf.

Latour verweist auf ‚Netze68, welche die zwei Pole miteinander verstricken. Latour stellt fest, dass sie sich gegenseitig bedingen und beeinflussen: „Denn sie wurden zusammen geschaffen. Sie halten sich gegenseitig.“69 Wie Ying und Yang gehören sie untrennbar zusammen und bilden eine Einheit.

Gert Selle fragt daher, ob eine intime Identität von Mensch und Ding existiert und ob beide gar wie „siamesische Zwillinge“70 miteinander verwachsen seien. Festzuhalten bleibt, dass das Denken in Kategorien zwar hilft die komplexe Welt zu strukturieren, doch viele Phänomene nicht mehr eindeutig zuzuordnen sind. Das Verwachsensein von Mensch und Ding offenbart sich in beiden untersuchten Primärtexten und beeinflusst direkt die Identitätsbildung der literarischen Figuren.

7. Zum Einfluss der Dinge auf die menschliche Identität

Getrieben wird der Mensch seit jeher von der Frage nach dem Sinn. Wer bin ich und was unterscheidet mich von anderen? So lautet nur eine der zahlreichen Fragen, die sich wohl jeder schon mindestens einmal im Leben gestellt hat. Der Wunsch nach Einzigartigkeit ist tief im menschlichen Bewusstsein verwurzelt.

Die Suche nach ‚Identitä t ’ wird daher in literarischen Werken immer wieder aufgegriffen und ist auch heute ein Modethema. Man denke nur an die zahlreiche Ratgeberliteratur für Identitätssuchende.71

‚Identitä t ’ist ein vielschichtiger Begriff und wird sowohl in Bezug auf Kultur, Ethnie, Nation als auch Religion gebraucht. Firmen nutzen den Begriff der ‚Corporate Identity ’ im Sinne von Image. Im Alltagsgebrauch versteht man unter Identität konkrete Identifikationsmerkmale einer Person wie Name, Geburtsdatum, Geburtsort, Wohnort sowie physische Beschreibungen wie Größe oder Augenfarbe. Der französische Soziologe Jean-Claude Kaufmann versteht Identität als einen „historisch bedingte[n],unablösbar mit der Moderne verbundene[n] Prozess“72.

In der Wissenschaft unterscheidet man zwischen philosophischen und sozialpsychologischen Identitätsbegriffen. Diese Arbeit folgt dem sozialpsychologischen, genauer dem psychoanalytischen Ansatz Erik Eriksons, auf den ich nachfolgend noch näher eingehen werde. Individualidentität im Gegensatz zur umstrittenen Kollektividentität steht im Fokus meiner Analyse.73

Der Psychologe William James führte 1890 die Unterscheidung von ‚Selbst’ und ‚sozialem Selbst’ ein. James Hauptthese besagt, dass das Bewusstsein aus Erfahrungen resultiert, welche im Umgang mit sozialen und sächlichen Gegenständen erworben werden. George Mead entwickelte James Ansatz weiter und in der Übersetzung seiner Texte wurde ‚Selbst’ erstmals mit ‚Identität’ übersetzt. Heute divergieren psychologische und soziologische Identitätsbegriffe und Identitätstheorien. Es existiert keine allgemein gültige Definition von Identität.74

Identität ist „eine komplexe Eigenschaft, die die Personen von einem gewissen Lebensalter an erwerben können“75, so der Minimalkonsens auf den sich die verschiedenen Schulen einigen können.

Erik H. Erikson (1902-1994) folgte einer psychoanalytischen Betrachtungsweise und prägte den Begriff der ‚Ich-Identitä t . Dieser Begriff bezeichnet einen „Zuwachs an Persönlichkeitsreife [… ], den das Individuum am Ende der Adoleszenz der Fülle seiner Kindheitserfahrungen entnommen haben muss, um für die Aufgaben des Erwachsenenlebens gerüstet zu sein “76. Identitätswahrnehmung beruht Erikson zufolge, der ein 8 Stufen Modell entwickelte, auf „der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit.“77. Hierunter versteht Erikson, dass man trotz Veränderung und Wandelbarkeit seines Ichs das Gefühl hat, sich treu geblieben zu sein. Gefühl ist bei Erikson ein wichtiger Terminus, da der Psychologe sich auf „ein Gefühl der Identitä t “78 beruft. Identität ist ein „selbstreflexiver Prozess“79, denn jeder Mensch sinniert immer wieder über das eigene Ich.

So fragt sich im literarischen Beispiel Gregorius in Nachtzug nach Lissabon, ob er noch derselbe Mensch sei. In Siebzehn Dinge denkt Nina immer wieder über ihr eigenes Ich nach und darüber was sie eigentlich ausmacht.

Für Eriksons Ansatz spricht, dass er biologische Rahmenbedingungen mit kognitiven, sozialen und psychischen Erfahrungen kombiniert. Identität ist eben nicht von Geburt an vorhanden, sondern entwickelt sich Schritt für Schritt. Sein Stufenmodell ist teilweise umstritten, gibt aber dennoch einen fruchtbaren strukturellen Rahmen vor.80 Autonomie und Selbstwertgefühl sind notwendige Bestandteile für die Bildung von Identität, die sich im Spannungsfeld von Fremd- und Selbstbestimmung entwickelt. Alle Erfahrungen der Kinder und Jugendzeit sammeln sich in der sogenannten ‚Ich- Synthes e .81 Hierunter ist die Identifikation eines Menschen mit allen seinen Erfahrungen, die er im Laufe seiner Entwicklung erwirbt, zu verstehen. Sämtliche Erkenntnisse fügen sich in der Ich-Synthese zusammen und das Individuum richtet sein Ich nach ihnen aus.

Doch dies scheint heute nicht mehr so einfach zu sein, denn die Postmoderne ist das

Zeitalter der Umbrüche. Es scheinen keine allgemeingültigen Lebensentwürfe bzw. Lebensrezepte zu existieren und die Suche nach Identität mutet schwieriger und langwieriger an. Individualität ist laut Felicitas Dörr-Backes das „Kernaxiom der Moderne“82.

Ulrich Beck vertritt daher die These einer ‚gesellschaftlichen Individualisierung’. Hierunter versteht Beck die Aufhebung kollektiver Einheiten, wie Klasse, Familie oder Genderrollen. Deren Auflösung habe eine Vielzahl paralleler Lebensstile und Identitäten zur Folge und daher bedeute Individualisierung „erstens die Auflösung und zweitens die Ablösung industriegesellschaftlicher Lebensformen durch andere“83. [Hv. im Original]

Dies lässt sich auch in beiden Textbeispielen beobachten. Zwar treten die Protagonisten aus Nachtzug nach Lissabon und Siebzehn Dinge mit Menschen in Beziehungen, doch sind beide Einzelgänger und fühlen sich weder ihrer Familie noch ihrer Generation zugehörig.

In einer Gesellschaft, die sich immer rapider ändert, bedarf auch der Einzelne eines schnellen Updates. Michael T. Siegert und Michael Chapman beschreiben Identitätstransformation als Kennzeichen einer individuell biographischen Wandlung und führen diese auf die ständige Veränderung der Umgebung zurück. Man denke nur an die gesteigerten Anforderungen der Globalisierung, daher diagnostizieren die beiden Wissenschaftler eine „Zunahme von Krisenphänomenen auf der Ebene individueller und kollektiver Sinneszusammenhänge in modernen Industriegesellschafte n “84.

Sowohl Nina als auch Gregorius befinden sich in einer Krisensituation, die sie mit neuen Herausforderungen konfrontiert.85 Die Rolle der Dinge ist in diesem Zusammenhang nicht immer eindeutig. Die klare Trennung von Außen und Innenwelt geht verloren, denn Dinge können einerseits die Krise weiter zuspitzen, andererseits jedoch Stabilität vermitteln und Wege aus der Krise aufzeigen. Es existiert folglich eine Polysemie der Dinge.

Doch wie werden Dinge zu Stabilisatoren der Identität? Mit Dingen verknüpfen sich sowohl Erfahrungen als auch Erinnerungen. In emotionalen Krisen fungieren Dinge daher als Speicher menschlicher Identität. So verfügt jeder Mensch über Dinge von denen er sich nicht trennen kann oder möchte. Dinge hinterlassen ihre Spuren im Leben ihrer Besitzer, wie Christoph Eykman hervorhebt: „Dinge als Extensionen der Person und ihrer Lebenspraxis nehmen den Charakter von Lebens-Spuren eines Menschen an.“86 Dinge haben eine „identitätsstiftende Funktion“87, denn ihr Wert weist über materielle Eigenschaften und den rein ökonomischen Warenwert hinaus. Dinge besitzen somit einen „Bedeutungsüberschuss“88, können in neue Sinnzusammenhänge gebracht werden und verweisen laut Manfred Russo gar auf „Transzenden z “89.

Die Analyse menschlicher Dingbeziehungen läuft stets auf Selbstreflexion hinaus. Dingbeziehungen geben Auskunft über den psychischen Zustand ihrer Besitzer. Dinge werden als „Spiegelungen unserer selbst“90 erfahren. „Das Ich ist auf die Dinge ausgedehnt“91, bringt es Hartmut Böhme auf den Punkt.

Jean Baudrillard betont, dass jeder Mensch mit den Dingen „auf die gleiche innige Weise verbunden [sei] wie mit den Organen seines eigenen Körpers [… ] “92. Diese Thesen erinnern an den ‚Netz- Begriff Bruno Latours, der eine symbiotische Auffassung des Verhältnisses von Mensch und Ding beschreibt. Für Roger-Pol Droit ist eine eindeutige Grenze nicht bestimmbar, für ihn sind „Splitter von uns in den Dingen und Bruchstücke der Dinge in uns“93. Die Verknüpfung von Mensch und Ding sowie den Einfluss der Dinge auf menschliche Identitätsbildung gilt es daher in den literarischen Texten zu analysieren.

III. Erzeugte Identität am Beispiel

1. Das Verhältnis von Dingen & Literatur

1.1. Narrative Dingbeschreibung

Literatur und Wirklichkeit stehen in einem Spannungsfeld. Literatur von lat. ‚litteratura’, was sich von ‚litte r a ’ für Buchstabe herleitet, bedeutet ursprünglich ‚Buchstabenlehr e ’oder ‚Lese- und Schreibkunst’. Seit der hellenistischen Zeit versteht man darunter auch die „Deutung dichterischer Schrifte n “94. Die Frage was Literatur genau ist und was ‚Literarizität’95 ausmacht, ist zwar so alt wie die Textproduktion selbst, aber dennoch stets eine aktuelle. Literatur zeichnet sich in erster Linie durch eine spezifische Sprachverwendung aus, in der die Sprache direkt in den Vordergrund rückt und somit eine poetische Funktion wahrnimmt.96

Literatur übernimmt die Aufgabe des Erzählens, denn mittels Sprache kann der Mensch innere Vorgänge kommunizieren. Sprache eröffnet somit den Zugang zum Inneren. Daher ist es keineswegs verwunderlich, dass beispielsweise die Methode der Psychoanalyse über eine narrative Tradition verfügt.

Literarische Texte ermöglichen die Persönlichkeit von Figuren, inklusive deren Dingerfahrung, adäquat wiederzugeben. Literatur verfügt schon immer über ein implizites und explizites Dingwissen und tritt daher als phänomenologisches Medium auf. Literatur arbeitet gerade in Bezug auf die Darstellung von realexistierenden Dingen an der Schnittstelle von Realität und ‚Fiktio n .

„Die Fiktionalität von Literatur trennt Sprache von anderen Kontexten, in denen sie konkrete Verwendung finden könnte, und lässt die Relation des Texts zur Wirklichkeit für Interpretation offe n “97, erläutert Jonathan Culler diesbezüglich. Die modernen Literaturbegriffe divergieren hinsichtlich der Bestimmung einzelner Kriterien von Literatur, doch bezüglich des Kriteriums der Fiktionalität sind sie sich allesamt einig.98

Die individuelle Lebensgeschichte der Figuren Gregorius und Nina und deren sowohl positiven als auch negativen Dingerfahrungen, stellen die ausgewählten Texte narrativ dar. So wie Dinge den Zusammenhang der Biographie und Identität sicherstellen, halten die Dinge auch den Text zusammen.

Die Beschreibung von Dingen bzw. von regelrechten Dingkatalogen, wie beispielsweise in Adelbert Stifters Der Nachsommer99, verzögert einerseits die Handlung, erzeugt jedoch andererseits einen hohen Grad von Authentizität, denn Dinge vermitteln Realität und Lebensnähe.

Die Dingbiographie, die jeder Mensch aufweist, mit allen individuellen Erfahrungen, bedarf des Zusammenhangs der Erzählung, denn jegliche Erinnerung und Identitätskonstruktion erfordert Konsistenz und Kohärenz. Auf die bestehende Korrelation von Identität und Narration verweist Günter Mey, der eine „Identitätskonstruktion über Narration “100 beschreibt.

Die Frage wie Dinge in narrative Strukturen eingebettet sind, ist somit von zentraler Bedeutung. Aus diesem Grund steht zunächst der formale Aufbau der zu untersuchenden Primärtexte im folgenden Kapitel im Vordergrund.

1.2. Formale Unterschiede der Dingeinbettung

Bevor die Einzelanalyse der Texte erfolgt, erscheint ein kurzer formaler Vergleich der beiden Primärquellen angebracht. Beide Texte sind bezüglich Gattung, Struktur, Erzählart, Dingintegration und Wirkung unterschiedlich konstruiert und gerade dieser Umstand macht den Reiz einer Gegenüberstellung aus.

Schon der Umfang von Nachtzug nach Lissabon belegt die gattungsspezifische Zuordnung als Roman. Thematisch ist der Text einerseits als Großstadtroman, die Beschreibung Lissabons nimmt viel Raum ein, andererseits als Entwicklungsroman einzuordnen. Dieser Roman besteht aus vier Hauptkapiteln mit 52 Unterkapiteln und weist eine weitgehend lineare Erzählstruktur auf, die nur durch Einschübe von einzelnen Gedanken oder Textpassagen aus Prados Buch unterbrochen wird. Diese Einschübe sind jedoch ins Gesamtgefüge des Textes mit Hilfe von Assoziationen oder direkten Überleitungen gut integriert. Im Roman findet sich ein allwissender Erzähler, der sowohl die Gedanken des Protagonisten als auch der Nebenfiguren wiedergibt.

[...]


1 Christoph Eykman: Die geringen Dinge. Alltägliche Gegenstände in der Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts. Aachen: Shaker,1999, S.5.

2 Arne Andersen: Der Traum vom guten Leben. Alltags- und Konsumgeschichte vom Wirtschaftswunder bis heute. Frankfurt am Main: Campus, 1997, S.6.

3 Bernd Guggenbauer: Sein oder Design: Im Supermarkt der Lebenswelten. Berlin: Rotbuch, 1998, S.45.

4 Stefan Breuer: Die Gesellschaft des Verschwindens: von der Selbstzerstörung der technischen Zivilisation. Hamburg: Junius, 1992, S.11.

5 Vgl. S.17 der vorliegenden Arbeit.

6 Tilmann Habermas: Geliebte Objekte. Symbole und Instrumente der Identitätsbildung. Berlin: de Gruyter, 1996, S.266.

7 Der Begriff geht auf den 1878 erstmals veröffentlichten Roman Auch Einer von Friedrich Theodor Vischer zurück. Vgl. Friedrich Theodor Vischer: Auch Einer: Eine Reisebekanntschaft. 112.-116. Auflage. Stuttgart [u.a.]: Dt. Verl.-Anst., 1920.

8 Vgl. Erhart Kästner: Aufstand der Dinge. Byzantinische Aufzeichnungen. 9. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000.

9 Michel Serres: Der Naturvertrag. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1994, S.70.

10 Albert Grote: Die Welt der Dinge: Eine Phänomenologie ihrer formalen Struktur. Hamburg: Hansischer Gilden, 1976. [=Nachdr. d. Ausg. 1948]. S.58.

11 Vgl. Rainer Maria Rilke: Gesammelte Werke. Band 3. Gedichte: Neue Gedichte. Duineser Elegien [u.a.]. Leipzig: Insel, 1930.

12 Bernhard Blume: Existenz und Dichtung: Essays und Aufsätze. Ausgew. von Egon Schwarz. Frankfurt am Main: Insel, 1980, S.88. Das Dinggedicht ist die „poetisierende Darstellung eines Objekts, wobei das lyrische Ich zugunsten distanziert-objektivierender Einfühlung in das D i n g ’zurücktritt.“Vgl. Metzler Literatur Lexikon: Begriffe und Definitionen. Hrsg. von Günther und Irmgard Schweikle. 2. Auflage. Stuttgart: Metzler, 1990, S.102.

13 Frank Thadeuz: Der Drang zum Ding. In: Der Spiegel 19 (2007). S.160.

14 Wilhelm Genazino: Die Belebung der toten Winkel. S.17.

15 Das Massachusetts Institute of Technology (MIT) wurde 1861 an der Universität Cambridge in den USA gegründet Das MIT ist weltweit führend im Bereich technologischer Forschung und Lehre.

16 Neil Gershenfeld: Wenn die Dinge denken lernen. München: Econ, 2000, S.107.

17 Roger-Pol Droit: Was Sachen mit uns machen. S.167.

18 Bruno Latour: Die Hoffnung der Pandora: Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2000, S.210.

19 Michel Serres: Der Naturvertrag. S.67.

20 Neil Gerhenfeld: Wenn die Dinge denken lernen. S.117.

21 Ebd. S.167.

22 Sigfried Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung: Ein Beitrag zur anonymen Geschichte. Frankfurt am Main: Europ. Verl.-Anst., 1982, S.19.

23 Wie das obengenannte Beispiel zeigt, ist der Topos ein Gemeinplatz sowie eine stereotype

Redewendung, die auf die antike Rhetorik zurückgeht. Vgl. Metzler Literatur Lexikon: Begriffe und Definitionen. S.467.

24 Vgl. Erving Goffman: Wir alle spielen Theater: die Selbstdarstellung im Alltag. München [u.a.]: Piper, 1997, S.23.

25 Christoph Asendorf: Batterien der Lebenskraft: Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert. Gießen: Anabas, 1984, S.92.

26 Sigfried Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung. S.20.

27 Albrecht Hartmann und Rolf Haubl: Von Dingen und Menschen - Eine Einführung. In: Von Dingen und Menschen. Funktion und Bedeutung materieller Kultur. Hrsg. von Albrecht Hartmann und Rolf Haubl. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag, 2000, S.11.

28 Sigfried Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung. S.20.

29 Norbert Elias: Über den Prozess der Zivilisation: Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Band 1. Bern [u.a.]: Francke, 1969, S.164.

30 Vgl. Ebd .S.170.

31 Vgl. Tilmann Habermas: Geliebte Objekte. S.181.

32 Gert Selle: Siebensachen. Ein Buch über die Dinge. Frankfurt am Main: Campus, 1997, S.21.

33 Sigfried Giedion: Die Herrschaft der Mechanisierung. S.19.

34 Hierin bleibt Heidegger noch der Subjekttheorie verbunden, vollzieht aber um etwa 1930 die sogenannte Kehre ’, die von vielen Autoren als eine Abkehr von der reinen Subjektphilosophie interpretiert wird.

35 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer, 1993. [= im Text unveränderte Erstausgabe von 1927]. S.44f.

36 Ebd. S.1.

37 Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit. §15,17 insbesonders S.68f.

38 Ebd. S.73 f.

39 Vgl. Martin Heidegger: Das Ding. In: Vorträge und Aufsätze. 10.Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta, 2004. 11

40 Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein: Studien über marxistische Dialektik. Neuwied: Luchterhand, 1981, S.105.

41 Rüdiger Dannemann: Das Prinzip Verdinglichung: Studie zur Philosophie Georg Lukács’. Frankfurt am Main: Sendler, 1987, S.29.

42 Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur: Eine andere Theorie der Moderne. 2. Auflage. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2006, S.81.

43 Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Band 2: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. München: Beck, 1980, S.22.

44 Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein. S.182.

45 Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Band 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München: Beck, 1994, S.30. [= Nachdr. der 7. Auflage].

46 Vgl. Axel Honneth: Verdinglichung: Eine anerkennungstheoretische Studie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2005, S.98.

47 Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein. S.111.

48 Walter Benjamin: Das Passagenwerk. In: Walter Benjamin. Gesammelte Schriften V.1. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1982. S.131.

49 Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003. S.15.

50 Walter Benjamin: Einbahnstraße. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1969, S.22.

51 Horst und Ingrid Daemmrich definieren Motive als „Grundbausteine literarischer Werke. Ihre Position, Verteilung, Wechselbeziehung und Variation formen ein weitläufiges Bezugssystem.“Horst und Ingrid Daemmrich: Themen und Motive in der Literatur: Ein Handbuch. 2. Auflage. Tübingen: Francke, 1995, S.18.

52 Walter Benjamin: Einbahnstraße. S.64.

53 Vom Detail ausgehend und vom Äußeren aufs Innere schließend. Ein verfallener Körper gibt demnach einen Hinweis auf einen seelischen Makel. Bereits in der Antike setzte sich u.a. Aristoteles mit dem Zusammenhang von Körper und Geist auseinander. Ein Überbleibsel hat sich bis heute in dem bekannten Sprichwort Ein gesunder Geist lebt in einem gesunden Körper’ gehalten.

54 Walter Benjamin: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1966, S.124. 14

55 Leonie Swann: Glennkill. Ein Schafskrimi. 21. Auflage. München: Goldmann, 2005, S.96.

56 Ebd. S.98.

57 Ebd. S.101.

58 Ebd. S.99.

59 Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Elektronische Ausgabe der Erstbearbeitung. Frankfurt am Main: Zweitausendeins, 2004. Band 2. Sp.1152-1173. Heute kennt die Wissenschaft eine Vielzahl solcher Thingstätten.

60 Karl-Heinz Kohl: Die Macht der Dinge: Geschichte und Theorie sakraler Objekte. München: Beck, 2003, S.119.

61 Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Band 14. Sp.1592-1604.

62 Roger-Pol Droit: Was Sachen mit uns machen. S.17.

63 Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. S.44.

64 Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen: Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Berlin: Akademie-Verl., 1995, S.77.

65 Ebd. S.19.

66 Uwe C. Steiner: Gespenstige Gegenständlichkeit”. Fetischismus, die unsichtbare Hand und die Wandlungen der Dinge in Goethes Herrmann und Dorothea und in Stifters Kalkstein. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 4. (2000). S.642.

67 Bruno Latour: Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2002, S.95

68 Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. S.12.

69 Ebd. S.45

70 Gert Selle: Siebensachen. S.19.

71 Das Bedürfnis nach der inneren Reise und der Suche nach der eigenen Identität wächst. Daher ist

beispielsweise Hape Kerkelings Ich bin dann mal weg so erfolgreich. Vgl. Hape Kerkeling: Ich bin dann mal weg. Meine Reise auf dem Jakobsweg. München: Malik, 2006.

72 Jean-Claude Kaufmann: Die Erfindung des Ich: Eine Theorie der Identität. Konstanz: UVK, 2005, S.19.

73 Einen Überblick über die kollektive Identität gibt Walter Bühl: Das kollektive Unbewusste in der postmodernen Gesellschaft. Konstanz: UVK, 2000.

74 Vgl. Hans-Peter Frey und Karl Haußer: Entwicklungslinien sozialwissenschaftlicher Identitätsforschung. In: Identität: Entwicklungen psychologischer und soziologischer Forschung. Hrsg. von Hans-Peter Frey [u.a.]. Stuttgart: Enke, 1987. S.3.

75 Dieter Henrich: „Identität“- Begriffe, Probleme, Grenzen. In: Identität. S.135.

76 Erik H. Erikson Identität und Lebenszyklus: 3 Aufsätze. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983, S.123.

77 Ebd. S.18.

78 Ebd. S.188.

79 Hans-Peter Frey und Karl Haußer: Entwicklungslinien sozialwissenschaftlicher Identitätsforschung. S.4.

80 Eriksons berühmtes achtstufiges Modell erweist sich immer dann als problematisch, wenn eine Stufe nicht vollständig abgeschlossen wird, da die einzelnen Stufen aufeinander aufbauen.

81 Erik Erikson: Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit. Darmstadt: Wiss. Buchges., 1966, S.51.

82 Felicitas Dörr-Backes: Exzentriker: Die Narren der Moderne. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2003, S.23.

83 Ulrich Beck: Die Individualisierungsdebatte“. In: Soziologie in Deutschland: Entwicklung -

Institutionalisierung und Berufsfelder; theoretische Kontroversen. Hrsg. von Bernhard Schäfers. Opladen: Leske & Budrich, 1995, S.190.

84 Michael Siegert und Michael Chapman: Identitätstransformationen im Erwachsenenalter. In: Identität: Entwicklungen psychologischer und soziologischer Forschung. S.142.

85 Unter Krise verstehe ich in dieser Arbeit eine akute psychische Belastung, die durch äußere Einflüsse, vor allem durch Dinge, ausgelöst wird.

86 Christoph Eykman: Die geringen Dinge. S.185.

87 Rolf Haubl: Be-dingte Emotionen. Über identitätsstiftende Objekt-Beziehungen. In: Von Dingen und Menschen. S.26

88 Gisela Ecker und Susanne Scholz: Einleitung: UmOrdnungen der Dinge. In: UmOrdnungen der Dinge. Hrsg. von Gisela Ecker und Susanne Scholz. Königstein im Taunus: Helmer, 2000, S.11.

89 Manfred Russo: Tupperware & Nadelstreif: Geschichte über Alltagsobjekte. Wien [u.a.]: Böhlau, 2000, S.8.

90 Ernst Bösch: Das Magische und das Schöne: Zur Symbolik von Objekten und Handlungen. Stuttgart: Frommann-Holzboog, 1983, S.24.

91 Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. S.80.

92 Jean Baudrillard: Das System der Dinge: Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen. 2. Auflage. Frankfurt am Main [u.a.]: Campus, 2001, S.39.

93 Roger-Pol Droit: Was Sachen mit uns machen. S.115.

94 Metzler Literatur Lexikon: Begriffe und Definitionen. S.273.

95 Jonathan Culler: Literaturtheorie: Eine kurze Einführung. Stuttgart: Reclam, 2003, S.33.

96 Vgl. Ebd. S.44.

97 Ebd. S.50.

98 Vgl. Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze - Personen - Grundbegriffe. Hrsg. von Ansgar Nünning. 2. Auflage. Stuttgart [u.a.]: Metzler, 2001. S.177.

99 Seitenweise Dingschilderungen zeichnen diesen 800 Seiten umfassenden Roman aus. Vgl. Adalbert Stifter: Der Nachsommer. München: Winkler, 1971.

100 Günter Mey: Adoleszenz, Identität, Erzählung: Theoretische, methodologische und empirische Erkundungen. Berlin: Köster, 1999, S.111.

Ende der Leseprobe aus 114 Seiten

Details

Titel
Zur identitätsstiftenden Funktion von Dingen in der neuesten deutschen Gegenwartsliteratur
Untertitel
Eine literaturwissenschaftliche Analyse anhand Peter Bieris "Nachtzug nach Lissabon" und Eleonore Freys "Siebzehn Dinge"
Hochschule
Universität Mannheim
Note
1.0
Autor
Jahr
2007
Seiten
114
Katalognummer
V140180
ISBN (eBook)
9783640497232
ISBN (Buch)
9783640496983
Dateigröße
1259 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Funktion, Dingen, Gegenwartsliteratur, Eine, Analyse, Peter, Bieris, Nachtzug, Lissabon, Eleonore, Freys, Siebzehn, Dinge
Arbeit zitieren
M.A. Melanie Seidenglanz (Autor:in), 2007, Zur identitätsstiftenden Funktion von Dingen in der neuesten deutschen Gegenwartsliteratur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/140180

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