Sebald ist auf der Suche nach jenen besonderen Einzelnen, die, wie er selbst, sich von einer in „Naturgeschichte“ abgestürzten, „moralisch so gut wie restlos“ diskreditierten deutschen Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft abheben, dennoch aber, wie die Protagonisten seiner literarischen Texte, von deren Aura erfasst werden. Dabei projiziert der Autor den schon von Nietzsche als Grundproblem der Moderne thematisierten Gegensatz von „wissendem“ Einzelnen und „unwissender“ Masse auf den gnostischen Basis-Antagonismus von Gut und Böse (bzw. Licht und Dunkel), der in seinen literaturhistorischen Essays, auf dem Hintergrund von Holocaust und jüdischem Messianismus, in einen moralisierenden, den theoretischen Vorgaben einer ideologiekritisch positionierten Moderne nur scheinbar folgenden, in totalisierenden Werturteilen sich artikulierenden Irrationalismus übergeht.
Während Sebalds, überwiegend einer konventionellen Poetik folgendes literarisches Werk, im angelsächsischen Sprachraum als längst fällige Aufarbeitung einer historischen Schuld der Deutschen verstanden und mit großer Resonanz aufgenommen wurde, hat es in Deutschland weniger das Interesse der Leser als vielmehr das einer Literaturwissenschaft auf sich gezogen, die in den Texten des Autors einen Weg erkannte, die deutsche Katastrophe sowohl vergegenwärtigen als auch in den Kontext der eigenen Bildungstradition integrieren und damit deren Sinnpotential unbeschädigt erhalten zu können. Nach dem Tod des Autors (2001) entwickelte sich die literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit seinem Oeuvre zunehmend im Modus einer Affirmationskultur, die mittlerweile Symptome einer bereits vollzogenen Kanonisierung aufweist und wesentlich zur Verzeichnung des gnostisch-mythischen Hintergrunds seines dezidiert antimodernistisch konzipierten Weltbilds beigetragen hat. Diesen Hintergrund, insbesondere im Hinblick auf die Fundierung bestimmter theoretischer Positionen im essayistischen Werk des Autors, kritisch zu erhellen, ist das Ziel der vorliegenden Studie.
Inhaltsverzeichnis
- Problemstellung
- Konstellation
- Fixpunkte
- Mythos
- Antimodernismus
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die vorliegende Studie untersucht das Werk W. G. Sebalds im Hinblick auf seinen gnostisch-mythischen Hintergrund und dessen Einfluss auf sein dezidiert antimodernistisches Weltbild. Dabei wird insbesondere der essayistische Teil seines Oeuvres beleuchtet und die Fundierung bestimmter theoretischer Positionen kritisch betrachtet.
- Sebalds Kritik am Säkularisierungsprozess der Moderne und die Reintegration des vormodernen Weltbilds
- Die Verbindung von Geschichte und Naturgeschichte in Sebalds Werk und die damit verbundene Kritik an der Aufklärung
- Der Einfluss des gnostischen Basis-Antagonismus von Gut und Böse auf Sebalds literarische und essayistische Werke
- Die Rolle der Weltfrömmigkeit als regressive Utopie in Sebalds Denken und die Kritik an der deutschen Geschichte
- Die Einbettung von Sebalds Werk in den Kontext der Kritischen Theorie und die Auseinandersetzung mit den Ideen von Adorno, Lukács und Benjamin
Zusammenfassung der Kapitel
Das erste Kapitel befasst sich mit der Problemstellung der Studie und führt in Sebalds Werk sowie dessen Fokus auf die "Lehre von den letzten Tagen" ein. Das zweite Kapitel analysiert Sebalds Konstellation von Geschichte und Naturgeschichte und die daraus resultierende Kritik an der Aufklärung sowie der Vermittlung einer "höheren Intellektualität". Das dritte Kapitel untersucht Sebalds Sicht auf die deutsche Geschichte und seine These der moralischen Verkommenheit des deutschen Volkes im Kontext des Holocaust. Es wird außerdem auf die Rolle von Johann Peter Hebels Weltfrömmigkeit als regressive Utopie und die damit verbundene Kritik an der Moderne eingegangen.
Schlüsselwörter
Die Arbeit befasst sich mit den Schlüsselbegriffen Gnosis, Mythos, Antimodernismus, Säkularisierung, Aufklärung, Weltfrömmigkeit, Naturgeschichte, Geschichte, Holocaust, deutsche Geschichte, Kritische Theorie, Adorno, Lukács, Benjamin, Sebald.
- Citar trabajo
- Karlheinz Gradl (Autor), 2023, Gnosis, Mythos und Antimodernismus bei W. G. Sebald, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1408085