Schrecken und Poesie

Zur Ambivalenz mythischer Selbsttransparenz bei Blumenberg und Nietzsche


Hausarbeit (Hauptseminar), 2005

27 Seiten, Note: sehr gut (1,0)


Leseprobe


Inhalt

Einleitung: Kultur als humane Selbstbehauptung?

1. Kontingenz und Entlastung: Hans Blumenbergs Arbeit am Mythos (1979)
1.1. Absolutismus der Wirklichkeit, Allmacht der Vorstellungen: Menschliches Dasein innerhalb seiner Grenzwerte
1.2. Grammatik der Distanz: Namen, Bedeutsamkeiten, Verfahrensordnungen
1.3. Mythische Verzögerung: Der Umweg übers Ungeheuerliche

2. Silenische Weisheit und ästhetische Metaphysik: Friedrich Nietzsches Geburt der Tragödie (1872)
2.1. Dialektik der Erlösung: Apollon vs. Dionysos
2.2. ,Tragischer Mythus‘ und immanenter Trost

3. Distanz oder Identifikation? - Mythische Selbsttransparenz und ihre Folgen

Siglen / Bibliographie

Denn zweifellos ist es eine der elementaren und bewährten Methoden, in der Finsternis nicht nur zu zittern, sondern auch zu singen.

(Arbeit am Mythos, S. 72)

Einleitung: Kultur als humane Selbstbehauptung?

Schrecken und Poesie - dieses polare Begriffspaar reicht aus, um das Weltverhältnis des Menschen, wie es Hans Blumenberg in seiner 1979 erschienenen kulturtheoretischen Studie Arbeit am Mythos1 beschreibt, auf seine kürzeste Formel zu bringen. Schrecken, damit ist die epiphanische Initialerfahrung des Menschen gemeint, der sich seiner Differenz zu den Dingen ringsum bewußt wird, aber noch keine kulturellen Deutungsmuster besitzt, um sich dieselben in differenzierter Form anzueignen. Weil ihm die Möglichkeit zum rational-ordnenden Zugriff noch fehlt, kann er die Wirklichkeit nicht anders denn als intransparente Front unverfügbarer Faktizität erfahren, deren allgegenwärtige Übermacht ,namenloses Entsetzen‘ evoziert. - Poesie, im Gegensatz hierzu, bezeichnet die Summe menschlicher Abwehrreflexe, die sich vor diesem Hintergrund konstituieren. Vom Willen zur Selbstbehauptung motiviert, entwirft das bewußtgewordene Subjekt Strategien der Entlastung, welche auf eine möglichst umfassende Verdrängung der übermächtigen Wirklichkeit abzielen. Indem es der Realität anthropomorphe Ordnungsmuster ,überstülpt‘, gelingt ihm die verblüffende Autosuggestion, die Welt sei an sich vernünftig, das Dasein nicht-kontingent.

Die Bandbreite der kreativen Versuche des Menschen, eine lebenserhaltende Distanz zum Absoluten einzuziehen, faßt Blumenberg im Rahmen seiner Untersuchung unter dem Begriff des Mythos zusammen. Während Mythos in diesem Sinne als überzeitliches Paradigma verstanden werden kann, konzentrieren sich die materialen Analysen, mit denen diese These illustriert wird, vornehmlich auf den Mythos im traditionell-historischen Sinn, die Mythologie der Antike. Diese wird somit als spezifisches Fallbeispiel menschlichen Entlastungswillens gedeutet, als methodische Variante eines Umgangs mit der absolutistischen Wirklichkeit, in welcher ,Geschichtenerzählen‘ zum ersten tragfähigen Paradigma humaner Rationalisierungs- bemühungen entwickelt wird.

Eine verwandte Auffassung von der Bedeutung kulturell-mythischer Aktivität hatte indes schon über 100 Jahre zuvor Friedrich Nietzsche in seiner Geburt der Tragödie2 (1872) vorgestellt. Wie Blumenberg setzt auch Nietzsche einen ursprünglich pessimistischen Weltbezug, in dem das Subjekt der Absurdität von Wirklichkeit und Existenz gewahr wird, als anthropologische Ausgangssituation an. Wie Blumenberg versteht auch Nietzsche auf dieser Grundlage Kultur als überlebensstrategischen Defensivmechanismus, dessen Wert in seinem Potential zur Emanzipation vom Schrecken des Daseins besteht. Und ähnlich wie für Blumenberg besteht das methodische Verfahren dieser Distanzleistung auch für Nietzsche (zunächst) darin, die sinnlose, unverfügbare Wirklichkeit durch verabsolutierende Projektionen menschlicher Ordnungsstrukturen zur kontrollierbaren, human-sinnhaften ,umzuschaffen‘.

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit möchte ich mich um einen Vergleich dieser beiden Positionen bemühen. Anhand einer textnahen Interpretation des ersten Hauptteils von Arbeit am Mythos („Archaische Gewaltenteilung“) sowie der Geburt der Tragödie soll versucht werden, Blumenbergs (Kapitel 1) bzw. Nietzsches (Kapitel 2) Verständnis von Aufgabe, Funktion und ,Sinn‘ des Mythos möglichst präzise zu bestimmen. - In Hinblick auf Blumenberg möchte ich dabei zunächst (1.1.) erläutern, inwiefern sich menschlich-bewußte Existenz immer schon im Spannungsfeld von absolutistischer Wirklichkeit und kultureller Selbstbehauptung konstituiert, bevor anschließend (1.2.) die verschiedenen Strukturmomente historisch-mythischer Ent- lastung näher differenziert werden sollen. Die Gemeinsamkeiten dieses bipolaren Ansatzes zur Geburt der Tragödie sollen anhand einer Darstellung von Nietzsches ebenfalls dualer Grund- konzeption - absurdes Dasein vs. ästhetisch-metaphysische Selbsterlösung - zu Beginn des zweiten Kapitels (2.1.) erörtert werden.

Im jeweils letzten Teils meiner Untersuchung (1.3. bzw. 2.2.) möchte ich darüber hinaus auf ein besonderes Problem aufmerksam machen, an welchem m. E. allen Ähnlichkeiten zum Trotz die untergründige Differenz beider Entwürfe zutage tritt. Wie die vorangehende Gegenüberstellung nämlich zeigen soll, erkennen sowohl Blumenberg als auch Nietzsche die Entlastungs- oder Erlösungsfunktion des Mythos wesentlich darin, die ,anthropomorphe Lebenswelt‘ bzw. den ,Schein des Individuellen‘ zur ausschließlichen Realität zu (v)erklären.3

Die epistemologische Frage nach dem Verhältnis von Vorstellung und Wirklichkeit hingegen bleibt hierbei offenbar ausgeklammert. Zwischen der vom Ordnungswillen des Menschen entworfenen ,Kulturwelt‘ und der kontingenten Wirklichkeit gibt es keinerlei Abbildrelation - vielmehr zielt erstere auf bloß irreflexive Distanz und vermeidet jeden wahrheitsfähigen Bezug, jede annähernde Identifikation mit der letzteren, aus Furcht vor einem Regreß ins vor- mythische Stadium namenlosen Entsetzens. Weil diese rigoros negative Haltung hinsichtlich der Erkenntnisqualität kultureller Leistungen verwundern mag, scheint es aussichtsreich, die Darstellungen Blumenbergs und Nietzsches auf Momente möglicher Selbsttransparenz abzu- horchen: Lassen sich innerhalb des Ensembles mythischer Vorstellungen, die eine Abwehr des Wirklichen gewährleisten sollen, eventuell Reminiszenzen an jenen vorzeitlichen Schrecken aufzeigen, die im Rahmen der ästhetischen Entlastungsstrategie als selbstreflexive Verweise auf deren ontologischen Ursprung, den Absolutismus der Realität, fungieren? Wenn dies der Fall wäre, welche Konsequenzen hätte ein derartiges Zusammenspiel von irreflexiv- distanzierenden und reflexiv-identifizierenden Momenten für Aufgabe und Funktion des Mythos? Könnte Kultur vielleicht auch im Dienste einer anderen Wahrheit stehen als der bloßen Affirmation lebensweltlichen Scheins?4

Wie die vorliegende Interpretation zeigen soll, scheinen sowohl Blumenberg als auch Nietzsche anzuerkennen, daß der selbstreflexive Bezug auf die vormythische Wirklichkeit ein konstitutives Moment mythischer Sinnentwürfe bildet. Für Blumenberg manifestiert er sich in den anti-figurativen Aspekten des Mythos, in den Über- bzw. Unterbietungen seiner grund- sätzlichen Gestaltungstendenz; für Nietzsche bildet er im Rahmen einer erweiterten Mythos- konzeption - des sogenannten ,Tragischen Mythus‘ - das dionysische Fundament, auf welches jede apollinische Darstellung stets noch bezogen bleibt. An dieser Stelle wird indes die ent- scheidende Divergenz beider Ansätze offenkundig: Denn während Blumenberg die punktuelle Selbsttransparenz des Mythos in einer übergeordneten Figur der Bedeutsamkeit aufgehen läßt, welche letztlich allein durch ihre Funktion menschlicher Selbstbehauptung bestimmt wird, versteht Nietzsche ebendiese Selbsttransparenz als ,turning point‘ der mythischen Erlösungs- methode. Der Rückbezug auf die Wirklichkeit führt hier zu einer radikalen Subversion der vormals irreflexiven Verklärungsstrategie. Gleichsam spiegelverkehrt fungiert in diesem Fall nicht länger Schrecken als Katalysator einer poetisch-anthropomorphen Wahrheit, sondern Poesie als Katalysator einer ästhetisch distanzierten Erfahrung jener unerkennbaren Realität, die immer schon jenseits des kulturell-rationalen Zugriffs des Menschen liegt. Es scheint deshalb, als würde sich in Nietzsches Konzeption des Tragischen Mythus eine Variante menschlicher Existenzbewältigung ankündigen, welche noch außerhalb des von Blumenberg avisierten Paradigmas irreflexiv-distanzierender Selbstbehauptung steht. - Um diese spezifische Ambivalenz mythischer Selbsttransparenz aber genauer verstehen zu können, sollen die Mythostheorien Blumenbergs und Nietzsch]es nun im Detail vorgestellt werden.

1. Kontingenz und Entlastung: Blumenbergs Arbeit am Mythos (1979)

1.1. Absolutismus der Wirklichkeit, Allmacht der Vorstellungen: Menschliches Dasein innerhalb seiner Grenzwerte

Gleich zu Beginn seines monumentalen Werks Arbeit am Mythos etabliert Blumenberg den Absolutismus der Wirklichkeit als conditio sine qua non menschlichen Daseins - als Nullpunkt, von dem jede bewußte Existenz immer schon ihren Ausgang genommen hat. Mit diesem anthropogenetischen „Grenzbegriff“ (AM, 9) ist die Initialerfahrung des Menschen beschrieben, der die animalische Eingebundenheit ins irreflexive Reiz-Reaktionsschema ,soeben‘ hinter sich gelassen hat und zu intentional-selbstreflexivem Bewußtsein avanciert ist. Im Absolutismus der Wirklichkeit drückt sich somit keine objektive Gegenstandsqualität aus, sondern dasjenige subjektive Weltverh ä ltnis, welches der liminalen Existenz auf der Schwelle zwischen vorbewußter Kausalität und bewußter Intentionalität korrespondiert.5

Wie erläutert wird, entdeckt der Mensch als Folge eines „Situationssprung[s]“ - den Blumenberg phylogenetisch am „Biotopwechsel“ (AM, 10) vom tropischen Regenwald zur Savanne verortet6 - daß er „die Bedingungen seiner Existenz annähernd nicht in der Hand hatte“ (AM, 9). Demnach, so scheint es, macht sich im Absolutismus der Wirklichkeit die plötzliche Einsicht des Individuums in die radikale Intransparenz und Unverf ü gbarkeit der Realität bemerkbar. Obwohl Blumenbergs Erläuterungen in dieser Hinsicht vage bleiben, läßt sich diese Erfahrung so deuten, daß das Subjekt im Zuge seiner Bewußtwerdung all diejenigen Orientierungen und fixen Bedeutungen verliert, welche das vorbewußte Dasein im Rahmen des Reiz-Reaktionsschemas noch gewährleistet hatte. Die spezielle „Unangepaßtheit“ des Menschen, von der Blumenberg spricht (AM, 10), müßte vor diesem Hintergrund als existentielles Bedürfnis nach neuerlicher ,Bedeutsamkeit‘ verstanden werden, welche diesen Mangel kompensieren könnte. Der initiale Weltbezug, der sich im Absolutismus der Wirklich- keit ausspricht, wäre somit nichts anderes als die Erkenntnis einer Diskrepanz zwischen subjektivem Sinnbed ü rfnis und objektiver Sinnverweigerung.7 Indem das Subjekt im Zuge seiner Bewußtwerdung jener grundsätzlichen Weigerung der Realität, seinem neuerwachten Orien- tierungswunsch durch Aufweis objektiver Sinnstrukturen in irgendeiner Weise zu entsprechen, gewahr wird, begreift es dieselbe als wesentlich unerkennbar. Die Unmöglichkeit eines rational-sinnerschließenden Zugriffs führt dazu, daß sich die Wirklichkeit vor dem bewußt- werdenden Menschen gleichsam ver schließt und ihm nunmehr bloß als opaker ,Block‘ undifferenzierbarer Faktizität fremd gegenübersteht. Als omnipräsente, aber gleichwohl unzu- gängliche nimmt die Realität für das Subjekt den Charakter einer bedrohlichen Übermacht an, welche Angst bzw. ,namenloses Entsetzen‘ (vgl. AM, 10) produziert.8

Weil ein derartiger Schrecken als Weltverhältnis jedoch „schlechthin nicht auf Dauer gebracht werden kann“ (AM, 11) ist das Subjekt sogleich gezwungen, Kompensations- strategien zu entwerfen - „Kunstgriffe“ der Rationalisierung (ibd.), die eine „Abmilderung des bitteren Ernstes“ (AM, 23) durch spontane Kreativität vollbringen. Für Blumenberg markiert dieser Abwehrreflex, der auf das ursprüngliche Gefühl existentieller Bedrohtheit antwortet, den Beginn menschlich-kultureller Selbstbehauptung. Indem sich das Individuum imstande sieht, der opaken Faktizität der Welt durch mythopoetische Leistungen eine Front „vorgeschobener imaginativer Instanzen“ (AM, 12) entgegenzustellen, bewirkt es eine „Supposition des Vertrauten für das Unvertraute, der Erklärungen für das Unerklärliche, der Benennungen für das Unnennbare“ (AM, 11). Mit diesem Schritt hat die Arbeit am Abbau der absolutistischen Wirklichkeit (vgl. AM, 13) schon begonnen, dessen Strategie ultimativ darauf abzielt, ein möglichst dichtes Netzwerk mythischer Ordnungen als „System des Willkürentzugs“ (AM, 50) über das kontingente Dasein zu projizieren.9

Wie Blumenberg andeutet, kann diese Tendenz zur imaginativen Überformung der Rea- lität mitunter zu einer relativ flächendeckenden ,Entkräftung‘ (vgl. AM, 17) ihres Einflusses führen. In jenem Fall hätten die Bilderwelten, welche das Subjekt ursprünglich aus einem akuten Sicherheitsbedürfnis entworfen hatte, ihrerseits eine Übermacht angenommen, deren hypothetisches Extrem Blumenberg als „Allmacht der Vorstellungen“ (AM, 16) bezeichnet. Mit diesem „Grenzwert von Realitätsprostration“ (AM, 17) wäre der größtmögliche Erfolg des Projekts humaner Selbstbehauptung markiert - eine unumschränkte „Suprematie des Sub- jekts“ (AM, 16), welchem es gelungen wäre, den bedrohlichen Gedanken der Intransparenz und Unverfügbarkeit des Daseins durch seine kreativen Leistungen vollständig abzuwehren.10

Hinsichtlich ihrer Erkenntnisqualität werden die so angenommenen Schutzvorrichtungen von Blumenberg ausdrücklich als bloße Annahmen charakterisiert: „Der Prävention korrespon- diert die Präsumtion“ (AM, 13). Damit wird das Bedürfnis nach Distanz, der Wille zur Selbst- behauptung, zur ausschließlichen Motivation für kulturelle Leistungen erklärt - der Wunsch nach Wahrheit hingegen bleibt weitgehend untergeordnet. Das Bewußtsein einer solchen Wahrheitsdimension - die Frage, ob sich zwischen dem vom Subjekt entworfenem Komplex mythischer Vorstellungen und der tatsächlichen Verfaßtheit des Daseins irgendeine Art von erkenntnisstiftender Konvergenz feststellen läßt - vermag sich laut Blumenberg nur negativ bemerkbar zu machen - dann nämlich, wenn sich ein Widerspruch zwischen beiden einstellt, der so drastisch ist, daß er „aufs Zentrum des Überlebens selbst durchgreift“ (ibd.). Der Bestand mythischer Annahmen reguliert sich somit anhand seiner „Unwiderlegbarkeit“ (ibd.) durch die Faktizität des Realen: „Zur Behauptung vor der übermächtigen Wirklichkeit über Jahrtausende hinweg werden sich Geschichten, denen nicht von der Wirklichkeit wider- sprochen werden konnte, durchgesetzt haben.“ (ibd.). Auf diese Weise fungiert die Wahrheits- frage als eine Art kritisches Korrektiv, als Selektionsmechanismus, der auf eine Balance - einen ,größten gemeinsamen Nenner’ - zwischen der anthropomorphen Lebenswelt subjektiver Wünsche und den unverrückbaren Tatsachen des objektiven Daseins abzielt

Anhand dieses ersten Überblicks wird somit deutlich, daß sich humaner Weltbezug für Blumenberg stets im Spannungsfeld zweier irreduzibler anthropologischer Kategorien kon- stituert: Zum einen kann sich menschliches Dasein prinzipiell nur auf der Grundlage eines immer schon vorgängigen existentiellen Schreckens angesichts der Übermacht des Wirklichen entwickeln - eines Schreckens, welcher sich als Erkenntnis der Indifferenz der Realität gegenüber den existentiellen Orientierungswunsch des Menschen begreifen ließe. Zum anderen ist das humane Weltverhältnis immer schon geprägt durch die unterschiedlichen emanzipatorischen Versuche einer Entlastung von ebendieser Übermacht - einer Entlastung, welche ihrerseits als Kompensation für die umfassende Enttäuschung menschlicher Sinn- erwartungen durch die Realität verstanden werden könnte. Daß diese „Entängstigung“ (AM, 18) durch ein imaginatives ,Überspielen‘ (vgl. AM, 14) der objektiven Wirklichkeit mit anthro- pomorph-rationalen Strukturen ebenfalls eine unhintergehbare Voraussetzung menschlicher Existenz darstellt, deutet sich bei Blumenberg in denjenigen Passagen an, die den funda- mentalen Interpretationscharakter des Daseins betonen: „[W]ir besitzen keine andere Wirklichkeit als die von uns ausgelegte“ (AM, 72). Immer schon diesseits der absolutistischen Wirklichkeit zu sein (vgl. AM, 15) hieße somit, sich immer schon diesseits des Faktischen, innerhalb des Hermeneutischen aufzuhalten.11 Sowenig sich deshalb eine vollkommen bruchlose ,Passung‘ des Menschen in seine Umwelt denken läßt, sowenig wäre andererseits ein blankes Zurücksinken in „archaische Resignation“ (AM, 13) mit der Definition desselben vereinbar. Über den Schrecken hinaus muß dem Subjekt ebenso die Poesie, die Fähigkeit zum Entwurf kreativer Strategien der Kontingenzbewältigung, notwendig inhärent sein.12

Nachdem Blumenberg im Eröffnungskapitel von Arbeit am Mythos das hypothetische Spektrum menschlichen Weltbezugs aufgespannt hat, interessiert er sich in den folgenden Ab- schnitten für eine fallgerechte Anwendung dieser Kategorien auf die geschichtlich-kulturelle Existenz des Menschen.

[...]


1 Vgl. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos (Frankfurt a.M. 1979, ²1984). Die Zitation erfolgt im fortlaufenden Text unter der Sigle AM.

2 Vgl. Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie, in: ders.: S ä mtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 B ä nden (Bd. 1), hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari (Berlin/New York 1988). Die Zitation erfolgt im fortlaufenden Text unter der Sigle GT.

3 Was Nietzsche betrifft, ist hiermit die historische Frühform des Mythos im ,naiven Apollinismus‘ griechischer Epik gemeint. Dieser erste Kulturreflex auf den ursprünglich pessimistischen Daseinsbezug illustriert - wie auch die ,sokratische Weltsicht‘ des Theoretischen Menschen - eine wesentlich irreflexive Variante der Kontingenz- bewältigung, welche Blumenbergs Vorstellung von der generell ursprungsabgewandten Distanzierungsfunktion des Mythos durchaus analog ist.

4 Die Frage nach der Selbsttransparenz des Mythischen findet in der Sekundärliteratur zu Blumenberg, soweit ich sehe, keine besondere Erörterung; für Nietzsche dagegen vgl. etwa Gianni Vattimo: Friedrich Nietzsche. Eine Einf ü hrung (Stuttgart 1992), S. 11 ff.

5 Vgl. Merker, Barbara: „Bedürfnis nach Bedeutsamkeit. Zwischen Lebenswelt und Absolutismus der Wirklichkeit“, in: Franz J. Wetz/Hermann Timm (Hrsg.): Die Kunst des Ü berlebens. Nachdenken ü ber Hans Blumenberg (Frankfurt a. M. 1999), S. 81 ff.

6 Die Korrespondenz von Bewußtseinsgenese und Biotopwechsel übernimmt Blumenberg von Arnold Gehlen, der seinerseits an Johann G. Herders Abhandlung ü ber den Ursprung der Sprache (1770) anknüpft.

7 Zu dieser ,existentialistischen‘ Deutung des Absolutismus der Wirklichkeit vgl. Merker, a.a.O., S. 68 ff. - Wie Merker erläutert (a.a.O., S. 80 f.), enttäuscht die Realität ontologisch das menschliche Bedürfnis nach Stabilität und Festigkeit, epistemisch dasjenige nach Ordnung, Gliederung und Prognostizierbarkeit, ethisch dasjenige nach Selbsterfüllung und Glück.

8 Insofern die existentielle Angst des archaischen Menschen gerade aus dem Unvermögen desselben, einzelne Gegenstände zu bestimmen, resultiert, ist sie notwendig universal. Blumenberg definiert sie deshalb konsequent als erwartungsvoll-gespannte „Intentionalität des Bewußtseins ohne Gegenstand“ (AM, 10). - Zur negativen Initialerfahrung des Schreckens wäre ein ursprüngliches Staunen angesichts der Wirklichkeit, wie Blumenberg es bei Aristoteles (Metaphysik I, 2) findet, das Gegenbeispiel für ein positives Urerlebnis bewußten Weltbezugs (vgl. AM, 33).

9 Hierunter versteht Blumenberg das gesamte Spektrum menschlicher Distanzleistungen - d.h. neben den spezifisch mythisch-künstlerischen Entwürfen auch Philosophie und Wissenschaft, Politik und Technik, sowie im allgemeinsten Sinne jede Art weltaneignender, strukturgebender Leistung. Aufgrund dieser anthropologischen Universalisierung des Projektionsbemühens weigert sich Blumenberg auch, eine prinzipielle Differenz zwischen Mythos und Logos anzuerkennen (vgl. AM, 18, 56): Ihr methodischer Gegensatz wird von ihrer gemeinsamen Selbstbehauptungsfunktion unterfangen.

10 Unter die historischen Realisierungen dieses Grenzwerts würden all jene Weltauffassungen fallen, welche den Einfluß einer realen Außenwelt auf das Subjekt gegen Null tendieren lassen - so z.B. ein Idealismus Fichte’scher Prägung, der alle Wirklichkeit nur als Vorstellung des Ichs begreift und das Bewußtsein aus jeglicher Abhängig- keit von objektiven ‚Dingen-an-sich‘ befreit. Blumenberg freilich versteht bereits den Siegeszug des antiken Mythos als frühe Manifestation dieses Extrems, wenn er das „dunkle Wort“ des Thales von Milet, es sei „alles voll von Göttern“ (AM, 31; Kursivierung getilgt), als Einsicht in die vollständige Überwindung der archaischen Übermachtserfahrung deutet, als „ein für allemal errungenen Erfolg der Bekanntheit ringsum“ (AM, 45).

11 In diesem von Blumenberg nur angedeuteten Gedanken läßt sich meines Erachtens eine weitere Parallele zum Denken Nietzsches entdecken - nicht zur Mythostheorie der frühen Ästhetik, sondern zur späten Theorie der universalen Auslegung (vgl. z. B. Genealogie der Moral III, 25, 426; Jenseits von Gut und Böse 22). Anders als in der Geburt der Tragödie wird Dasein hier nämlich nicht länger ,rest-ontologisch‘ verstanden, sondern ist schlichtweg nur als Interpretation faßbar.

12 Im historischen Rückblick wird deutlich, inwiefern diese duale Konzeption Blumenbergs die kulturphilo- sophischen Entwürfe der ersten Hälfte des 20. Jhdt.s - insbesondere die von Arnold Gehlen und Ernst Cassirer - aufgreift und einer Synthese zuführt: Während Gehlen den Blick eher negativ auf die existentielle Bedrohung lenkt, der das ,Mängelwesen‘ Mensch durch seine bewußte Weltoffenheit ausgesetzt ist, betont Cassirer dagegen eher positiv die kreative, lebens- und sinnstiftende Fähigkeit des Menschen, die schöpferische Potenz des ,animal symbolicum‘ zur Konstitution anthropomorpher Sekundärwelten. Vgl. Franz J. Wetz: Hans Blumenberg zur Einf ü hrung (Hamburg 2004), S. 96 f.

Ende der Leseprobe aus 27 Seiten

Details

Titel
Schrecken und Poesie
Untertitel
Zur Ambivalenz mythischer Selbsttransparenz bei Blumenberg und Nietzsche
Hochschule
Freie Universität Berlin  (Philosophisches Seminar)
Note
sehr gut (1,0)
Autor
Jahr
2005
Seiten
27
Katalognummer
V141824
ISBN (eBook)
9783640502462
ISBN (Buch)
9783640502387
Dateigröße
522 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Blumenberg, Arbeit am Mythos, Absolutismus der Wirklichkeit, humane Selbstbehauptung, Kulturphilosophie, Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Nietzsche, Geburt der Tragödie, dionysisch, apollinisch, Kunstphilosophie, ästhetische Metaphysik, Tragödie
Arbeit zitieren
M.A. Björn David Herzig (Autor:in), 2005, Schrecken und Poesie, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/141824

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