Carlos Saura. Themen, Motive und Stilmittel im Werk des spanischen Filmregisseurs. Eine Analyse


Diplomarbeit, 2002

167 Seiten, Note: Sehr gut


Leseprobe


Inhalt

1. Einleitung

2. Die neoformalistische Filmanalyse
2.1 Über die Natur des Kunstwerkes
2.2 Das Medium Film und die filmischen Verfahren
2.3 Die aktive Rolle des Zuschauers
2.4 Hypothesenbildung durch Denkmuster
2.5 Wichtige Begriffe für die Analyse narrativer Filme
2.6 Zusammenfassung

3. Leben und Werk Carlos Sauras
3.1 Die ersten Jahre
3.1.1 Kindheit
3.1.2 Jugend und Studium
3.1.3 Privatleben
3.2 Filmübersicht
3.2.1 Kurzfilme Flamenco
El pequeño rio Manzanares (Der kleine Fluss Manzanares)
La tarde del domingo (Sonntagnachmittag)
Cuenca
3.2.2 Langspielfilme
Los golfos (Die Straßenjungen)
Llanto por un bandido (Córdoba)
La caza (Die Jagd)
Peppermint frappé
Stress es tres, tres (Stress zu dritt)
La madriguera (Höhle der Erinnerungen)
El jardin de las delicias (Der Garten der Lüste)
Ana y los lobos (Anna und die Wölfe)
La prima Angélica (Die Cousine Angelika)
Cría cuervos (Züchte Raben)
Elisa, vida mía (Elisa, mein Leben)
Los ojos vendados (Mit verbundenen Augen)
Mamá cumple cien años (Mama wird hundert)
Deprisa, deprisa (Los, Tempo!)
Bodas de sangre (Bluthochzeit)
Dulces horas (Zärtliche Stunden)
Antonieta
Carmen
Los zancos (Zeit der Illusionen)
El amor brujo (Liebeszauber)
El Dorado (El Dorado – Gier nach Gold)
La noche oscura (Die dunkle Nacht)
¡Ay, Carmela! (Ay, Carmela – Lied der Freiheit)
El sur (Der Süden)
Sevillanas
Maratón (Marathon: Die Flamme des Friedens)
¡Dispara! (Schieß!)
Flamenco
Taxi (Im Schutz der Nacht)
Pajarico (Kleiner Vogel)
Tango
Goya en Burdeos (Goya in Bordeaux)
Buñuel y la mesa del Rey Salomón
(Buñuel und der Tisch des König Salomon)
Salomé
3.3 Weitere Arbeitsfelder

4. Analyse des Saura‘schen Gesamtwerkes
4.1 Die Generalthemen
4.1.1 Darstellung aktueller Phänomene der spanischen Gesellschaft
4.1.2 Darstellung historischer spanischer Persönlichkeiten
4.1.3 Darstellung spanischer Kunst und Kultur
4.1.4 Darstellung spanischer Geschichte
4.1.5 Sonstige Themengebiete
4.2 Häufig wiederkehrende Motive
4.2.1 Das Motiv der Extremsituation der Hauptfigur
4.2.2 Das Motiv des Todes
4.2.3 Das Motiv der Liebe
4.2.4 Das Motiv der Erinnerung
4.2.5 Das Motiv des spanischen Bürgerkrieges
4.2.6 Das Motiv der doppelbödigen Inszenierung
4.2.7 Das Motiv der selbstbezüglichen Narration
4.3 Stilmittel
4.3.1 Die Vermischung und Überlagerung der Bewusstseinsebenen
4.3.2 Die realistische Filmästhetik
4.3.3 Die verschlüsselte Filmsprache
4.3.4 Der geschlossene Erzählraum
4.3.5 Der Einsatz von Licht, Farben und Spiegeln
4.3.6 Das Sichtbarmachen des Unsichtbaren
4.3.7 Sonstige Stilmittel
4.4 Besonderheiten

5. Sauras Arbeit im Spiegel der Öffentlichkeit
5.1 Behinderung und späte Anerkennung in Spanien
5.1.1 Schwierigkeiten mit der spanischen Zensur
5.1.2 Wenig Erfolg bei Kritik und Publikum
5.1.3 Späte spanische Preise
5.2 Bekanntheit und Ansehen in Deutschland
5.2.1 Carlos Saura? Ach, der mit der Carmen
5.2.2 Anerkennung durch Berlinale und Kritiker
5.2.3 Carlos Saura – ein "überaus umgänglicher und freundlicher Mensch"
5.3 Zwei Linien und mehr Über die unterschiedlichen Versuche die Saura-Filme zu klassifizieren
5.4 Saura über Saura

6. Schlussbemerkung

Quellen

Anhang
Filmüberblick
Interview mit Carlos Saura

Eidesstattliche Erklärung

Danksagung

1. Einleitung

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Bild umseitig: Selbstporträt Sauras mit seiner Schwester Pilar, 1949

Quelle: Galaxia Gutenberg, S. 60

Wer ist eigentlich Carlos Saura?

Dieser spanische Regisseur, der eine Handvoll Tanzfilme gedreht hat? Stimmt. Nicht ganz.

Der Spanier Carlos Saura hat vier Kurzund 34 Langspielfilme gedreht, Theaterstücke und Opern inszeniert, eine Kurzgeschichte und einen Roman geschrieben, gezeichnet, geschauspielert und leidenschaftlich fotografiert. Das weiß nur kaum jemand. Wie auch?

In Deutschland waren Sauras Filme selten im Kino zu sehen; die wenigen Veröffentlichungen zu seinem Werk liegen Jahre zurück und integrieren folglich Sauras jüngere Arbeiten nicht.1 Die übrigen Rezensionen konzentrieren sich fast ausschließlich auf einen einzelnen Film und zwar fast immer auf Carmen , Sauras Welterfolg. Selten werden zwei bis drei Filme genauer untersucht, wie etwa 1994 bei Gompper. Niemand hat sich bisher an einer Analyse des Saura’schen Gesamtwerkes versucht. Einzelne Beobachtungen sind freilich an unterschiedlichen Stellen eingestreut, können so aber nicht auf einen Blick erfasst werden. Das ist bedauerlich und ein bisschen unbegreiflich - erweist sich doch Sauras Werk schon beim ersten Hinsehen als derart facettenreich, dass es ein Vergnügen ist, sich näher damit zu beschäftigen. Zu spät ist es allerdings nie, und so ist die vorliegende Arbeit die erste, welche Sauras Werk in seiner Gesamtheit vorstellen und sowohl inhaltlich als auch filmtechnisch analysieren wird.

Es ist mein Wunsch, hierdurch nicht nur den Regisseur und die spezifischen Merkmale seiner Arbeit herauszukristallisieren, sondern auch den Menschen dahinter erkennen oder wenigstens erahnen zu lassen.

Jede Analyse benötigt ein theoretisches Fundament. Im vorliegenden Fall ist es der Ansatz der neoformalistischen Filmanalyse, auf welchen sich die Ausführungen stützen. Die methodischen Grundlagen des Neoformalismus, welche sich nicht nur auf Filme sondern auf Kunstwerke generell beziehen, nehmen daher den ersten Abschnitt dieser Arbeit ein.

Der zweite Abschnitt stellt Leben und Werk des Spaniers vor. Ein kurzer biografischer Teil schildert Kindheit und Jugend des jungen Saura und endet, als dieser beginnt, Filme zu drehen. Die sich anschließende Filmübersicht enthält neben der inhaltlichen Beschreibung aller Filme auch deren filmtechnische Besonderheiten. Auf Kritik, Preise, Erfolg oder Misserfolg der Arbeiten wird ebenfalls eingegangen. Sauras weitere Tätigkeiten schließen die Werkvorstellung ab.

Der dritte Abschnitt bildet den Hauptteil der Arbeit, denn in ihm wird das abwechslungsreiche Gesamtwerk analysiert. Die Ergebnisse sind in vier Kategorien - Generalthemen, Motive, Stilmittel und Besonderheiten - eingeteilt, welche die verschiedenen Aspekte der Arbeiten aufzeigen.

Der letzte Abschnitt wirft einen Blick auf das vielschichtige Verhältnis zwischen Carlos Saura und der Öffentlichkeit. Seine Schwierigkeiten mit der spanischen Zensur, die Resonanz seiner Arbeiten bei Publikum und Presse und die verschiedenen Versuche der Fachwelt, sein Werk zu klassifizieren, werden hier noch einmal zusammenfassend dargestellt. Der Regisseur selbst kommt gleichfalls zu Wort, führt Gedanken zu seinen Filmen und seiner Arbeitsweise aus. Die Schlussbemerkung resümiert und bewertet die gewonnenen Erkenntnisse.

Mein persönliches Interesse an Sauras Werk ist erst durch die Beschäftigung mit diesem geweckt worden. Als Flamenco-Liebhaberin war es meine ursprüngliche Absicht, mich lediglich mit den Tanzfilmen Sauras zu befassen. Bei der Sichtung sämtlicher Filme (vielleicht ist ja irgendwo noch ein bisschen Flamenco versteckt...) wurde ich indes von vielen Arbeiten angesprochen und überrascht, die ganz andere Themen behandelten. Die Rezension erschienener Bücher, Aufsätze und Presseartikel bestärkte mich in meinem Vorhaben, eine Vorstellung und Analyse des Gesamtwerkes Sauras zu erarbeiten. Mich interessierte, ob sich hier - trotz aller Vielfalt - einige übergreifende Merkmale erkennen lassen, die für Sauras Werk charakteristisch sind. Gibt es einen typischen Saura-Stil? Die Antwort auf diese Frage wird die vorliegende Arbeit geben.

Zunächst gilt es jedoch, die methodischen Grundlagen zu klären und so beginnt die Arbeit mit der Zusammenfassung der wichtigsten Gedanken aus dem von Kristin Thompson 1995 veröffentlichten Aufsatz zur neoformalistischen Filmanalyse.

2. Die neoformalistische Filmanalyse

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Bild umseitig: Der junge Carlos Saura

Quelle: Oms, 1981, S. 4

Jede Analyse setzt eine Methode voraus und die Filmanalyse macht hier keine Ausnahme. Natürlich gibt es in diesem Bereich (Wo wäre das heutzutage anders?) zahlreiche und unterschiedliche Methodenansätze. Die Namen großer Analytiker sind bekannt: Eisenstein, Kracauer, Bazin und Grierson hatten bereits vor Jahrzehnten filmtheoretische Überlegungen angestellt. Ungezählt sind die Ansätze der "Unbekannten", welche ihrerseits neue Sichtweisen zum Thema ins Feld führten.2

Welche Analysemethode ist für die vorliegende Arbeit jedoch die richtige? Die biografische, welche sich auf Person und Biografie des Regisseurs stützt und dort Interpretationsmöglichkeiten vermutet? (Das Leben Carlos Sauras bietet wahrlich eine Reihe von Anknüpfungspunkten...) Die soziologische, die auf ein Verständnis des Films im Licht seines gesellschaftlichen Umfeldes abzielt? (Noch besser. Man denke nur an Sauras verschlüsselte Filmsprache während der Franco-Diktatur...) Oder die literaturhistorische, welche - explizit oder implizit - auf eine literarische Vorlage verweist? (Einverstanden, eine angemessene Beachtung der Saura‘schen Literaturverfilmungen darf selbstverständlich nicht fehlen...) Gewiss wäre auch die psychologische (setzt sich mit der Psyche des Zuschauers auseinander) oder die genrespezifische (ordnet den Film einem bestimmten Genre zu, z.B. Sciencefiction) Methode nicht allzu verkehrt – zur Unterstützung ihrer Thesen würden sich schon einige Saura-Filme finden lassen.3

Der Nachteil aller genannten Methoden ist offensichtlich: Zwecks Selbstbestätigung werden lediglich die Filme analysiert, die der Methode angemessen sind. In Kategorien eingeteilt, verlieren die Filme ihre spezifischen Besonderheiten. Auf diese Weise reduzieren vorgefasste Methoden die Komplexität von Filmen. Eine sinnvolle Filmanalyse lässt sich dagegen nicht in ein Korsett drängen. In ihrem Mittelpunkt steht der Film – und nicht irgendeine Methode, die es zu beweisen gilt. Aufgabe und Ziel der Analyse ist es, durch eingehende Betrachtung sämtlicher Einstellungen die signifikanten Phänomene eines filmischen Werkes herauszuarbeiten.4 Die Ergebnisse können danach durchaus unter Heranziehung eines oder gar mehrerer Ansätze interpretiert werden.

Die von der Analytikerin Kristin Thompson propagierte neoformalistische Filmanalyse5 hat sich eben diese Herangehensweise auf die Fahnen geschrieben: Konzentration auf den Film selbst. Für die vorliegende Arbeit ist daher der neoformalistische der richtige Weg. Umso mehr, als es sich nicht nur um die Analyse eines einzelnen Films sondern eines – äußerst vielfältigen - Gesamtwerkes handelt. Welcher unbeugsame methodische Ansatz könnte da im Vorfeld von sich behaupten, der richtige zu sein? Der Neoformalismus betrachtet ein Werk unvoreingenommen. Erst im Anschluss werden Schlüsse gezogen, Aussagen formuliert und Kategorien gebildet, anstatt solche einfach nur zu bestätigen. Das entspräche sicherlich auch dem freien Geist des Regisseurs, welcher sich seit eh und je dagegen sträubt, in Schubladen gesteckt zu werden.6

Interessant ist eine Filmanalyse vor allem dann, wenn sie uns nicht nur etwas über den jeweiligen Film verrät sondern auch über die künstlerischen Möglichkeiten des filmischen Mediums im Allgemeinen. Die Analyse sollte erklären, wie Filme aufgebaut sind und wie sie es schaffen, die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zu ziehen. Filme funktionieren in der Regel wie Kunstwerke und sind jenen zuzurechnen (womit noch nichts über ihre Qualität gesagt ist). Der neoformalistische Ansatz liefert daher zunächst einmal einige allgemeine Annahmen über Aufbau und Wirkung von Kunstwerken.

2.1 Über die Natur des Kunstwerkes

Eine, vor allem von den Kommunikationswissenschaftlern, verbreitete Position vertritt ein dreiteiliges (Kommunikations-) Modell, welches zwischen Sender, Medium und Empfänger unterscheidet. Das Medium hat hier eine praktische Funktion. Es ist umso effektiver, je prä- ziser und klarer es seine Botschaft übermittelt. Der Neoformalismus lehnt ein solches Modell für die Kunst ab; legt es doch nahe, ein Kunstwerk danach zu beurteilen, wie gut es eine Bedeutung übermittelt. Rein unterhaltende Werke scheinen demnach weniger wertvoll, senden sie doch keine "nützlichen" Ideen oder Informationen. Diese Beurteilung eines Kunstwerkes nach seiner Nützlichkeit war ehemals der Ursprung für die Unterscheidung zwischen hoher und niederer Kunst.

Die Position des "l’art pour l’art" sieht in der Kunst kein Medium zur Übermittlung von Ideen und liegt dennoch nicht im Sinne der Neoformalisten. Denn auch hier wird zwischen hoher und niederer Kunst differenziert: Die eine bleibt dem Ästheten mit verfeinertem Geschmack vorenthalten; die andere – eher derb und populär – richtet sich an den Durchschnittsmenschen.

Für den Neoformalismus spielt sich die Kunst in einem vom Alltag getrennt erlebten Bereich ab, da sie einzigartige Anforderungen an unsere Wahrnehmung stellt. Im Alltag nutzen wir unsere Aufmerksamkeit fast ausschließlich für praktische Zwecke. Wir konzentrieren uns z.B. an einer Kreuzung auf das Grünwerden der Ampel; alle anderen optischen Reize treten in diesem Augenblick in den Hintergrund. Durch die gewohnheitsmäßige Wiederholung der alltäglichen Handlungen stumpfen unsere Wahrnehmungsfähigkeiten allmählich ab. So sehen wir viele Dinge gar nicht mehr wirklich an, wir erkennen sie lediglich an ihrer Oberfläche oder identifizieren sie anhand ihrer Lage im Raum. Diese Komplexitätsreduktion ist einerseits notwendig, müssen wir uns doch in der heutigen, vom ständigen Informations- überschuss berauschten und bedrängten, Gesellschaft zurechtfinden. Andererseits wird unser Geist durch ständige Wiederholungstaten unterfordert. Er verlangt nach Abwechslung. Und diese kann ihm die Kunst bieten.7

Die Kunst dient uns als eine Art mentales Training. Sie fordert unsere Gedanken heraus, regt unsere Wahrnehmungen an und hält so den Geist in Form – ähnlich wie der Sport den Körper. Kunstwerke - und eben auch Filme - verwickeln ihr Publikum in eine nichtpraktische, spielerische Form der Interaktion. Die Zuschauer erleben den Prozess des Filmsehens als vom Alltagsleben völlig getrennt, was allerdings nicht heißen soll, dass Filme ohne Wirkung auf sie bleiben.

Spielerisch unterhaltende Filme können die Wahrnehmung der Rezipienten in ähnlich komplexer Weise herausfordern wie solche, die sich mit ernsthaften und schwierigen Themen auseinandersetzen.8 Der Neoformalismus unterscheidet daher nicht zwischen hoher und niederer Kunst.

Im Unterschied zur alltäglichen Wahrnehmung, welche maximale Effizienz und Leichtigkeit anstrebt, verfolgt die ästhetische Wahrnehmung das entgegengesetzte Ziel – eine erschwerte Form des Wahrnehmungsprozesses. Den unmittelbaren Zweck jeder Kunst sieht der Neoformalismus daher im Prinzip der Verfremdung. Ein Kunstwerk verfremdet unsere gewohnte Wahrnehmung der Alltagswelt, indem es Material aus dieser Quelle entnimmt und umwandelt. Die verfremdete Darstellung führt zu einem erschwerten Wahrnehmungsprozess und damit zur Sichtbarmachung unserer Sehgewohnheiten. Auf diese Weise können Kunstwerke unsere mentalen Prozesse erneuern – für die Neoformalisten das Ziel jeder Kunst.9

2.2 Das Medium Film und die filmischen Verfahren

Auch der künstlerische Film arbeitet mit unterschiedlichen Mitteln der Verfremdung, die alle das gleiche Ziel anstreben: das Verstehen der Handlung zu behindern und zu erschweren, anstatt es zu vereinfachen. Die erschwerte Form kann unterschiedlichste Erscheinungsformen annehmen. Eine ihrer häufigsten ist der Einsatz von Retardationen (Verlängerungen). Hierbei wird die Erzählung nicht auf direktem Wege linear erzählt, sondern es wird Material eingeschoben, welches den Fortgang der Erzählung behindert und verzögert und so das Ende der Gesamthandlung zurückhält. Ein weitere Möglichkeit für die Erschwerung des Verständnisprozesses bietet dem Film die Rollenbesetzung seiner Figuren. So können – scheinbar unmotiviert – zwei Schauspielerinnen für eine Rolle eingesetzt werden (z.B. in Buñuels Dieses obskure Objekt der Begierde ) oder im umgekehrten Fall eine Schauspielerin zwei oder mehrere Figuren verkörpern ( Lost Highway von David Lynch).

Für den Neoformalismus sind die Figuren die wichtigsten Träger der Ereignisse einer Erzählung. Sie sind keine realen Menschen, sondern eine Anhäufung von Charakterzügen. Im Gesamtwerk erfüllen sie eine bestimmte Funktion. So können Figuren dem Publikum Informationen liefern aber auch zu deren Zurückhaltung eingesetzt werden; sie können Parallelen entstehen lassen, Formen und Farben verkörpern, die für die Komposition einer Einstellung von Bedeutung sind; sie können sich im Raum bewegen, um Kamerafahrten zu motivieren, etc. Figuren können relativ neutral sein und hauptsächlich zu dem Zweck existieren, eine Reihe von eingebetteten Erzählungen zusammenzuhalten. Andere dagegen stehen im Mittelpunkt der Haupthandlung. Die übrigen filmischen Verfahren sind auf sie abgestimmt.10 Unter filmischen Verfahren sind sämtliche Möglichkeiten und Techniken zu verstehen, mit denen das Medium Film arbeitet. Neben den Figuren zählen hierzu Szenenbild, Kamerabewegungen, Sprache, Kostüm, Ton, Rahmenhandlung, Filmmusik, Text, etc. Die einzelnen Verfahren erfüllen jeweils eine bestimmte Funktion. Diese muss jedoch nicht in allen Filmen dieselbe sein, sie hängt vielmehr von ihrem jeweiligen Kontext ab. Ein gitterähnlicher Schatten symbolisiert z.B. nicht grundsätzlich, dass ein Charakter gefangen ist.

Wie Figuren können auch die übrigen Verfahren dem Verständnis der Erzählung dienen oder aber bestimmte Hinweise bewusst zurückhalten; sie können den Anschein von Realität erwecken oder die Strukturen des Films verfremden. Die Hauptaufgabe der neoformalistischen Analyse liegt nun darin, die Funktion der Verfahren in ihrem jeweiligen Kontext zu ermitteln.

Für die Wirkung eines Filmes sind die Verfahren jedoch nicht allein verantwortlich. Ein weiterer wesentlicher Faktor darf nicht vernachlässigt werden - der Zuschauer selbst.

2.3 Die aktive Rolle des Zuschauers

Die Neoformalisten betrachten den Zuschauer nicht als passives Subjekt, wie das bei einigen filmanalytischen Ansätzen der Fall ist. Im Gegenteil, beim Betrachten eines Filmes und auch jedes anderen Kunstwerkes vollzieht der Zuschauer eine Reihe verschiedener Aktivitä- ten, die von Thompson11 wie folgt aufgeschlüsselt werden:

physiologische Aktivitäten

Physiologische Aktivitäten sind automatische Reaktionen, die vom Zuschauer nicht kontrolliert werden können. Hierzu zählen die Unterscheidung von Farben, die Wahrnehmung einer Folge statischer Bilder als Bewegung oder das Hören von Schallwellen als Ton.

vorbewusste Aktivitäten

Vorbewusste Aktivitäten sind einfache, fast automatische, Informationsverarbeitungsprozesse. Diese haben wir als Kinder beim ersten Sehen und durch Befragen der Eltern gelernt und sind so gut mit ihnen vertraut, dass wir sie nicht mehr bemerken. So wundern wir uns beispielsweise nicht, wenn bei einer Kranfahrt die Landschaft nach unten wegzusinken scheint. Wir wissen und verstehen, dass sich in Wirklichkeit die Kamera nach oben bewegt und brauchen darüber nicht weiter nachzudenken.

bewusste Aktivitäten

Bewusste Aktivitäten dagegen bemerkt der Zuschauer selbst. Wenn er z.B. darum bemüht ist, eine Geschichte zu verstehen, verschiedene Bedeutungen zu interpretieren oder sich darüber klar zu werden, warum ein bestimmter Kamerawinkel verwendet wird.

unbewusste Aktivitäten

Unbewusste Aktivitäten, welche der Zuschauer schnell und ohne viel Nachdenken durchführt, beziehen sich auf dessen erlernte Sehfähigkeiten.12 So erkennen wir beispielsweise, dass die Formen auf der flachen Kinoleinwand einen dreidimensionalen Raum repräsentieren, weil wir die filmischen Hinweise auf Tiefenverhältnisse sehr schnell verarbeiten können. Ähnlich tendieren wir dazu, den Ablauf der dargestellten Zeit automatisch zu registrieren. Das tun wir aber nur solange der Film nicht mit einer komplexen Zeitfolge arbeitet, in der Ereignisse übersprungen, wiederholt oder die Grenzen zwischen den Zeitstufen verwischt werden (wie z.B. in Christopher Nolans Memento ). In solchen Fällen beginnen wir, die zeitlichen Indizien bewusst zu sortieren und verlassen damit diese Kategorie.

Auf der Ebene der bewussten Wahrnehmung kann ein Kunstwerk die gewohnten Sehund Denkweisen seiner Rezipienten am stärksten herausfordern. Für die Neoformalisten ist es daher das Ziel jeder Kunst, die Denkprozesse des Zuschauers weitgehend auf die bewusste Ebene zu verlagern.

Was geschieht dort konkret?

2.4 Hypothesenbildung durch Denkmuster

Filmische Verfahren verweisen die Zuschauer auf deren individuelle Denkmuster. Mit Denkmustern ist unsere Vorstellung von der Wirklichkeit gemeint, welche wir uns im Alltagsleben, im Umgang mit Kunstwerken und anderen Filmen erworben haben. So "wissen" wir beispielsweise aufgrund unserer Erfahrungen, wie der Besuch in einem Restaurant abläuft. Der Film kann jetzt (wenn er will) mit diesem Wissen und den damit verbundenen Erwartungen spielen, indem er diese verletzt und verfremdet. (Die Kellner bringen keine Karte, sondern ein Gericht, was gar nicht bestellt wurde; sie setzen sich einfach mit an den Tisch und fangen Streit an; sie sind taub, usw.) Während der Filmrezeption bildet der Zuschauer mithilfe seiner Denkmuster fortlaufend Hypothesen. Über die Handlungsweisen der Figur, den Raum außerhalb des Bildes, den Ursprung eines Geräusches - letztlich über jedes noch so begrenzt oder umfassend eingesetzte filmische Verfahren, das wahrgenommen wird. Im Verlaufe eines Films werden diese Hypothesen bestätigt oder widerlegt, im letzteren Fall werden neue Hypothesen gebildet.

Die erworbenen Denkmuster, welche für die Hypothesenbildung verantwortlich sind, verändern sich im Laufe der Zeit. Zum einen durch unsere individuelle Entwicklung, zum anderen durch die uns prägenden gesellschaftlichen Konventionen – welche ebenfalls der Veränderung unterworfen sind. Es verwundert daher nicht, dass Zuschauer unterschiedlicher Epochen und Lebensläufe - also mit anderen Denkmustern - auch unterschiedliche Hypothesen bilden und den Film anders verstehen.13 So schockierte 1967 Arthur Penns Bonnie and Clyde das damalige Publikum durch das Ausmaß der dargestellten Gewalt. Heutzutage, an brutale Szenen in Film und Fernsehen fast gewöhnt, wären wir wohl kaum in der Lage, den Film derart entsetzt aufzunehmen, wie das Publikum vor 35 Jahren.

Bestätigt ein Kunstwerk in erster Linie bereits bestehende Denkmuster, werden wir ihren Gebrauch und die Hypothesenbildung kaum bemerken. Manche Filme (vor allem die, welche sich eng an die Normen halten) kommen uns daher leicht vor und es ist, als verfügten wir über eine natürliche Fähigkeit, sie zu verstehen. Wobei es sich hier jedoch um eine erworbene Fähigkeit handelt, denn unsere Sehgewohnheiten sind durch jahrelangen Filmund Fernsehkonsum gut geschult. Neben anderen Filmklassikern gab auch Altmeister Alfred Hitchcock sein bis zur Perfektion ausgefeiltes Rezept an Generationen von Regisseuren weiter: Man nehme ein bis zwei filmische Hinweise und lasse den Zuschauer die Schlussfolgerung selbst ziehen. So zeigt z.B. eine Einstellung seines Films Marnie einen leeren Safe. In der nächsten Szene sieht man eine Handtasche unter dem Arm einer jungen Frau. Die von Hitchcock damals genau kalkulierte Erkenntnis des Zuschauers - Das Geld befindet sich in der Tasche - erscheint aus heutiger Sicht vertraut und nicht weiter aufregend.

Demgegenüber gibt es andere Filme, die unsere Erfahrung stärker herausfordern. Wenn wir uns das Geschehen auf der Leinwand nicht mehr erklären können, wird uns unsere Verwirrung bewusst. Nun gilt es, sich zu orientieren und selbst Rückschlüsse zu ziehen, die uns ein Verständnis der Vorgänge ermöglichen. Das ist spannend und bei positivem Ausgang überaus zufriedenstellend. Nichts ist allerdings ärgerlicher als einen verzwickten Film nicht zu verstehen. Das kann zum einen daran liegen, dass der Zuschauer die Hinweise des Films nicht bemerkt oder aber die entsprechenden Sehfähigkeiten nicht erworben hat, die ihm eine Reaktion in Form von Schussfolgerungen ermöglichen. Ein originelles Werk kann auf Unverständnis stoßen, da dem Publikum die Vertrautheit mit den entsprechenden Sehkonventionen fehlt.14 Manchmal liegt es aber auch in der Absicht des Regisseurs, die Zuschauer im Dunkel des Nichtverstehens tappen zu lassen ohne sie hieraus zu befreien, z.B. bei David Lynchs Lost Highway .

Bei der Analyse narrativer Filme15 arbeitet der Neoformalismus mit einigen zentralen Begriffen, von denen ich die wichtigsten abschließend vorstellen möchte.

2.5 Wichtige Begriffe für die Analyse narrativer Filme

Die Fabel

Die Fabel ist die Beschreibung und Zusammenfassung eines Films durch den Zuschauer, welcher im Geiste die Geschehnisse in eine chronologisch und kausal verbundene Reihenfolge ordnet und damit das Gesehene mit eigenen Worten rekonstruiert. Mit der Fabel antworten wir auf die Frage nach der Handlung eines Films.

Die Erzählweise

Unter Erzählweise ist die Reihenfolge zu verstehen, in der uns ein Film seine Fabel erzählt. In der Regel werden viele Ereignisse direkt gezeigt, zum Teil auch außerhalb ihrer chronologischen Abfolge (im Falle von Rückblenden). Andere Ereignisse dagegen werden nur erwähnt, wenn etwa eine Figur von ihnen berichtet, wir Zuschauer sie jedoch nicht miterlebt haben. Das Verständnis der Erzählweise erfordert häufig ihre geistige Umordnung in eine chronologische Reihenfolge - die Fabel. Ein derartiges Umordnen ist eine Fähigkeit, die wir durch das Sehen narrativer Filme und durch den Umgang mit anderen narrativen Kunstwerken gründlich erlernen. Bei den meisten Filmen können wir die Fabel relativ einfach konstruieren, andere erschweren uns dieses Umordnen der Erzählweise.

Die Narration

Die Narration ist die Absicht hinter der Erzählweise und verantwortlich für die Art und Weise, mit der uns ein Film seine Informationen präsentiert. Sie leitet uns beim Sehen beständig dazu an, hinsichtlich der Ereignisse der Fabel Hypothesen zu bilden. Die Narration kann sich auf das Informationsverständnis einer oder weniger Figuren beschränken, umso andere Informationen zurückzuhalten.

Ein solches Muster findet sich für gewöhnlich in Detektivfilmen, deren Narration sich auf das konzentriert, was die Ermittler erfahren, aber offenbar nichts von dem weiß, was nur die Verbrecher wissen können. Normalerweise bleibt die Narration eher unbemerkt, wenn z.B. Figuren im Dialog Informationen austauschen. Die Narration kann aber auch mit ihrem Wissensreichtum spielen. Sie kann z.B. signalisieren, dass sie über bestimmte Informationen verfügt, uns diese jedoch vorenthält (wenn sich etwa eine geheimnisvolle Tür öffnet und die Kamera abblendet, bevor wir sehen, was sich hinter ihr verbirgt). Im Gegensatz hierzu kann der Film seine Informationen aber auch direkt an das Publikum richten. Am häufigsten geschieht das durch den Einsatz eines Off-Erzählers, der die Geschehnisse kommentiert. Aber auch die Kamera selbst kann den Zuschauer durch bestimmte Bewegungen auf etwas hinweisen. So schwenkt z.B. in Hitchcocks Cocktail für eine Leiche die Kamera von der Handlung weg auf die Truhe, in der sich die Leiche befindet. Wir bemerken gespannt, was keine der anderen Figuren bemerkt: die Haushälterin wird in Kürze die Truhe öffnen und damit den Mord entdecken. In solch einem Fall ist die Narration selbstbezüglich.

2.6 Zusammenfassung

Jede Filmanalyse sollte sich auf den Film selbst stützen und ihn nicht mit einer vorgefassten Methode einengen wollen. Kunstwerke und Filme dienen der Verfremdung unserer routinemäßigen Alltagswahrnehmung und der damit verbundenen Sichtbarmachung unserer Gewohnheiten. Durch erschwerte Form verlängern sie künstlich den Prozess der Wahrnehmung. Filmische Verfahren können in unterschiedlichen Filmen auch unterschiedliche Funktionen haben. Die Hauptaufgabe der Analyse besteht darin, diese jeweiligen Funktionen aufzuzeigen. Der Neoformalismus geht davon aus, dass der Zuschauer aktiv verschiedene Wahrnehmungstätigkeiten durchführt. Die von ihm erworbenen Denkmuster führen während der Filmrezeption zur bewussten Hypothesenbildung und oder -verwerfung. Der neoformalistische Ansatz will nicht etwa ein filmisches Werk erklären. Er will vielmehr die Aufmerksamkeit auf die dem Film zugrunde liegenden Strategien lenken und dadurch jene "Einstellung zur Form" wiederherstellen, die für ein Kunstwerk charakteristisch ist. Der Neoformalismus geht davon aus, dass der Zuschauer in der Lage ist, für sich selbst zu denken. Die analytische Filmwissenschaft ist einfach ein Werkzeug, das ihm dabei hilft, indem sie sein Wissen um filmische Strategien und Zusammenhänge schärft und so seine Sehfähigkeiten erweitert.

3. Leben und Werk Carlos Sauras

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

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Carlos (rechts) mit seinen Geschwistern Antonio und Pilar, 1938
Quelle: Eichenlaub, 1984, S. 24

Bild umseitig: Carlos Saura bei Dreharbeiten zu Llanto por un bandido, 1963

Quelle: Oms, 1981, S. 20

3.1 Die ersten Jahre

Dieser Abschnitt schildert die wichtigsten Ereignisse im Leben des jungen Carlos Saura, bis er sich in die Welt des Films begibt. Sauras fotografische Tätigkeit wird ausführlich an spä- terer Stelle betrachtet und entsprechend hier nur knapp angerissen. Biografische Angaben über Kindheit, Jugend und Studium Carlos Sauras sind bei Gompper16 und Eichenlaub17 zu finden. Detaillierter ist jedoch die Jahre zuvor erschienene Datensammlung von Frank Arnold18. Diese drei Veröffentlichungen sowie die digitalen Angaben des Cervantes-Instituts, welches Informationen über Regisseure sammelt und stichpunktartig ins Netz stellt19, bilden die wesentlichen Quellen der folgenden Seiten. Alle übrigen sind entsprechend gekennzeichnet.

3.1.1 Kindheit

Carlos Saura wird am 4. Januar 1932 in der Kleinstadt Huesca, in der spanischen Provinz Aragón geboren. Sein Vater, Antonio Saura, aufgewachsen in Murcia, ist Spezialist für Finanzfragen und arbeitet im Finanzministerium. Seine Mutter, Fermina Atarés, gleichfalls aus Huesca stammend, hatte sich in jungen Jahren im Klavierspielen ausgebildet und nach Erhalt eines bedeutenden Preises auch schon einige Konzerte gegeben.20 Nach der Heirat gibt sie ihre Karriere als Pianistin auf. Der kleine Carlos hat drei Geschwister: Antonio, der ältere Bruder, ist im September 1930 geboren, seine Schwester Maria Pilar im August 1933. Das Nesthäkchen der Familie, Maria Angeles, erblickt 1943 das Licht der Welt.

Über seine eher spröde Heimat Aragón sagt Saura später, die Leute seien dort "schweigsam, wenig herzlich, zumindest zeigen sie ihre Herzlichkeit kaum."21 Er fühlt sich mehr in die Gegend der Levante hingezogen, aus der sein Vater stammt, denn dort pflegen die Menschen untereinander ein wärmeres Verhältnis. "Mir gefällt dieser physische Kontakt zwischen Eltern und Kindern, ich sehe es gern, wenn Mütter und Kinder sich anfassen. Diese viel sinnlichere Beziehung ist vielleicht viel natürlicher, viel vernünftiger. In Spanien gibt es das glücklicherweise immer noch, diese Herzlichkeit innerhalb der Familien. Ich will nicht, dass sie aufgegeben wird."22 Mit drei Jahren kommt Saura in den Kindergarten San Viator in Huesca. Ein Jahr später bricht der spanische Bürgerkrieg aus. Die liberal eingestellten Eltern gehören keiner politischen Richtung an. Der Vater wird gleichwohl persönlicher Referent des Finanzministers, arbeitet also für die Republik. Mehrfach wechselt die republikanische Regierung ihren Sitz, Familie Saura zieht mit. Ihre Stationen sind Madrid (1936), Valencia (1937) und schließlich Barcelona (1938).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Carlos (links) mit seinem Bruder Antonio 1940
Quelle: Eichenlaub, 1984, S. 28

In der katalanischen Hauptstadt besucht Carlos die Schule und erlebt dort einen Bombenangriff.23 1939 ist der Bürgerkrieg zu Ende und General Franco zieht mit seinen Truppen in Madrid ein. Die diktatorische und düstere Staatsführung des Generalissimo wird die Verhältnisse des Landes für die nächsten 30 Jahre bestimmen. Zunächst rechnen die Franquisten indes mit ihren alten Gegnern ab und machen auch Sauras Vater Schwierigkeiten aufgrund dessen früherer Arbeit für die Republik. In dieser ungewissen Zeit schicken die Eltern den inzwischen siebenjährigen Carlos zurück nach Huesca. Bei seinen Verwandten mütterlicherseits soll er einige Zeit verbringen, bis sich die Situation der Eltern normalisiert und er ihnen nach Madrid folgen kann. Es werden vier lange Jahre.

An diese ersten Erinnerungen, die Zeit des Bürgerkrieges und die Trennung von seiner Familie, denkt Saura sein ganzes Leben lang mit Trauer und Abneigung zurück:

"Der Bürgerkrieg stellt selbstverständlich eine traumatisierende Erfahrung für diejenigen dar, die ihn auf die eine oder andere Art erfahren haben. Ich war ein Kind, als der Krieg ausbrach. Ich war damals vier Jahre alt, und trotzdem haben die Erinnerungen an diese Jahre viele frühere Erinnerungen ausgelöscht. Und ihnen wohnt eine solche Kraft inne, dass sie noch heute periodisch wiederkehren. [...] Politisch sehe ich meine Eltern mehr als "Liberale" denn als etwas anderes. Immer waren sie tolerant und verständnisvoll. [...] Meine aragonesischen Verwandten waren Rechte, sehr religiös, und als der Krieg endete, und sie mich nach Huesca schickten, war ich wirklich ein Exilierter. Ich fühlte mich dort fremd. Meine kindliche Welt, alle Dinge, die sie mir beigebracht hatten, die Flugzeuge, die ich malte, wie sie Barcelona bombardierten, meine katalanische Ausbildung, die ich in einer staatlichen Schule erhalten hatte, all das hatte überhaupt nichts mehr mit der Erziehung zu tun, die mir jetzt aufgezwungen wurde. Von meinen Eltern und Geschwistern war ich getrennt. Und trotz der Zuneigung, die meine Verwandten mir zu geben versuchten, erinnere ich mich an jene Jahre nur als eine recht traurige Zeit. Und niemals habe ich verstehen können, warum über Nacht die Guten die Bösen waren, und die Bösen die Guten."24

3.1.2 Jugend und Studium

Endlich daheim bei seinen Eltern in Madrid besucht Carlos ab 1942 das Gymnasium Garmar. Hier bleibt er bis zu seinem Abitur 1949; es fällt ihm leicht, gute Noten zu erreichen und einer der fleißigsten Schüler zu sein. 1943 erkrankt sein geliebter Bruder Antonio schwer an Knochentuberkulose, eine Folge der Entbehrungen während des Bürgerkrieges.

Nach Erhalt des Abiturs arbeitet der siebzehnjährige Carlos für kurze Zeit in einer Druckerei, lernt hier Typographie und Setzerei. 1950 leistet er seinen Wehrdienst als Freiwilliger bei der Luftwaffe. Im gleichen Jahr beginnt er aufgrund seiner mathematischen und zeichnerischen Begabung Ingenería Industrial25 zu studieren. In seiner Freizeit fährt der junge Mann gerne Motorrad und nimmt sogar an Motorradrennen teil. Für die Motorradfabrik "OSCA" entwirft und konstruiert Saura Prototypen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Sauras Schwester María Ángeles, 1949

Fotograf: Carlos Saura, Quelle: Glaxia Gutenberg, S. 59

Seine ganze Leidenschaft jedoch gehört der Fotografie, wie seine vielfältigen Ausstellungen dieser Jahre – die erste 1951 in der "Real Sociedad Fotográfica de Madrid" - beweisen. Zeitweise26 verdient er sich sogar seinen Lebensunterhalt als Fotograf. Antonio, der ältere Bruder, ist ebenfalls der Magie der Bilder erlegen; bald wird er sich zu einem der bedeutendsten Maler Spaniens entwickeln. Carlos bewundert seinen Bruder und lässt sich gerne von dessen künstlerischen Ansichten beeinflussen – nicht gerade zur Begeisterung ihres Vaters, der es gerne gesehen hätte, dass seine Söhne "etwas Solides"27 erlernen würden.

Aus der Fotografie heraus beginnt sich eine weitere Leidenschaft Sauras zu entwickeln: Der Film. 1952 bricht er das Ingenieurs-Studium ab und schreibt sich an der Madrider Filmhochschule I.I.E.C. für Filmregie ein. Das 1947 gegründete Instituto de Investigaciones y Experiencias Cinematográficas28 bietet jungen Filmemachern die Möglichkeit einer unabhängigen und eigenständigen Filmarbeit. Keine Selbstverständlichkeit in dieser Zeit der autoritären Zensur Francos.29 Filmische Vorbilder der Lehre am Institut sind u.a. der italienische Neorealismus, der expressionistische deutsche Film, Eisenstein und Pudowkin.30 Für Saura ist sein Studium am I.I.E.C. vor allem deswegen wichtig, weil es einen geistigen Treffpunkt für Gleichgesinnte darstellt: "Zu jenem Zeitpunkt befanden wir uns am Anfang dessen, was später die neue spanische Filmkunst (nuevo cine español) genannt werden sollte, mit anderen Worten, wir waren damals sehr jung, voller Begeisterung und Lust, etwas Wichtiges auf dem Gebiet des Films zu machen. Wir waren junge Leute in einem Land, das gerade einen fürchterlichen und verbrecherischen Krieg hinter sich gelassen hatte, in dem die Sieger ein monströses System von Repression und Zensur errichtet hatten."31

Saura fühlt, dass der Film seine Berufung ist und "dass ich Filmregisseur sein wollte, und mehr als Regisseur wollte ich kinematografischer Autor werden."32 Er beginnt seine ersten kurzen Filme zu drehen.33 Sie alle haben einen dokumentarischen, vom Neorealismus beeinflussten Charakter, was Sauras Meinung nach der Weg ist, "um den spanischen Film aus der Stagnation des Franquismus zu befreien."34 1957 schließt Saura 25-jährig sein Studium ab, verbleibt aber als Dozent für Drehbuch und Regie noch weitere sechs Jahre am I.I.E.C.. Als das Institut 1963 in eine Universität umgewandelt wird, verlässt Saura diese nur mäßig bezahlte Stelle und widmet sich von nun an tatkräftig dem Filmemachen.

Bevor ich mich mit diesem in der Filmübersicht detailliert befasse, möchte ich noch in aller Kürze auf Sauras Privatleben eingehen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Selbstporträt mit seiner ersten Ehefrau Adela, 1958
Quelle: Galaxia Gutenberg, S. 61

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Géraldine, Charlie, Oona Chaplin, Carlos Saura in Vevey, 1969
Quelle: Eichenlaub, 1984, S. 47

3.1.3 Privatleben

Carlos Saura ist kein Mensch, der sein Privatleben in die Öffentlichkeit trägt; weder Skandale noch Krisen sind über ihn bekannt. In seinem Leben hat er vier langjährige Partnerschaften gepflegt, u.a. mit der Schauspielerin Geraldine Chaplin. Die Verbindung zwischen seiner Arbeit und seinem Privatleben sieht Saura in der Leidenschaft, die ihn kreativ und erfindungsreich mache. Zwischen Zuneigung und Leidenschaft müsse man sich daher für die Leidenschaft entscheiden, findet er. "Ich brauche diese Feuerstöße. Manchmal habe ich über lange Zeit hin, Jahre vielleicht, in großer Ruhe gelebt, und plötzlich brach da eine wilde, ungezügelte Kraft, eine Frau oder sonstwas, in mein Leben ein. Da habe ich mich nicht gewehrt. Doch ich bin kein Mann, der seine Passion auf verschiedene Personen verteilen kann; ich bin monogam. Ich habe wenige Frauen gehabt, die aber sehr fest und lange Zeit."35 Carlos Saura hat sechs Söhne, eine Tochter und mehrere Enkelkinder36 und er ist stolz darauf, dass seine drei ältesten Söhne in seine Fußstapfen getreten sind und sich in verschiedenen Bereichen des Films engagieren.37

Die wichtigsten privaten Ereignisse, wie Geburt der Kinder oder Heirat, werden in der Film- übersicht erwähnt.

3.2 Filmübersicht

Dieses Kapitel gibt einen chronologischen Überblick des jahrzehntelangen Filmschaffens Carlos Sauras. Jeder Film wird mit einer kurzen inhaltlichen Beschreibung – der Fabel - vorgestellt und anschließend mit wenigen Worten gewertet. Auffällige Filmtechniken und andere Besonderheiten werde ich gleichfalls benennen, so es diese denn gibt. Informationen über Erfolg oder Misserfolg der Filme, erhaltene Preise und beschränkende Zensurmaßnahmen ergänzen die Ausführungen. Saura hat viele persönliche Erfahrungen in seinen Filmen verarbeitet und sich so mit ihnen auseinandergesetzt. Um hinter dem Regisseur auch den Menschen erahnen zu lassen, werde ich die autobiografischen Elemente entsprechend kennzeichnen. Aus demselben Grund kommt auch Saura selbst an einigen Stellen zu Wort. Die 38 Filmtitel erscheinen in Originalsprache (der deutsche Titel ist in Klammern gesetzt). Einige Arbeiten, darunter die vier Kurzfilme, konnten von mir in Deutschland nicht eingesehen werden, weshalb ich mich bei ihrer Beschreibung auf Sekundärquellen berufe und von einer persönlichen Wertung absehe.38

3.2.1 Kurzfilme

1955 Flamenco *

Die einzige Beschreibung zu Sauras erstem Film, welche sich bei der Sichtung der im Anhang genannten Quellen finden lässt, stammt von ihm selbst: "Ich machte in diesem Jahr einen abgesehen von seinem Zeugniswert völlig unbedeutenden Dokumentarfilm, der zeigt, wie mein Bruder Antonio im Garten des Hauses meiner Eltern in Cuenca ein Bild malte. Er dauerte ungefähr 8 Minuten, war in 16mm und hieß Flamenco. Ich besorgte die Kamera, die Auswahl der Musik und Regie."39

Warum Saura seine erste Übung mit Flamenco betitelte, konnte indes keine Quelle erklären. Während unseres Interviews erinnerte sich der Regisseur: "Zu dieser Zeit war so eine Art Aktionskunst modern in den USA; ich wollte auch so etwas wie Aktionskunst machen. Ich drehte also auf 16mm, nur etwa 10 Minuten, mein Bruder Antonio malte ein Bild und dazu machten wir Flamencomusik an; und so nannte ich den Film Flamenco..."40

1955 El pequeño rio Manzanares * (Der kleine Fluss Manzanares)

Der neunminütige Film Sauras wird nur in wenigen Quellen erwähnt. Erstmals berichtet Arnold über ihn: "Die Daten zu diesem Film, der in keiner der bisherigen Filmographien aufgeführt ist, wurden von Ursula Beckers im Archiv der Filmoteca Nacional des España entdeckt. [...] Es soll ein Dokumentarfilm über den Fluß Manzanares sein, in dem die Brücken, die den Fluß überqueren, vorgestellt werden."41

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

La tarde del domingo, 1954

Fotograf: Carlos Saura, Quelle: Galaxia Gutenberg, S. 20

1956/57 La tarde del domingo * (Sonntagnachmittag)

Sauras Abschlussfilm am I.I.E.C. handelt vom Leben des Dienstmädchens Clara. Aneinandergereihte Szenen zeigen ihre anstrengende und arbeitsreiche Woche, wobei nach Aranda (1961) "drastisch die an Sklaverei grenzenden Arbeitsverhältnisse der Madrider Dienstmädchen"42 vorgeführt werden. Der einzige Lichtblick ist der Sonntag mit ein paar freien Stunden. Doch auch diese bringen dem Mädchen und ihren Freundinnen nicht das erhoffte Glück.43 La tarde del domingo ist der erste Film des Instituts, welcher an Originalschauplätzen und mit Originalton arbeitet. Darin liegt Sauras Meinung nach die Hauptbedeutung seiner Abschlussarbeit: "Wir drehten dokumentarisch: zum Beispiel den Tanz der Mädchen im Kino Salamanca. Möglicherweise war er sehr schlecht, aber was vielleicht von Interesse ist, ist die Tat, mit der Kamera auf die Straße zu gehen, was, wie ich schon gesagt habe, im Institut noch nie geschehen war."44

Nach Fertigstellung seines Abschlussfilms heiratet Carlos Saura in Barcelona seine Freundin Adela Medrano.45

1958 Cuenca *

Bei diesem Film handelt es sich um eine 45-minütige Dokumentation über die kleine Stadt Cuenca, in der Carlos Saura "den vielleicht glücklichsten Teil seiner Kindheit"46 verbrachte. Auftraggeber sind die Stadtbehörden, die sich einen Werbefilm erhoffen, um diesen für touristische Zwecke einzusetzen. Aber erst nach über einem Jahr, in dem Saura immer wieder in kurzen Etappen dreht, erhalten sie das fertige Werk, das ganz und gar nicht ihren Vorstellungen entspricht. Da die Finanzierung des Films aus Steuergeldern erfolgt, einigt man sich darauf, die Bewohner entscheiden zu lassen. Nach einer gutbesuchten Vorstellung spricht sich das Publikum für den Film aus – der Streit wird beigelegt.47

Der Film gliedert sich in drei Teile: "einen geographisch-beschreibenden, einen lyrischen mit Blick auf die Vergangenheit Cuencas und einen folkloristischen, der die starke Verwurzelung in archaischen und religiösen Traditionen in der modernen Gegenwart aufzeigt."48 Mit Cuenca tritt Saura erstmals auf spanischen Festivals in Erscheinung und erhält 1959 in Bilbao sogar den SILBERNEN Preis.49

Saura sieht die Zeit für seinen ersten Langspielfilm gekommen, von Fingerübungen hat er genug: "Diese waren meine ersten kinematografischen Versuche, bei denen ich mich übte, bevor ich mich an das große Abenteuer des Spielfilms und der Regiearbeit mit Schauspielern wagte."50

Sauras erster Sohn Carlos wird geboren.51

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Los golfos, 1959

Quelle: Oms, 1981, S. 12

3.2.2 Langspielfilme

1959 Los golfos * (Die Straßenjungen) 88 min.

Sauras erster Spielfilm handelt von einer Gruppe Jugendlicher aus den Slums von Madrid. Die Jungs halten sich mit kriminellen Handlungen über Wasser und träumen gleichzeitig von einem besseren Leben, welches sie "aus ihrer trostlosen Ordnung ausbrechen"52 lässt. Ihre ganzen Hoffnungen setzen sie in die mögliche Karriere von Juan, welcher den Ruhm und Ehre versprechenden Beruf des Stierkämpfers ergreifen will. Für Juans ersten Auftritt fehlt es der Gruppe jedoch an Geld, ein Überfall soll Abhilfe schaffen. Der Plan gelingt, doch während der Flucht wird einer der Freunde in den Tod gerissen. Am folgenden Tag misslingt Juans Debüt als Torero kläglich und vor der Arena wartet bereits die Polizei.53

Den dokumentarischen Weg, welchen Saura mit seinen Kurzfilmen eingeschlagen hat, führt er in Los golfos weiter. Reportagestil, Handkamera, Originalschauplätze und die Arbeit mit (fast ausschließlich) Laiendarstellern sind für damalige Verhältnisse eine absolute Neuheit. Juan, der Torero-Darsteller, ist allerdings echt und stellt den Regis-seur während der Dreharbeiten vor ein Problem hinsichtlich des Filmschlusses. Da er seine im Drehbuch vorgesehene, schmachvolle Niederlage nicht akzeptieren will, lässt Saura den wirklichen Ausgang des Kampfes über das Ende des Filmes entscheiden. Der durch die Dreharbeiten nervös gewordene Juan macht hier jedoch keine gute Figur, und so endet Los golfos wie von Saura anfangs geplant.54

Das "bittere soziale Dokument über die Frustration der Nachkriegsgeneration"55 wird in Cannes sehr positiv aufgenommen,56 "obwohl die Unsicherheit des "Anfängers" Saura in gestalterischen Details unübersehbar war."57 Die spanische Zensur hingegen ist aufmerksam geworden - Schwarzmalerei steht nicht in ihrem Interesse. Erst drei Jahre später darf Los golfos in Spanien gezeigt werden, um einige zu "realistische" Szenen gekürzt.58 Die Kritik zieht Parallelen zum Neorealismus und zur nouvelle vague59, Saura dazu: "no quería hacer un film neorealista, sino, en cierta manera, una película romántica."60

1960 erblickt Antonio, Sauas zweiter Sohn, das Licht der Welt. Im selben Jahr lernt Saura auf dem Filmfest in Cannes seinen Landsmann Luis Buñuel kennen. Die beiden schließen eine tiefe Freundschaft, welche erst der Tod des Älteren (Buñuel stirbt 1983) beendet.61

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Llanto por un bandido, 1963
Quelle: Oms, 1981, S. 20

1963 Llanto por un bandido (Córdoba) 101 min.

Spanien im 19. Jahrhundert. Verschiedene Räuberbanden kontrollieren die Straßen und Wälder. Tempranillo ist der Anführer einer mehr liberalen Rebellengruppe, die sich auf Überfälle und Plünderungen spezialisiert hat. Der wachsende Erfolg, Geld und Macht steigen dem Bandenchef allerdings langsam zu Kopf. Er lebt und regiert in seinem Kreis wie ein König und entfernt sich mehr und mehr von den Ideen der Liberalen. Des Rebellenlebens endlich müde geht Tempranillo mit dem König, Ferdinand VII., einen verräterischen Handel ein – für das königliche Versprechen, ihm seine kriminellen Handlungen zu vergeben, verkauft Tempranillo der Krone seine Mitstreiter und damit seine Ideale. Diesen Verrat muss er mit dem Leben bezahlen. Tempranillo stirbt im Kampf durch die Hand eines früheren Kameraden.

Mit seinem zweiten Film versucht sich Saura an der historischen Verfilmung des in Spanien mit Legenden umrankten Räubers Tempranillo. Die chronologisch erzählte Handlung spielt fast ausnahmslos in der kargen und weiten Gebirgslandschaft Andalusiens. In viel mehr unterscheidet sich Llanto por un bandido jedoch nicht von anderen Räuberfilmen. Auch nicht in seiner Mittelmäßigkeit. Bemerkenswert ist allein das abrupte Filmende und einige Einstellungen, die Saura gut gelungen sind. Etwa die Szene, in der sich Tempranillo in majestätischer Haltung im Sattel malen lässt - allerdings ohne Pferd, wie man erkennt, als die Kamera langsam wegzieht. Ansonsten lässt die Spannung des Films immer wieder nach, das könnte u.a. auch daran liegen, dass der Regisseur beim Filmschnitt nicht anwesend ist. Die Postproduktion erfolgt ohne Saura in Italien und machte aus Llanto por un bandido eine Art Actionfilm. Die von Saura angestrebte Statik ist dahin. Auch die spanische Zensur beschneidet das Werk großzügig und mehrere Szenen vollständig heraus. Etwa die Hinrichtungsszene von sieben zum Tode verurteilten Rebellen, in welcher Buñuel als Henker auftritt. 1964 zeigt die Berlinale die verstümmelte Fassung von Llanto por un bandido .62

Für Saura ist der Film ein Misserfolg. Im Interview mit Enrique Brasó gesteht er ein: "Einer der Fehler dieses Films war, dass ich mir zuviel vorgenommen habe. Es sollte einerseits ein volkstümliches Stück werden, andererseits sollte der Film einen klar umschriebenen politischen Standpunkt einnehmen, verbunden mit der Möglichkeit, die politischen Probleme des 19. Jahrhunderts zu aktualisieren. Zudem wollte ich einen Film von großer ästhetischer Schönheit realisieren und gleichzeitig etwas Spek-takuläres schaffen. Kurz und gut, es war zuviel. Und genau darin mag einer der Gründe liegen, die mich dazu bewogen haben La caza zu machen, gewissermaßen als Reaktion."63

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

La caza, 1965

Quelle: Oms, 1981, S. 26

1965 La caza (Die Jagd) 93 min.

Drei Freunde gehen an einem heißen Sommertag in der ausgedörrten Berglandschaft Südspaniens auf Kaninchenjagd. Paco, Luis und José, alles Männer um die fünfzig, stammen aus der spanischen Mittelschicht. Sie werden begleitet von dem jungen Enrique, dem Neffen von Paco. Eine sengende Hitze lässt den Jägern die Schweißperlen auf die Stirn treten. Die Jagd gelingt ihnen außerordentlich gut, fast ein Dutzend getöteter Kaninchen müssen die Hunde apportieren. Später kommt Misstrauen zwischen den Männern auf, geflüsterte Gespräche wecken Erinnerungen, denen sie offensichtlich zu entfliehen suchen. Irgendetwas ist in ihrer Vergangenheit passiert, was sie immer noch zu plagen scheint. Die Beklemmung steigert sich, als in einer Höhle ein Skelett gefunden wird, welchem noch Uniformfetzen um die Knochen schlottern. Die Hitze und der heftig genossene Alkohol verstärken sich gegenseitig in ihrer halluzinierenden Wirkung. Als José mit dem Gewehr zufällig auf Paco zielt, bricht die latente Gewalt, die seit dem mechanischen Töten der Kaninchen immer präsenter wird, offen aus. José drückt ab und Paco bricht tot zusammen. Der trunkene Wahnsinn greift weiter um sich, Luis und José töten sich gegenseitig. Nur Enrique überlebt. Geschockt rennt er aus dem Tal. Das Bild friert ein. Ende.

Mit seinem dritten Spielfilm hat Saura erneut eine vollkommen neue Richtung eingeschlagen. Im Gegensatz zu Llanto por un bandido (1963) beschränkt er sich in La caza auf wenige Figuren und einen klar abgegrenzten Raum. Bis auf einen kurzen Ausflug in das benachbarte Dorf spielen alle Szenen in der strengen Einöde des kleinen, von einer Bergkette eingeschlossenen, Tals. Der Filmstil ist dokumentarisch, erinnert an Los golfos (1959). Lange Einstellungen und Kameraschwenks legen den Schwerpunkt auf die innere Dynamik der Bilder. Der Rahmen wirkt eher statisch, Anfangsund Endpunkt der chronologisch aufgebauten Erzählung liegen in nur einem Nachmittag. Saura gelingt es mit wenigen Mitteln eine Spannung aufzubauen, welche sich auf überraschende und bestürzende Weise entlädt. Die Jagdszenen hinterlassen ebenfalls einen Schock, wenn auch aus einem anderem Grund - die armen Kaninchen werden real und vor laufender Kamera abgeknallt! Anscheinend hatten die Tierschutzvereine 1965 noch keine Macht auf die Filmindustrie; heute wäre so etwas undenkbar.

La caza ist der erste Film Sauras, welcher sich mit der in guten wirtschaftlichen Verhältnissen lebenden spanischen Mittelschicht, ihren Problemen und Grenzsituationen beschäftigt. Diese Thematik wird der Regisseur in späteren Arbeiten wiederholt aufgreifen. Erstmals taucht ein von Saura häufig verwendetes Motiv auf – der spanische Bürgerkrieg. Seine Schrecken spiegeln sich ebenso in den Gedanken der Figuren, in welche sie sich für immer gebrannt haben, als auch im einsamen Tod des ehemaligen Soldaten. Der schaurige Fund verweist jedoch auch auf ein früheres Erlebnis des Regisseurs: Als Schüler entdeckte Saura eines Tages mit einer Gruppe von Klassenkameraden, einen Keller. Dort fanden sie sechs oder sieben Leichen in Uniform, mit Waffen und Granaten.64 Das zentrale Thema des Films ist die Gewalt, welche Saura symbolisch versteht: "Das Thema von La Caza ist ein internationales Problem. Es geht um die Aggressionen überall in der Welt, die Nutzlosigkeit des Krieges, des Todes, die Nutzlosigkeit der Jagd; denn heute geht man nur noch zum Vergnügen zur Jagd, nicht mehr aus Gründen des Überlebens. [...] Ich hätte meinen Film auch anderswo ansiedeln können, in Vietnam oder in Afrika, und er würde deswegen nicht anders aussehen. Ich befasse mich nun einmal mit Elementen der spanischen Realität, mit Leuten, die ich kenne. Ich übersetze ihre Probleme, ich mache sie zu meinen Subjekten. So entstand La Caza."65

[...]


1 Einen – mal mehr, mal weniger - ausführlichen Gesamtüberblick bieten:
1981 Carl Hanser Verlag mit seiner Reihe Film, Nr. 26 Carlos Saura mit diversen Beiträgen
1984 Hans Eichenlaub Carlos Saura
1987 Jorge Hönig Alle meine Träume, meine Ängste und meine Wünsche
1994 Renate Gompper Carlos Saura und die totale Realität

2 vergl. Tudor, 1977

3 Einen Überblick der verschiedenen Analysemethoden bietet Faulstich, 1988

4 vergl. Kanzog, 1981, S. 11

5 Der Neoformalismus basiert weitgehend auf den Theorien der russischen Formalisten, vergl. Thompson, 1995

6 aktueller Beweis - Sauras Aussage während einer Podiumsdiskussion am 13.02.2002 in Berlin: "Ich sträube mich dagegen, dass Kritiker jemanden in eine Kategorie drängen wollen."

7 Glücklich können sich jene schätzen, die im Beruf oder in ihren Hobbys geistig gefordert werden. Das ist jedoch nicht der Regelfall.

8 Man denke nur an die Monty Python–Klassiker...

9 vergl. Thompson, 1995, S. 31

10 vergl. Thompson, 1995, S. 57

11 vergl. 1995, S. 45-46

12 Thompsons Differenzierung zwischen vorund unbewußter Aktivität finde ich nicht ausreichend nachvollzieh bar. Mir erschiene eine Zusammenfassung beider Kategorien schlüssiger.

13 vergl. Thompson, 1995, S. 49

14 vergl. Thompson, 1995, S. 49 - 50

15 Filme, die eine Geschichte erzählen. Im Gegensatz zum narrativen Film steht z.B. die Dokumentation oder die Reportage.

16 1994, S. 23 - 25

17 1984, S. 22

18 1981, S. 121 - 125

19 Autor unbekannt, http://www.cervantes-muenchen.de/10_special/saura/subframe_bio.html, 23.7.2001

20 vergl. Arnold, 1981, S. 121 Nähere Angaben über die Art des Preises und über die Arbeit der Mutter sind in keiner der von mir recherchierten Quelle thematisiert.

21 im Interview mit Zimmer, 1981, S. 42

22 ebenda

23 Dieses traumatische Ereignis verarbeitet Saura später in seinem Film La prima Angélica .

24 Saura im Interview mit Angel S. Harguindey, Beckers & Lempp, 1981, S. 107

25 span. "Maschinenbau"

26 Die Einzelheiten zu seiner Arbeit als Fotograf werden unter 3.3 Weitere Arbeitsfelder vorgestellt.

27 vergl. Schwarzkopf, Die Welt, 5.9.1986

28 span. "Institut für Kinematografische Forschungen"

29 vergl. Gompper, 1994, S. 24

30 vergl. Arnold, 1981, S. 122

31 Hönig, 1987, S. 160

32 Hönig, 1987, S. 159

33 Einzelheiten im Abschnitt 3.2.1 Kurzfilme

34 Hönig, 1987, S. 159

35 Haubrich, Frankfurter Allgemeine, 25.10.1985

36 Saura im Februar 2002 im Gespräch mit der Autorin auf die Frage nach der Anzahl seiner Enkelkinder: "Ich weiß nicht wie viele. Wenigstens drei, aber ich glaube, es sind vier..." vergl. Interview im Anhang

37 vergl. Fuentes, Jennice, http://www.filmoteca.com/sec4/saura.htm, 15.12.2001

38 Von mir nicht eingesehene Filme sind nach dem Titel mit einem * markiert.

39 zitiert bei Arnold, 1981, S. 122

40 Saura im Februar 2002 im Gespräch mit der Autorin, vergl. Interview im Anhang

41 1981, S. 126

42 zitiert in Arnold, 1981, S. 122

43 vergl. Eichenlaub, 1984, S. 65

44 im Gespräch mit Enrique Brasó, 1974, S. 35, zitiert in Koch, 1981, S. 49

45 vergl. http://www.cervantes-muenchen.de/10_special/saura/subframe_bio.html, 23.7.2001

46 Eichenlaub, 1984, S.68

47 vergl. Koch, 1981, S. 50 und Eichenlaub, 1984, S. 67

48 Gompper, 1994, S. 31

49 vergl. Arnold, 1981, S. 126

50 im Interview mit Hönig, 1985, S. 160

51 vergl. Autor unbekannt, http://www.cervantes-muenchen.de/10_special/saura/subframe_bio.html, 23.7.2001

52 Neue Züricher Zeitung, 25.11.1978

53 vergl. Eichenlaub, 1984, S. 69-72 und Koch, 1981, S. 50-54

54 vergl. Eichenlaub, 1984, S. 72

55 Hönig, 1987, S. 160

56 vergl. Gompper, 1994, S. 33

57 G.A., Filmspiegel, 1976

58 vergl. Gompper, 1994, S. 33

59 G.A., Filmspiegel, 1976

60 span. "Ich wollte nicht einen neorealistischen Film, sondern, in gewisser Weise, einen romantischen Film machen." Gubern, 1979, zitiert in Gompper, 1994, S. 33

61 vergl. Autor unbekannt, http://www.cervantes-muenchen.de/10_special/saura/subframe_bio.html, 23.7.2001

62 vergl. Gompper, 1994, S. 36

63 Brasó, 1974, S. 90, zitiert in Eichenlaub, 1984, S. 77

64 vergl. Eichenlaub, 1984, S. 194

65 Nuestro Cine, 1966, Nr. 51, zitiert in Eichenlaub, 1984, S. 82

Ende der Leseprobe aus 167 Seiten

Details

Titel
Carlos Saura. Themen, Motive und Stilmittel im Werk des spanischen Filmregisseurs. Eine Analyse
Hochschule
Universität der Künste Berlin  (Institut für audiovisuelle Kommunikation)
Note
Sehr gut
Autor
Jahr
2002
Seiten
167
Katalognummer
V14211
ISBN (eBook)
9783638196765
ISBN (Buch)
9783638698849
Dateigröße
10579 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Carlos, Saura, Themen, Motive, Stilmittel, Werk, Filmregisseurs, Analyse
Arbeit zitieren
Petra Häußer (Autor:in), 2002, Carlos Saura. Themen, Motive und Stilmittel im Werk des spanischen Filmregisseurs. Eine Analyse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14211

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