"Wie man ein Kind lieben soll": Erste Annäherung an Janusz Korczak


Trabajo de Seminario, 2003

21 Páginas, Calificación: ausgezeichnet (A)


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1. Vorbetrachtung – Zielstellung

2. Die drei Grundrechte des Kindes – Tod, Gegenwart, Individuum
2.1 Tod
2.2 Gegenwart
2.3 Individuum

3. Die Schlafsaalepisode – „ein umstürzendes Ereignis“: Korczaks Prozess der Selbsterziehung

4. „Mythos Kind“ bei Korczak – eine zu interpretierende Geschichte?

5. Schlussbetrachtung

6. Bibliographie

1. Vorbetrachtung - Zielstellung

Eine Erfahrung ist erst dann eine Erfahrung, wenn man das mit ihr verbundene Erlebnis reflektiert. Diese Reflexion schließt die Erkenntnis über das Warum der Erfahrung, also ihr Zustandekommen, und die sie bedingenden Faktoren sowie ihre begleitenden Fehler mit ein.

Insofern ist Janusz Korczaks pädagogisches Hauptwerk „Wie ein Kind lieben“ („Jak kochac dziecko“[1] ) ein Sammelwerk solcher Erfahrungen mit Kindern und Säuglingen (oder, im Sinne Korczaks: mit Menschen, mit Individuen), die er als Arzt und Erzieher machte und die er literarisch-rhetorisch verarbeitete, d.h. poetisierte. Und dies alles mit dem mehr oder weniger ausdrücklichen Ziel, durch radikal-apodiktische Standpunkte und eindeutige Forderungen eine Suggestionskraft zu entfalten, der sich der Leser nur schwer zu entziehen vermag.

Deshalb sind wir einmal mehr angehalten, Korczak einer möglichst kritischen und objektiven Betrachtung zu unterwerfen und nicht jenem simplen Enthusiasmus anheimzufallen, mit dem man Korczak in der Literatur teilweise tendenziell begegnet.

Die vorliegende Arbeit, die sich hauptsächlich auf das oben genannte Buch stützt, wird sich zunächst mit der berühmten „Magna Charta Libertatis“ auseinandersetzen, sie im Kontext des vollständigen Buches interpretieren und versuchen aufzuzeigen, welche Konsequenzen sich aus ihr für das pädagogische Handeln ergibt. Anhand einer Episode aus den „Sommerkolonien“ wird anschließend konkret illustriert, inwiefern Korczak erfahrene Erziehungspraxis poetisierte, sie als Gegenstand eigener Reflexion benutzte und in eine Botschaft an den Leser verhüllte. Abschließend will ich die im Seminar gestellte Frage nach dem „Mythos Kind“ in Bezug auf Korczak neu aufwerfen.

Das persönliche Ziel dieser Hausarbeit ist nicht, Korczaks Pädagogik vollständig zu verstehen, sie gleichsam wie ein zusammengesetztes Puzzle vor dem geistigen Auge präsentiert zu bekommen. Nein, Ziel ist es, am Ende zu resümieren, dass in einer unbestimmten Zukunft das Verständnis Korczaks als historische Person und deren Pädagogik ergreifbar scheint. Hier soll eine Brücke zu einem Ufer geschlagen werden, dem ein Land angehörig ist, dessen Erkundung erst dann angefangen haben wird.

2. Die drei Grundrechte des Kindes – Tod, Gegenwart, Individuum

Die anthropologische Voraussetzung für die Grundrechte besteht in der banalen Feststellung Korczaks, „daß das Kind – ein Mensch ist.“[2] Er rückt damit gleichzeitig von der gemeinhin üblichen Vorstellung ab, dass sich das menschliche Leben etwa in die Phasen Säugling, Kind, Jugendlicher, Erwachsener, Greis einteilen ließe, um daraus ein je eigenes Konzept darüber abzuleiten, was ein Mensch ist:

„Wer sich in den Geist menschlicher Begriffe hineinversetzt, dem verwischt sich der Unterschied zwischen dem Kinde, dem Jugendlichen, dem gereiften Menschen, dem schlichten Gemüt und dem Denker, und dem enthüllt sich der kluge Mensch unabhängig von seinem Lebensalter, von seiner Gesellschaftsschicht, von seinem Bildungsgrad und dem Kulturfirnis seines Äußeren als ein Wesen, das im Rahmen seiner geringeren oder größeren Erfahrung vernünftig urteilt.[3]

Wenn Korczak also in seinem Grundrechtkatalog das Phänomen Kind erwähnt, nämlich wie im folgenden:

1. Das Recht des Kindes auf seinen Tod,
2. Das Recht des Kindes auf den heutigen Tag,
3. Das Recht des Kindes so zu sein, wie es ist.

dann nur, um den Blick auf den besonderen Status dieses in seiner Eigenständigkeit als Mensch vernachlässigtes und unbeachtetes Wesen zu lenken. In seinem Wesen ist das Kind Mensch und als solcher muss es „respektiert und behandelt“[4] werden. Es soll nicht unter der Etikettierung des sogenannten „Kindes“ auf ein ungleichberechtigtes Niveau herabgestuft, sondern auf einer Augenhöhe mit dem Erwachsenen gesetzt werden, so dass sich dieser niemals aus der Verantwortung gegenüber dem Kinde bequem stehlen kann.

Erst diese grundsätzliche Konstellation, gleiche Augenhöhe Erzieher – Kind, garantiert, dass die Grundrechte, wie sie Korczak in eindringlich-dezidierter Form postuliert, funktionieren, denn es ist das „erste und unbestreitbare Recht des Kindes, seine Gedanken auszusprechen und aktiven Anteil an unseren Überlegungen und Urteilen über seine Person zu nehmen.“[5] Nur wenn wir das Kind mit-reden lassen, es in unsere Entscheidungen, die es betrifft, miteinbeziehen, ihm „Achtung und Vertrauen“[6] schenken, vermögen wir das Kind zu „kennen.“[7] Oder weiterhin in den Worten Korczaks: „Das Kind hat ein Recht darauf, daß seine Angelegenheit ernsthaft behandelt und gebührend bedacht wird.“[8] Sinnfällig wird diese Gleichberechtigung vor allem im vom Korczak etablierten „Kameradschaftsgericht“ des Weisenhauses, in dem sich seine „demokratische Erziehungskonzeption“[9] in der Praxis konkretisierte und wo dann im Gerichtsalltag selbst kleine Bagatellen prozessiert wurden; Korczak sich sogar im Sinne seiner Vorstellung der Gleichberechtigung selbst anklagte.[10] Vor Gericht sind alle gleich. Hier lebt ein Erzieher die stellende Verantwortung vor, die er nicht nur einfordert, sondern auch ausübt. Er steht mit Taten für seine Worte ein.

2.1 Tod

Dieses durch die Gleichberechtigung erreichte Ziel der Achtung gegenüber dem Kinde artikuliert sich nun in den bis zur Erschöpfung in der Sekundärliteratur zitierten eben erwähnten drei Grundrechten, die mit ihrer übertriebenen Formulierung zur kritischen Überprüfung auffordern müssen. Was meint Korczak mit diesen drei Grundrechten? Was steckt dahinter? Als erstes ruft das erste Grundrecht eine frappierende Empörung hervor, wohingegen die anderen zwei verständlich und, nach allem, was wir über Korczak gehört haben oder allgemein über Kinder wissen, nachvollziehbar erscheinen.

Wie muss man aber jetzt das Recht des Kindes auf seinen Tod im Sinne Korczaks auslegen? Das in diesem Zusammenhang oft in der Literatur zur Erklärung dienende Zitat soll erste Orientierung bieten: „Aus Furcht, der Tod könnte uns das Kind entreißen, entziehen wir es dem Leben; um seinen Tod zu verhindern, lassen wir es nicht richtig leben.“[11] Kahn kommentiert dies folgendermaßen:

„Mit dem Recht des Kindes auf seinen Tod wendet sich KORCZAK also gegen die Überbehütung des Kindes: [...]“[12] Die Rede vom Tod ist demnach einer radikalen spitzfindigen gar ironischen Rhetorik zuzuschreiben, die nichts anderes bezwecken will, als die Aufmerksamkeit darauf zu richten, das Kind in Freiheit und ein Leben leben zu lassen, das möglichst viel von Erfahrungen geprägt sein soll und durch die Bemutterung nur eingeschränkt werde. Freilich beabsichtigt Korczak dies. Allein schon auf der Folie seiner Biographie und bisherigen pädagogischen Praxis ist dieses Anliegen nur allzu recht zu verstehen. So wuchs er während seiner Kindheit zwar wohlbehütet im gutbürgerlichen Milieu auf, beneidete allerdings als „Salonkind“ „die Erwachsenen, die selbst bestimmen konnten wohin sie gingen und was sie unternahmen, sie erschienen ihm [Korczak] frei und mächtig.“[13]

Aus seiner Erfahrung der pädagogischen Praxis drückt sich dieses Unbehagen dann so aus: „’Lauf nicht so, du gerätst noch unter die Pferde. Lauf nicht, denn du kommst ins Schwitzen. Lauf nicht, denn du machst dich schmutzig. Lauf nicht, denn mir tut der Kopf weh!’ (Und doch gestatten wir den Kindern grundsätzlich das Laufen: es ist die einzige[!] Lebensäußerung, die wir zulassen.)[14]

[...]


[1] Die irreführende, weil falsche deutsche Übersetzung „Wie man ein Kind lieben soll“ impliziert mit ihrem Modalverb „soll“ einen Auftrag, eine Anleitung, die durch das kollektivierende „man“ einen allgemeingültigen Anspruch erhebt. Korczak selbst intendierte kein pädagogisches Ratgeberbuch: „Wenn du beim schnellen Blättern nach Vorschriften und Rezepten suchen solltest, wenn du unwillig darüber bist, daß es nur wenige sind – so wisse, wenn du Ratschläge und Hinweise findest: dies ist nicht mit dem Willen des Autors geschehen, sondern gegen diesen.“ In: Korczak, Janusz: Wie man ein Kind lieben soll. Hrsg. von Elisabeth Heimpel und Hans Roos. Mit einer Einleitung von Igor Newerly. 12. Aufl. Göttingen 1998, S. 1. Selbst wenn sich ein Ratschlag fände, geschähe das gegen den „Willen des Autors“, der mit dieser verfälschenden unsäglichen Titelübersetzung nachträglich torpediert wird, weil sie ein Buch übertitelt, das zum Selbstdenken animieren möchte („Meine Aufgabe ist es, zum Nachdenken anzuregen...“ Ebd., S. 73.), statt fertige Rezepte anzubieten. Außerdem macht die dt. Übersetzung aus dem Fragesatz „Wie ein Kind lieben“ einen Imperativ, der wohl einen publikumswirksamen und daher publikumsbreiten Ratgeberanspruch geradezu herausfordert. Tatsächlich gibt Korczaks 1918 erschienene Schrift weder auf die Frage „Wie ein Kind lieben“ noch auf die Anleitung „Wie man ein Kind lieben soll“ eine „konkrete, umfassende oder befriedigende Antwort“ (In: Tschöpe-Scheffler, Sigrid: Liebe und ihre Bedeutung für die Erziehung in der Pädagogik Johann Heinrich Pestalozzis und Janusz Korczaks. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Friedhelm Beiner. Frankfurt am Main 1990, S. 172.) beziehungsweise Lösung!

[2] Korczak (1998): S. 205.

[3] Ebd., S. 79.

[4] Radtke, Uwe: Janusz Korczak als Pädagoge. Zum Recht des Kindes auf Achtung. Marburg 2000, S. 73.

[5] Korczak (1998): S. 40-41.

[6] Ebd., S. 41.

[7] Ebd., S. 40.

[8] Ebd., S. 304.

[9] Einführung in die Korczak-Pädagogik. Konzeption, Rezeption und vergleichende Analysen. Hrsg. von Lothar Kunz. Weinheim; Basel 1994, S. 14.

[10] Vgl. hierzu Korczak (1998): S. 353.

[11] Ebd., S. 44.

[12] Kahn, Gérard: Janusz Korczak und die jüdische Erziehung. Janusz Korczaks Pädagogik auf dem Hintergrund seiner jüdischen Herkunft. Mit einem Vorwort von Jürgen Oelkers. Weinheim 1993, S. 107.

[13] Radtke (2000): S. 21.

[14] Korczak (1998): S. 45. Natürlich muss man hier bedenken: Hat Korczak diese Beobachtung tatsächlich gemacht, oder will er diesem Umstand des Nicht-Richtig-Leben-Lassens besonderen Ausdruck verleihen durch Aussagen, die niemals getätigt wurden? Diese Methode der (fiktiven?)Dialogisierung (Dialog deshalb, weil man auch von einem Dialog sprechen kann, wenn nur einer spricht.) begegnet uns unentwegt in Korczaks Buch. Dadurch vereinnahmt er den Leser durch die Unmittelbarkeit des Dialoges. Wir werden bei der Behandlung der Mythosfrage noch einmal auf dieses Korczak-Typische zurückkommen, unter das auch die hemmungslose, aber um so mehr appellative Hyperbolik fällt, wie zum Beispiel: „die einzige Lebensäußerung, die wir zulassen.“

Final del extracto de 21 páginas

Detalles

Título
"Wie man ein Kind lieben soll": Erste Annäherung an Janusz Korczak
Universidad
University of Würzburg  (Institut für Pädagogik I, Lehrstuhl I)
Curso
Seminar: Das Jahrhundert des Kindes - Rückblick und Ausblick
Calificación
ausgezeichnet (A)
Autor
Año
2003
Páginas
21
No. de catálogo
V14087
ISBN (Ebook)
9783638195829
ISBN (Libro)
9783638781534
Tamaño de fichero
713 KB
Idioma
Alemán
Notas
Kritische Auseinandersetzung mit den Grundrechten des Kindes, tiefgründige Interpretation einer Erziehungsepisode aus den Sommerkolonien, eigener Ansatz des "Mythos Kind" bei Korczak.
Palabras clave
Kind, Erste, Annäherung, Janusz, Korczak, Seminar, Jahrhundert, Kindes, Rückblick, Ausblick
Citar trabajo
Marcus Erben (Autor), 2003, "Wie man ein Kind lieben soll": Erste Annäherung an Janusz Korczak, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14087

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