"Ein kleiner schlechter Geruch, etwas Schwefel, etwas Hölle"

Von Ekel und Geschlechtlichkeit in Kafkas "Verwandlung"


Trabajo, 2002

19 Páginas, Calificación: 1,7


Extracto


Gliederung

1. Vorbetrachtung

2. Onanie

3. Eheliche Sexualität und der Ekel davor

4. Inzestwünsche und Kindlichkeit

5. Macht und Gewalt

6. Der Essensrausch

7. Der (freiwillige?) Hungertod

8. Schlussbetrachtung

9. Literaturliste

1.Vorbetrachtung

Franz Kafka war ein Perverser. So oder ähnlich würde eine schnell herbeigeführte Meinung von Lesern lauten, die erstmalig Sexualität in Kafkas Werken entdecken. Und in der Tat ist der Bogen schnell vom misshandeltem Kind zum sexuell gestörten Autor geschlagen, wenn man den dünn gesäten Auskünften psychoanalytischer Texte Glauben schenkt. Gerade deswegen verführt diese überhastete These oftmals zu oberflächlichen Deutungen, die dann noch anhand biografischer Details unterlegt werden. Der „Brief an den Vater“ ist hierzu ein überaus beliebter Beweis. Doch Vorsicht ist geboten! Es wird zu beweisen sein, dass Kafkas „Verwandlung“ kein bloßes Abbild seiner Biografie darstellt, sogar viel mehr in sich birgt, wenn das Nichtgesagte zwischen den Zeilen erkannt wird.

Nur wenige Interpreten begaben sich auf neue Wege, indem sie die Geschlechtlichkeit in Kafkas Werken untersuchten. Der Autor Frank Möbus sei als einer genannt, der ungeachtet traditioneller Interpretationen (Vater- Sohn- Konflikt), besonders den Aspekt der Sexualität in der „Verwandlung“ herausstellt. Daneben existiert der Ekel, als ständiger Begleiter Kafkas, und ist damit unweigerlich mit der Sexualität verknüpft, so dass beide niemals getrennt betrachtet werden dürfen. Winfried Menninghaus ist diesbezüglich der zweite „forsche“ Autor, der an dieser Stelle genannt werden muss.

Die Untersuchung der Motive Geschlechtlichkeit und Ekel in der „Verwandlung“ soll jedoch nicht dazu führen, die Intention des Autors beim Schreiben der Erzählung völlig auf diese beiden zu reduzieren. Es wäre falsch Franz Kafka zu unterstellen, die Novelle als perversen Erguss benutzt zu haben. Folglich sind diese Motive nur zusätzliche Hinweise bei einer Interpretation der „Verwandlung“.

2. Onanie

Gregor Samsa erwacht eines Morgens aus unruhigen Träumen. Er ist wundersam verwandelt, aber seine Umwelt, Menschen und Arbeitsbedingungen sind gleichgeblieben. Er ist ein Käfer, was er zunächst für reine Einbildung hält, und noch kann ihn das nicht schocken. In der festen Überzeugung, die anstrengende Arbeit, das schlechte Essen und die Reiserei verursachen sein „Unwohlsein“[1] betrachtet und entdeckt er seinen andersartigen Körper.

„ Mit welcher Kraft er sich auch auf diese rechte Seite warf, immer wieder schaukelte er in die Rückenlage zurück. Er versuchte es wohl hundertmal, schloß die Augen, um die zappelnden Beine nicht sehen zu müssen, und ließ erst ab, als er in der Seite einen noch nie gefühlten, leichten, dumpfen Schmerz zu fühlen begann [...] er fühlte ein leichtes Jucken oben auf dem Bauch; schob sich auf dem Rücken langsam näher zum Bettpfosten, um den Kopf besser heben zu können; fand die juckende Stelle, die mit lauter kleinen weißen Pünktchen besetzt war, die er nicht zu beurteilen verstand; und wollte mit einem Bein die Stelle betasten, zog es aber gleich zurück, denn bei der Berührung umwehte ihn ein Kälteschauer. Er glitt wieder in seine frühere Lage zurück.“[2]

Was der Leser der „Verwandlung“ hier erfährt, muss ihn stutzen lassen. Welcher Käfer besitzt solch` außergewöhnliche Anatomie, die durch halbförmige Versteifungen die Decke schweben lässt? Und zudem, in welchem Insektenhandbuch existieren Käfer mit runden weißbefleckten Bäuchen? Die Szene schreit vor Komik und ist deshalb eine perfekte Tarnung Kafkas, das menschlichste „Vergehen“ eines Jeden in das Werk einfließen zu lassen. Die Onanie, so Frank Möbus, ist an dieser Stelle schlicht unübersehbar. Einzig und allein die Intention des Autors steht hier zur Frage. Zu Kafkas Lebzeiten galt die Onanie als eine Krankheit und wurde deshalb als Wahn verstanden. Siegmund Freud beschrieb diesen Vorgang als einen durch neurotische Störungen verursachten Drang, von dem häufig Käfer (!) und Schmetterlinge betroffen sind. Ist es möglich, dass Gregor sich in das primitivste Wesen verwandelt hat, welches frei von jeglicher Verantwortung für sich selbst und der Umwelt seinen Trieben nachgeben kann? Die Parallelen zu einem Werk Dostojewskis könnten diese These bestätigen. Stellt Mitja in „Die Brüder Karamasow“ gleich mehrmals die Frage, ob er eine Wanze sei, wenn die Wollust ihn übermannt, so ist die Verwandtschaft zu Kafkas Käfer unübersehbar. Zudem betonte der Autor selbst seine Blutsverwandtschaft mit Dostojewski. Es ist unwahrscheinlich, dass dem „Vielleser“ Kafka jene prägnanten Stellen seines Lieblingsautors nicht auffielen. Auch verbreitete sich zu jener Zeit ein für die Gesellschaft skandalträchtiges Werk namens „Die Venus im Pelz“ von Sacher- Masoch, in dem die Erotik einer Dame im Pelz im Vordergrund steht. Gregor besitzt ein solches Bild. Aus einer Illustrierten ausgeschnitten, hängt es umrahmt an der Wand seines Zimmers. Er verteidigt es tapfer, als es ihm durch Mutter und Schwester genommen werden soll.

„Und so brach er denn hervor [...] ,wechselte viermal die Richtung des Laufes, er wußte wirklich nicht, was er zuerst retten sollte, da sah er an der im übrigen schon leeren Wand auffallend das Bild der in lauter Pelzwerk gekleideten Dame hängen, kroch eilends hinauf und presste sich an das Glas, das ihn festhielt und seinem heißen Bauch wohltat.“[3]

Möbus´ These scheint dem Interpret plausibel, da die Analogien der „Verwandlung“ zur „Venus im Pelz“ tatsächlich zahlreich sind. Die verhüllte, aber dennoch obszön wirkende Frau auf dem Bild ist jedes Mal „Anlass“ für Gregor, sexuelle Lust zu verspüren. Trotz seiner Gestalt als Ungeziefer, als demütiges Insekt lässt er seinen Trieben freien Lauf.

Gregor hält hier eindeutig an einem Schatz fest, den er nie missen will. Er verhält sich, obwohl er ein erwachsener Werktätiger ist wie ein Halbwüchsiger, der sich an einem banalen Frauenbild aufgeilt, weil er in der Realität Frauen nicht greifen kann. Er hatte zwar schon eine Auserwählte, wartete jedoch zu lange, ehe er sie auf seine Absichten ansprach. Der Kontakt zu Frauen ist der eines scheuen, in sich gekehrten Jugendlichen, der seinen Trieben in der Onanie freien Lauf lässt. Ein weiteres Indiz der eigentlichen Unreife Gregors ist die Verschwendung seiner Freizeit mit dem Studieren von Fahrplänen , Laubsägen etc.. Kafkas Held ist zur Eigenliebe verdammt.

Definiert man nun aber Onanie direkt als ein auf das innere Erleben des Individuums ausgerichtetes Konzept, das nicht auf sozialen Interaktionen basiert, fällt besonders die Abgrenzung von der Ehe ins Gewicht. Ist die Onanie nicht ein Vorgang, der die fleischliche Lust zu zweit ausschließt? Basiert die Intention Kafkas bei der „Onanieszene“ auf dem Widerwillen gegenüber Partnerschaft, Ehe und Fortpflanzung?

3. Eheliche Sexualität und der Ekel davor

In der „samsaschen“ patriarchalischen Familie herrschen Gefühlsarmut und fehlende Nestwärme. Die kleinbürgerliche Gemeinschaft, in der Herzenswärme oder Zärtlichkeit keinen Platz finden, demonstriert eine gefühllose Familienform.

Die Thematik der Ehe und deren Pflichten waren auch privat für Kafka von großer Bedeutung, so dass der Interpret durchaus anhand biographischer Details arbeiten darf. Schon von klein auf war Kafka unfähig, körperliche oder räumliche Nähe zu ertragen. Fehler in der Erziehung und Liebesentzug prägten sowohl sein Sexualverhalten als auch die Ängste davor. Das Gefühl des Versagens, des Nichtgenügens oder der körperlichen Lächerlichkeit begleiteten ihn bis an sein Lebensende. Schon immer hatten alle sexuellen Kontakte, Regungen und Triebe etwas furchtbar Peinliches, Schmutziges und Widerliches an sich, denen er widerstehen musste, natürlicherweise aber nicht konnte. Kafka war kaum imstande, Verwandtschaftsbesuche oder Freundschaften zu ertragen. Vor allem der Sexualekel zwischen Ehepaaren nahm rapide Formen an. Die Ehe bedeutete alles, was Kafka nicht wollte. Sie war gleichzeitig Hort der sexuellen Lüste, aber doch in erster Linie Hort der Fortpflanzung. In ihr wiederholen sich immer wieder die gleichen Szenen von Abhängigkeit, Macht, Körperlichkeit und Zeugung. Die Absicht auf Nachkommenschaft und die Unausweichlichkeit des ehelichen Joches, nämlich die demütige gegenseitige Pflichterfüllung, ließen Kafka erschrecken und ekeln. Aus diesem Grunde und aus Angst, dem Partner gegenüber ungenügend zu sein, blieb ihm und den Helden in seinen Büchern nur die Lebensweise als Junggeselle. Die Sehnsucht nach Isolation und die erhoffte Konzentration auf das eigene Ich ohne den Versuchungen zu erliegen, die in einer Ehe lauern, lassen auf eine Flucht vor Familienverband und „Fortpflanzungssystem“ schließen. Der bloße Gedanke an kopulierende Eheleute rief bei Kafka reinen Widerwillen hervor, der durch ständige Konfrontationen mit seiner Familie und Verwandtschaft verstärkt wurde, denn durch tägliche Einmischung der Familie in sein Leben, durch erhöhte Ansprüche, durch Forderungen und Drängungen jedes Einzelnen musste Franz Kafka selbst das Gefühl gehabt haben, penetriert zu werden. Der daraus resultierende soziale Ekel, gekoppelt an den Widerlichkeiten des ehelichen Sexes, ist bei jeder Vereinigung in Kafkas Büchern als Akt der Schmutzigkeit zu finden.[4]

[...]


[1] Vgl. Möbus, F.: Sünden- Fälle. Die Geschlechtlichkeit in Erzählungen Franz Kafkas. Göttingen 1999. S. 52

[2] Vgl. Kafka, F.: Die Verwandlung. Hrsg: Reclam. Stuttgart 1995. S. 6

[3] Vgl. Kafka, F.: Die Verwandlung. S. 39

[4] Vgl. Menninghaus, W.: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt a. Main 1999. S. 380- 427

Final del extracto de 19 páginas

Detalles

Título
"Ein kleiner schlechter Geruch, etwas Schwefel, etwas Hölle"
Subtítulo
Von Ekel und Geschlechtlichkeit in Kafkas "Verwandlung"
Universidad
University of Leipzig  (Philologische Fakultät)
Curso
Hauptseminar: Das Böse in der Literatur
Calificación
1,7
Autor
Año
2002
Páginas
19
No. de catálogo
V14187
ISBN (Ebook)
9783638196567
ISBN (Libro)
9783656036234
Tamaño de fichero
378 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Geruch, Schwefel, Hölle, Ekel, Geschlechtlichkeit, Kafkas, Verwandlung, Hauptseminar, Böse, Literatur
Citar trabajo
Stephanie Lorenz (Autor), 2002, "Ein kleiner schlechter Geruch, etwas Schwefel, etwas Hölle", Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14187

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