Der Begriff der Solidarität nach Heinrich Pesch im wissenschaftlichen Zusammenhang mit der christlichen Sozialethik des 19. und 20. Jahrhunderts


Dossier / Travail de Séminaire, 2006

24 Pages, Note: 1,3


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

I. Der begriffliche Ausgangspunkt
I.1 Solidarität
I.2 Die christliche Sozialethik
I.3 Die katholische Soziallehre

II. Die Anfänge der katholischen Soziallehre im nationalen Deutschland
II.1 Die Zeit des Kulturkampfes
II.2 Die Kaiserzeit in Deutschland von 1871 bis 1918 (Ära des Bismarckreiches)

III. Die sozialen Prinzipien und das Verständnis von Solidarität nach Heinrich Pesch
III.1 Heinrich Peschs Abgrenzung zur Gesellschaftslehre von Adam Müller (Einfluss Schule der Nationalökonomie)
III.2 Differenzierung zu der Betrachtungsweise von Theodor Meyer
III.3 Der Einfluss des Jesuitenordens auf die Arbeit von Heinrich Pesch

IV. Die Verbindung Heinrich Peschs zu den religiösen Prinzipien von Gustav Gundlach und Oswald von Nell-Breuning

V. Die Beurteilung der katholischen Kirche und der Sozialenzykliken Rerum novarum und Quadragesimo anno

Schluss.

Literaturverzeichnis

Vorwort

Diese Hausarbeit wurde im Rahmen des Seminars „Theorien der Solidarität“ im Sommersemester 2006 an der Universität Potsdam von Carl-Martin Hißler geschrieben, unter der Leitung von Herrn Dr. Thomas Fiegle. Die gegenwärtige Studie ist integriert in den Kontext des Theoriestranges „Transfer der Begrifflichkeit vom traditionellen Verständnis der Gemeinschaft und Gruppenzugehörigkeit zum neueren und gegebenenfalls herausfordernden Verständnis der christlichen Soziallehre des 19. Jahrhunderts“, welcher im Seminar[1] in Teilen behandelt wurde. Im Fokus dieser sozialwissenschaftlichen Analyse steht der Nationalökonom, Moraltheologe und Sozialethiker Heinrich Pesch (1854-1926) mit seiner klassischen Form der Sozialprinzipien und dem Verbreiten der Maximen der christlichen Wirtschafts- und Sozialordnung. Zum besseren Verständnis werden vorerst die Anfänge der katholischen Soziallehre näher erläutert (Kapitel II). Dabei spielen der Kulturkampf und die Ära des Bismarckreiches eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung der katholischen Soziallehre im Deutschland des 19. Jahrhunderts und beginnenden 20. Jahrhunderts.

Im Kapitel III werden schließlich die Zusammenhänge der Sozialprinzipien Heinrich Peschs näher erläutert. Zusätzlich werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bezug auf die Theorien von Adam Müller und Theodor Meyer herausgearbeitet. Wichtig ist hierbei, dass die theologischen Studien Heinrich Peschs sowie seine Beurteilungen der sozialen Lebensumstände der Arbeiterschaft in der Zeit der europäischen Industrialisierung aufgrund der sozialen Stellung des Arbeiters stets von verschiedenen Faktoren beeinflusst wurden, nicht zuletzt durch den Eintritt in den Jesuitenorden und das Studium der Philosophie in den Niederlanden. Im vierten Kapitel werden die Studien von Heinrich Pesch mit den Vertretern des beginnenden 20. Jahrhunderts verglichen. Eine große Rolle spielen hierbei Gustav Gundlach (Jesuit und Sozialwissenschaftler) sowie Oswald von Nell-Breuning (Jesuit und Priester), der für Papst Pius XI den Entwurf der Sozialenzyklika „Quadragesimo anno“ erarbeitete und dessen Lebenswerk unter anderem gekennzeichnet ist durch sein Bemühen um die Versöhnung der katholischen Arbeiterschaft mit den Gewerkschaften auf sozialistischer und christlicher Grundlage.

Abschließend wird das Verhältnis des Solidaritätsverständnisses von Heinrich Pesch mit den Sozialenzykliken der katholischen Kirche sowie die verschiedenen politischen Strömungen innerhalb der katholischen Kirche im Sinne der sozialwissenschaftlichen Analyse interpretiert und beurteilt (Kapitel V).

Einleitung

Die Diskussion um die Entwicklung des Deutschen Katholizismus im Zeitraum von 1870 bis zur Zeit nach dem Ersten Weltkrieg im 20. Jahrhundert basiert vorrangig auf dem Verhältnis von Kirche, Staat und Gesellschaft. Dieses Verhältnis ist differenziert zu betrachten, da es in der Chronologie seit 1848, aber auch schon vorher, geprägt wurde durch den Konflikt zwischen Antiliberalismus und Ultramontanismus. Das Verständnis über diesen Konflikt ist aber unabdingbar und notwendig, um die Leitideen von Heinrich Pesch nachvollziehen und besser beurteilen zu können. Folglich werden zu Beginn dieser Hausarbeit die historischen Ursprünge und Hintergründe für die Entstehung der späteren Soziallehre und der Sozialprinzipien Heinrich Peschs kurz erläutert.

Zu Beginn der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts bestand die Hauptaufgabe der deutschen Katholiken darin, ihr Verhältnis zu der durch Preußen vorangetriebenen deutschen Einheit zu definieren. Die Beziehung zwischen Kirche und preußischem Staat galt als insgesamt zufriedenstellend und wurde auch von Bismarck grundsätzlich bewusst gepflegt. Die im deutschen Katholizismus aufkommenden Integrationstendenzen zur Befürwortung politischer Teilhabe und politischer Kompromisse hatten aber auch ihre Kritiker, wie z.B. den einflussreichen Publizisten Edmund Jörg, Herausgeber der „Historisch-politischen Blätter“, der die positive Wendung zur preußisch-deutschen Politik nicht nachvollziehen konnte. (Lönne, 152)

Folglich entstand in der Gesellschaft ein Konfliktpotential im Verhältnis von Staat und Kirche aus den übergreifenden, weltanschaulichen Auseinandersetzungen der damaligen Zeit. Döllinger[2] hingegen versuchte, eine Spaltung zu vermeiden, indem er durch seine Dienste innerhalb des Lehrbetriebs der Theologie versuchte, die Theologie insgesamt auf die Höhe zu führen, welche die Maßstäbe der Zeit erforderten. Eine allgemeine Anerkennung fand er aber nicht und die Notwendigkeit eines wissenschaftlich ausgelegten Klerus wurde keineswegs überall verstanden. (Hürten, 126)

In der zur Verfügung stehenden Literatur wird an mehreren Stellen die Verschärfung des Konfliktes durch Papst Pius IX[3] dargestellt. Dieser hatte im Jahre 1864 eine Zusammenstellung von seinen bereits veröffentlichten Auffassungen des kirchlichen und politischen Lebens erstellt (Syllabus), worin vor allem die kritischen Auffassungen über den Liberalismus genannt wurden. Daraufhin veröffentlichte der bayerische Ministerpräsident Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingfürst in einer amtlichen Depesche, dass die Artikel des Syllabus gegen mehrere wichtige Axiome des Staatslebens, wie es sich bei allen Kulturvölkern gestaltet hat, gerichtet seien. Der Autor Heinz Hürten schließt hier zunächst mit den Worten ab, dass mit dem Syllabus und den Diskussionen über dessen Inhalt die Spannungen zwischen Katholizismus und Zeitgeist noch größer geworden waren. Das am 18. Juli 1870 verkündete Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes hatte auch für die katholische Bewegung einen markanten Einschnitt zur Folge. Aus der Sicht des Liberalismus wurde diese Glaubenslehre noch stärker kritisiert und als Herausforderung betrachtet, als der Syllabus. Die Vertreter des Liberalismus sahen hier eine klare Politisierung des Konflikts. Hürten beschreibt hier, dass diese Spannungen zwischen der papsttreuen Kirche und dem von Liberalen beherrschten oder beeinflussten Staat zu Kulturkämpfen in ganz Europa eskalierten, in denen die Vorkämpfer der angeblich bedrohten Geistesfreiheit die Kirche unter strengere Staatskontrolle bringen und ihren Einfluss auf die Gesellschaft beschneiden wollten. (Hürten, 133)

Die Auseinandersetzungen bezogen sich auch auf die Frage nach der politischen und sozialen Existenz der Kirche. Im beginnenden Kulturkampf gewinnt der Begriff der Solidarität neu an Bedeutung, vor allem im katholischen Denken. Heinrich Pesch vertritt in diesem Konflikt eine klare Position als Verfechter der Prinzipien der christlichen Wirtschafts- und Sozialordnung des Mittelalters. (Fiegle, 262)

Er stellt dabei der vorherrschenden Polarität von individualistisch orientiertem Liberalismus und kollektivistisch entworfenem Sozialismus den von ihm entwickelten Solidarismus entgegen. Dadurch gelingt es ihm, die beiden existenten Gesellschaftsentwürfe aufzubrechen. Voraussetzung für diese Reformierung war unter anderem sein gründliches Studium der nationalökonomischen Zusammenhänge.[4] Für Heinrich Pesch ist der Mensch abhängig von seiner eigenen Sozialnatur, vom menschlichen Wesen als soziales Glied in einer Gesellschaft. Person und Gesellschaft stehen in einem wechselseitigen Zuordnungs- und Abhängigkeitsverhältnis, wobei ein Kompromiss geschaffen werden muss zwischen der Freiheit des Einzelnen und den Verpflichtungen, die sich aus den legitimen Freiheitsansprüchen ergeben.[5] Sein Festhalten am christlichen Menschenbild ist gekennzeichnet durch die Beschreibung des Menschen als Träger und Schöpfer, wobei das christliche Menschenbild das Ziel allen gesellschaftlichen Handelns sei. Seine unveräußerliche Würde wird in der christlichen Glaubensüberzeugung begründ]et, dass der Mensch als Bild Gottes erschaffen wurde. Heinrich Peschs Verständnis von Gesellschaft hat ihren Niederschlag im Grundgesetz gefunden. Die Grundsätze, aus denen Heinrich Pesch seine Sozialethik entwickelte, sind in einigen Punkten zusammen zu fassen:

- Ablehnung des kommunistischen Sozialismus
- Ablehnung des manchester-freiwirtschaftlichen Individualismus
- Ablehnung eines Kapitalismus, der die Wirtschaft allein durch das Interesse des Kapitalbesitzes beherrscht wissen will[6]

Mit welchen Methoden Heinrich Pesch seine Position zur Solidarität unterstützt und wie Heinrich Pesch die Entwicklung der katholischen Soziallehre beschreibt, soll in der folgenden sozialwissenschaftlichen Analyse genauer untersucht werden.[7] Zudem steht im Fokus der Betrachtung die Grundfrage, wie Heinrich Pesch den Begriff „Solidarität“ definiert und wertet. Darüber hinaus sollen Fragen geklärt werden, wie das erste Entwicklungsstadium der katholischen Soziallehre aussah und welche Zusammenhänge erkennbar sind zwischen den religiösen Prinzipien von Heinrich Pesch, Adam Müller und Theodor Meyer (19. Jahrhundert) sowie den Ansichten von Joseph Kardinal Höffner, Johannes Messner, Gustav Gundlach und Oswald von Nell-Breuning (20. Jahrhundert)?

Welche Gemeinsamkeiten bestehen bei der Definition des Solidaritätsbegriffs? Welche Einflüsse prägen die Ausrichtung der christlichen Soziallehre und des Solidaritätsverständnisses (geistig, religiös, politisch); wie sieht das Verhältnis zu den päpstlichen Enzykliken (im Vordergrund die Sozialenzykliken) aus? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt dieser Arbeit. Dabei werden die zur Verfügung stehenden Quellen in deskriptiver, vergleichender und wertender Form genutzt. Aufgrund der Komplexität der Strukturen des Vatikan und dessen Suborganisationen soll sich die Analyse hier nur auf die Punkte beschränken, die in direktem Zusammenhang stehen mit dem Begriff Solidarität und der Person Heinrich Pesch.

I. Der begriffliche Ausgangspunkt

I.1 Solidarität

Solidarität (aus dem neulateinischen bzw. französischen) bedeutet im soziologischen Sinn die innere Verbundenheit der Mitglieder einer Gruppe oder eines anderen sozialen Gebildes. Ursprünglich stammt der Begriff aus dem römischen Recht. Eine „obligatio in solidum“ meinte eine Form der Gemeinhaftung, durch die die Mitglieder einer Gruppe füreinander haftbar gemacht werden konnten.

Gerhard Kruip begründet die Forderung nach Solidarität mit den gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Demnach hatte die Forderung nach Solidarität immer etwas mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen zu tun. Zur Zeit der Französischen Revolution wird der Begriff Solidarität im Zusammenhang mit den Begriffen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verwendet, in der Folgezeit entsteht eine Verknüpfung mit dem Gedanken nationaler Identität. (Kruip, 3)

Laut Kruip wird der Begriff der Solidarität im 19. Jahrhundert in der entstehenden Soziologie wiederum anders verstanden, nämlich als Zusammenhalt oder Integration von Gesellschaften, die sich immer arbeitsteilig organisieren. Ferner nennt Kruip die Begriffsverwendung durch Émile Durkheim[8], welcher die mechanische (Zusammenhalt auf der Grundlage gleicher Interessen) von der organischen Solidarität (Zusammenhalt auf der Grundlage wechselseitiger Verflechtungen, Abhängigkeiten) unterscheidet. Daran knüpft die katholische Soziallehre an, welche in Punkt I.3 näher beschrieben wird.

I.2 Die christliche Sozialethik

In seiner Einführung zur christlichen Sozialethik differenziert Arno Anzenbacher zunächst zwischen den Begriffen Individualethik und Sozialethik. Bei der Individualethik geht es demnach darum, Einstellungen und Handlungsmotive individueller Personen moralisch zu beurteilen. Vorausgesetzt wird dabei die volle Souveränität des Individuums in der Umsetzung der Handlungsmotive. Bei der Sozialethik nach Anzenbacher besteht eine moralische Bewertung des Sozialen, d.h. des sozialen Verhältnisses, der Strukturen, Regelsysteme und Ordnungen, in denen ein Individuum lebt. Hier besteht die zentrale Frage darin, ob gegebene institutionelle Gebilde gerecht sind. Als notwendige Bestrebung wird die ständige Überprüfung und das kritische Hinterfragen bestehender Systeme genannt.

[...]


[1] Abschnitt: Die Systematisierung des Begriffs in Deutschland im 19. Jahrhundert

[2] Döllinger, Sprecher des Katholischen Clubs in der Paulskirche, Kirchenhistoriker mit weltweitem Ansehen, gab dem Lehrbetrieb der Theologie wichtige Impulse

[3] Vgl. Brockhaus 1998: Papst Pius IX. (1846 bis 1878), verkündete 1854 das Dogma der Unbefleckten

Empfängnis Mariä; berief das 1. Vatikanische Konzil ein, das die päpstliche Unfehlbarkeit zum Dogma erhob (1870).

[4] Vgl. Biographie, Zusammenfassung von Helmut Zenz, URL : http://www.helmut-zenz.de/hzpesch.html

[5] Vgl. Kruip, Gerhard: „Gerechtigkeit und Solidarität - Neue Antworten auf alte Fragen gesucht“, unkorrigiertes Manuskript zur Verfügung gestellt vom NDR, Hannover 2004, URL: http://www.ndrkultur.de

[6] Vgl. Heinrich Pesch Haus, URL: http://www.heinrich-pesch-haus.de

[7] u.a. Pesch, Heinrich: „Die soziale Befähigung der Kirche“, vermehrte Auflage, Verlag der Germania Aktiengesellschaft für Verlag und Druckerei, Berlin, 1899

[8] Émile Durkheim (1858 bis 1917), französischer Philosoph und Soziologe, Durkheim betonte, dass die Gesellschaft mehr ist als die Summe der Individuen, die zu ihr gehören. Laut Durkheim kann eine Gesellschaft nicht mit biologischen oder psychologischen Begriffen erklärt werden.

Fin de l'extrait de 24 pages

Résumé des informations

Titre
Der Begriff der Solidarität nach Heinrich Pesch im wissenschaftlichen Zusammenhang mit der christlichen Sozialethik des 19. und 20. Jahrhunderts
Université
University of Potsdam  (Professur für Politische Theorie)
Cours
Theorien der Solidarität
Note
1,3
Auteur
Année
2006
Pages
24
N° de catalogue
V141897
ISBN (ebook)
9783640499175
ISBN (Livre)
9783640499298
Taille d'un fichier
481 KB
Langue
allemand
Annotations
Diese Hauptseminararbeit wurde im Sommersemester 2006 an der Universität Potsdam geschrieben und mit 1,3 (sehr gut) bewertet.
Mots clés
Heinrich Pesch, Pesch, Solidarität, Sozialethik, christliche Sozialethik
Citation du texte
Dipl. Pol. Carl-Martin Hißler (Auteur), 2006, Der Begriff der Solidarität nach Heinrich Pesch im wissenschaftlichen Zusammenhang mit der christlichen Sozialethik des 19. und 20. Jahrhunderts, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/141897

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