Die Individuen der Frühen Neuzeit waren – auch im Vergleich zu heutigen Verhältnissen – sehr stark eingebunden in eine Art Kollektiv, welches sich durchaus identitätsstiftend auf das Leben und Handeln der einzelnen sozialen Akteure auswirkte, wobei dieses Kollektiv keineswegs als ein einheitliches verstanden werden darf. Vielmehr haben wir es hier mit einem überaus vielschichtigen und partikularen System zu tun, welches selbst mannigfachen Einflüssen unterworfen war und das selbst aus mehreren, parallel existierenden kleineren Sozialverbänden bestand.
Dieses soziale Netzwerk setzte sich zusammen aus der Familie im engeren Sinne, einer eventuell vorhandenen Hausgemeinschaft (also Angestellte, Bedienstete etc.), und dem weiteren sozialen Umfeld wie Nachbarn, Dorf- oder Bürgergemeinschaft, Freunden, Zünften, Berufsvereinigungen und anderen Gemeinschaften. Innerhalb dieses sozialen Kontextes gewann Solidarität, oder auch „Geselligkeit“ eine gleichsam existenzielle Bedeutung. Der Verlust eines solchen Netzwerkes kam einer gesellschaftlichen Marginalisierung gleich, einem sozialen und wirtschaftlichen an-den-Rand-gedrängt-werden, das u.U. im totalen Ruin enden konnte, wie an Augustin Güntzers Autobiographie mehr als deutlich wird.
Grundlage dieser frühneuzeitlichen Lebensform war dabei die Ehre, also das symbolische Kapital, welches mitunter sogar wichtiger als das materielle Kapital sein konnte – ja, die finanzielle Situation eines Menschen hing teilweise sogar von ihr ab. Bestimmender Maßstab war die Ehrenhaftigkeit des Handelns, oft zwar nur implizit, aber unehrenhaftes oder ehrenwidriges Agieren hatte in der Regel Sanktionen zur Folge und zwar auf sozialer Ebene. Ehre kann also durchaus als Mittel zur Herstellung von Solidarität und damit auch zur sozialen Absicherung gesehen werden, wie im weiteren Verlauf noch zu sehen sein wird.
Darüber hinaus spielte im 17. Jahrhundert die Konfessionalität bei diesen Netzwerken eine große Rolle, wie Güntzers Autobiographie mehr als deutlich zeigt. Anhand des „Kleinen Biechlin vom meinem gantzen Leben“ lässt sich die Vielschichtigkeit der Sozialverbände in der FNZ und die Faktoren, denen sie unterworfen waren, gut erkennen. Im Laufe dieser Arbeit soll also genauer untersucht werden, wie diese komplexen Sozialverbände der Frühen Neuzeit aufgebaut waren, welche Einflüsse auf sie einwirkten und welche Konsequenzen sich für die jeweiligen Individuen daraus ergaben. (...)
Inhaltsverzeichnis
01: Soziale Netzwerke in der Frühen Neuzeit
02: Soziale Beziehungen im 17. Jahrhundert - Aufbau, Bedeutung und Verknüpfungen
02.1: Ehe und Familie
02.2: Zunft, Patrons und Gesellentum
02.3: Ehre und Gesellschaft
02.4: Die Rolle der Konfession
03: Fazit
Literaturverzeichnis
01: Soziale Netzwerke in der Frühen Neuzeit
Die Individuen der Frühen Neuzeit waren – auch im Vergleich zu heutigen Verhältnissen – sehr stark eingebunden in eine Art Kollektiv, welches sich durchaus identitätsstiftend auf das Leben und Handeln der einzelnen sozialen Akteure auswirkte, wobei dieses Kollektiv keineswegs als ein einheitliches verstanden werden darf. Vielmehr haben wir es hier mit einem überaus vielschichtigen und partikularen System zu tun, welches selbst mannigfachen Einflüssen unterworfen war und das selbst aus mehreren, parallel existierenden kleineren Sozialverbänden bestand.
Dieses soziale Netzwerk setzte sich zusammen aus der Familie im engeren Sinne, einer eventuell vorhandenen Hausgemeinschaft (also Angestellte, Bedienstete etc.), und dem weiteren sozialen Umfeld wie Nachbarn, Dorf- oder Bürgergemeinschaft, Freunden, Zünften, Berufsvereinigungen und anderen Gemeinschaften. Innerhalb dieses sozialen Kontextes gewann Solidarität, oder auch „Geselligkeit“ eine gleichsam existenzielle Bedeutung. Der Verlust eines solchen Netzwerkes kam einer gesellschaftlichen Marginalisierung gleich, einem sozialen und wirtschaftlichen an-den-Rand-gedrängt-werden, das u.U. im totalen Ruin enden konnte, wie an Augustin Güntzers Autobiographie mehr als deutlich wird.
Grundlage dieser frühneuzeitlichen Lebensform war dabei die Ehre, also das symbolische Kapital, welches mitunter sogar wichtiger als das materielle Kapital sein konnte – ja, die finanzielle Situation eines Menschen hing teilweise sogar von ihr ab. Bestimmender Maßstab war die Ehrenhaftigkeit des Handelns, oft zwar nur implizit, aber unehrenhaftes oder ehrenwidriges Agieren hatte in der Regel Sanktionen zur Folge und zwar auf sozialer Ebene. Ehre kann also durchaus als Mittel zur Herstellung von Solidarität und damit auch zur sozialen Absicherung gesehen werden, wie im weiteren Verlauf noch zu sehen sein wird.
Darüber hinaus spielte im 17. Jahrhundert die Konfessionalität bei diesen Netzwerken eine große Rolle, wie Güntzers Autobiographie mehr als deutlich zeigt. Anhand des „Kleinen Biechlin vom meinem gantzen Leben“ lässt sich die Vielschichtigkeit der Sozialverbände in der FNZ und die Faktoren, denen sie unterworfen waren, gut erkennen.
Im Laufe dieser Arbeit soll also genauer untersucht werden, wie diese komplexen Sozialverbände der Frühen Neuzeit aufgebaut waren, welche Einflüsse auf sie einwirkten und welche Konsequenzen sich für die jeweiligen Individuen daraus ergaben. Dabei soll versucht werden, einzelne soziale Bereiche getrennt voneinander zu betrachten, angefangen bei der Sphäre der Ehe und Familie, danach die zünftische Gemeinschaft mit ihrem Klientel- und Patronagesystem und das Gesellentum, drittens soll die Rolle der Konfession näher betrachtet werden und abschließend das Ehrkonzept der frühneuzeitlichen Gesellschaft, bevor die Ergebnisse in einem letzten Schritt zusammengefasst werden und der Frage nach dem Zweck autobiographischen Schreibens in einer Situation der gesellschaftlichen Isolation nachgegangen werden sollen.
02: Soziale Beziehungen im 17. Jahrhundert - Aufbau, Bedeutung und Verknüpfungen
02.1: Ehe und Familie
Wenn wir Augustin Güntzers Ausgangssituation betrachten, so fällt auf, dass diese in Bezug auf die soziale Integration verhältnismäßig gut situiert anmutet. Er wurde in eine relativ wohlhabende Familie hinein geboren, die im gesamten Elsass verbreitet war und sich sozusagen einen Namen gemacht hatte, und auch die gesellschaftliche Anbindung der Güntzers sowohl in horizontaler, als auch in vertikaler Richtung erscheint stabil und gefestigt.
Eine wichtige Rolle scheinen bei diesen familiären Netzwerken die so genannten Patenschaften zu spielen: Sie waren eine Art Indikator, ein sichtbares Zeichen für die soziale Integration und die gesellschaftlichen Beziehungen (viele Paten der Familie Güntzer kamen eben auch aus der protestantischen Oberschicht, was hohes Ansehen bedeutete). Auch wird hier deutlich, dass Verbindungen zwischen einzelnen Familien nicht nur durch direkte Blutsverwandtschaft oder Heirat bestehen konnte, sondern auf verschiedene Art und Weise. Die familiären Verflechtungen waren also keinesfalls eindimensional, sondern vielschichtig und dynamisch.
Güntzers spätere soziale Isolation (auf horizontaler Ebene!) lässt sich dann eben auch daran erkennen, dass keine seiner Zunftgenossen in Colmar als Paten seiner Kinder fungieren und umgekehrt.
Der Sinn dieses sozialen Netzwerkes, in das die Güntzers eingebunden waren, lag vor allen Dingen in seiner Sicherungsfunktion. Es bot Sicherheit in schwierigen Zeiten durch die gegenseitige Unterstützung, und damit auch Schutz vor sozialem und wirtschaftlichen Abstieg: Als beispielsweise Güntzers Vater emigrieren musste, half ihm dieses soziale Netz, in einer anderen Stadt Fuß zu fassen.
Aber nicht nur durch Patenschaft, auch durch Eheschließungen entstanden solche Verbindungen – und konnten geschädigt werden, wie an der gesellschaftlichen Reaktion auf die Heirat von Güntzers Tochter Agnes mit einem Konfessionsfremden zu erkennen ist.
Er selbst ehelicht eine wohlhabende Witwe aus Colmar, deren Vater lange Zeit Ratsmitglied gewesen war – eine, in Bezug auf seine soziale Integration gesehen, günstige Ehe, verschaffte sie ihm doch Zugang zur protestantischen Oberschicht und gleichzeitig das Bürgerrecht von Colmar, also auch den Zugang zur Handwerkszunft. Im Gegensatz zur schwachen horizontalen Integration Güntzers konnte er also dank seiner Frau, die ihn in die „gute Gesellschaft“ (Brändle) einführte, wenigstens in vertikaler Richtung an einem gesellschaftlichen Beziehungsgeflecht partizipieren. Brändle: „Es macht den Anschein, als ob bei Güntzer die vertikale Anbindung an die protestantische Elite jene der horizontalen, an der Zunft orientierten, ersetzte.“[1] Erkennbar wird dies beispielsweise an den verschiedenen Patronage- und Klientelverhältnissen, die Güntzer in den ersten Jahren, die er in Colmar verbringt, zu einigen der führenden Familien der Stadt unterhält. Nach dem Tod seiner Frau in Straßburg scheinen diese Netzwerke aber keinen großen Bestand mehr zu haben, da Güntzer nach seiner Rückkehr aus der Emigration mehr und mehr ins gesellschaftliche Abseits gerät, wobei in seinem Witwerstand sicher nicht der alleinige Grund zu sehen ist. Von Bedeutung waren hier gewiss auch seine wirtschaftlich prekäre Lage und seine Konfession. Dennoch: Mit seiner Frau fehlte quasi das Bindeglied Güntzers zur protestantischen Oberschicht Colmars, wodurch sich konfessionelle Differenzen nun verstärkt isolierend auswirken konnten.
02.2: Zunft, Patrons und Gesellentum
Ein anderer Sozialverband von existenzieller Bedeutung war das berufliche und wirtschaftliche Umfeld der frühneuzeitlichen Individuen.
Beruf und gesellschaftliches Ansehen hingen stark zusammen, wie man an Güntzers Großvater erkennen kann, genoss er doch aufgrund seines Status als hoher Beamter Anerkennung auch weit über die Grenzen seiner Stadt hinaus. Ein anderes Beispiel für den Zusammenhang von beruflicher Tätigkeit und Sozialstatus wäre die Verachtung, die so genannten unehrlichen Berufen (Henker etc.) entgegengebracht wurde. Jemand, der eine solche Tätigkeit ausübte, befand sich schon allein aufgrund seines Berufes am Rande, wenn nicht sogar außerhalb der normalen Gesellschaft.[2]
[...]
[1] Fabian Brändle, in: Augustin Güntzer: Kleines Biechlin von meinem gantzen Leben. Die Autobiographie eines Elsässer Kannengießers aus dem 17. Jahrhundert. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, 2002 (Selbstzeugnisse der Neuzeit, Bd. 8), S. 16
[2] Ob und inwieweit sich hier eigene Netzwerke innerhalb dieser sog. unehrlichen Berufe bildeten, wäre an anderer Stelle zu untersuchen
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