Das Problem mit dem Dionysischen und dem Apollinischen

Das Missverhältnis zwischen den zwei polaren Mächten in „Idioten“, „Models“ und „Der siebte Kontinent“


Dossier / Travail de Séminaire, 2007

21 Pages, Note: 1


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

„Idioten“ von Lars von Trier
Mit „falschem“ Dionysischen gegen das Apollinische
Das apollinische Bild des Films

„Models“ von Ulrich Seidl
Erzwingen des Apollinischen, Abrutschen ins Dionysische - Der Kampf
Der Frevel und die Widernatürlichkeit
Die verstärkenden, formalen Aspekte und die Wechselwirkung der Mächte

„Der Siebte Kontinent“ von Michael Haneke
Die unklare Haltung der Protagonisten ...trotzdem Sinnesfreuden
Hanekes kalter Blick

Resümee

Quellenangabe

Einleitung

Friedrich Nietzsches Philosophie, welche besagt, dass die Kunst, aber auch die Welt an sich aus zwei polaren Grundmächten, dem Dionysischen und dem Apollinischen, besteht, mündet in einer besonders wichtigen Feststellung: Die zwei Mächte, obwohl so konträr, können nicht ohne einander sein. Der Mensch rettet sich aus der dionysisch grausamen und ungeheuren Wahrheit der Natur und seines Lebens in den heilsamen, schönen, illusorischen, apollinischen Traum, der ihn vor dem Untergang bewahrt; in der Kunst muss der dionysische Mythos und die Musik, welche an sich von derselben ungeheuren Kraft ist, in das Apollinische „übersetzt“, um verkraftet zu werden. Doch nicht nur das wertende Verhältnis von Untergang und Heilung verbindet die beiden Kräfte miteinander - auch beispielsweise die Dominanz der Maß-Gebenden1 apollinischen Macht würde negative Auswirkungen haben:

„ ...Damit aber bei dieser apollinischen Tendenz die Form nicht (...) erstarre, damit nicht unter dem Bemühen, der einzelnen Welle ihre Bahn und ihr Bereich vorzuschreiben, die Bewegung des See`s ersterbe, zerstörte von Zeit zu Zeit wider die hohe Fluth des Dionysischen alle jene kleinen Zirkel, in die der einseitig apollinische „Wille“ das Hellenenthum zu bannen suchte...“2

Die Ordnung der Welt scheint von diesem Zweigespann abzuhängen.

Aber das bewusste Leben wird zwischen den beiden Möglichkeiten zerrissen:

Einerseits wird es angezogen vom Dionysischen um nicht zu veröden, andererseits ist es auf die zivilisatorischen Schutzvorrichtungen angewiesen um dem Dionysischen nicht preisgegeben zu sein.3

Die „dionysische Weisheit“ lässt den von der dionysischen Lust gelockten Menschen jene erkennen, sich aber gleichzeitig an den apollinischen Schutzvorrichtungen festhalten, welche die Kultur für ihn darstellt.

Davon ausgehend, dass sich das Heilsame und „Positive“ des Lebens aus der richtigen Mischung der zwei polaren nietzschen Mächte ergibt, habe ich ein gemeinsames Grundprinzip der drei Filmemacher entdeckt, welche das Ziel verfolgen, in ihren Filmen das „echte“ Leben zu zeigen und die man einstimmig als eher „schwerverdaulich“ oder sogar „negativ“ bezeichnen könnte: Michael Haneke, Lars von Trier und Ulrich Seidl. In den Filmen der drei Filmemacher besteht nämlich ein auffallendes Ungleichgewicht zischen dem Apollinischen und dem Dionysischen. Nicht nur das - oft ist speziell das Missverständnis, eine Überoder Unterschätzung von, oder ein zu starkes Verlangen der Figuren nach einem der beiden Mächte im Zentrum der Filme. Sie kämpfen stets mit dem Dionysischen (lustvoll Triebhaften, oder Todesnahen), klammern sich zu sehr an das Apollinische (also Kulturellem, Zivilisatorischem...), oder umgekehrt.

Dieses herrschende „Problem“, der Kampf der Figuren mit den beiden Ur-Kräften, habe ich in folgenden Filmen untersucht: „Idioten“ von Lars von Trier, „Models“ von Ulrich Seidl und „Der siebte Kontinent“ von Michael Haneke. Das Apollinische ist hierbei zweierlei vertreten: Einerseits sehe ich darin die Kultur und zivilisatorische und gesellschaftliche Daseins-Regeln, aber andererseits darf man dabei nicht den kleineren Rahmen vergessen: Die filmische Präsentation. Die Handlung, welche sich mit dem Verhältnis zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischem auseinandersetzt, hat als dionysischer „Mythos“ ihr apollinisches Erscheinungsbild im jeweiligen Stil der Regisseure, welcher in Verbindung mit oben beschriebener Problemstellung untersucht werden muss.

„Idioten“ von Lars von Trier

„Idiot zu sein, ist Luxus und Fortschritt zugleich“4, sagt an einer Stelle Stoffer zu Karen, als er ihr seine Beweggründe für das Idioten-Spiel seiner Gruppe erklären will. Die neunköpfige „Familie“, wie sie von einigen Mitgliedern der Gruppe genannt wird, sieht ihre Idioten-Spiele als einen Weg zur totalen Freiheit: Als Befreiung ihres inneren Idioten zum Zweck der Loslassung von inneren und äußeren (gesellschaftlichen) Zwängen. Wir begleiten Karen auf ihrer anfangs kaum zu bemerkenden Flucht vor ihrer Familie und dem Tod ihres Kindes und beim Kennenlernen der „Familie“ Stoffers, welche Karen eine zwar etwas suspekte aber sehr verlockende Alternative zu ihrer ziellosen Flucht bietet.

Diese Leute um die dreißig, welche mit Stoffer in dem Haus seines Onkels hausen, haben sich in eine Art Kommune zusammengetan. Scheinbar Familie und Arbeit vernachlässigend (oder sich nur sporadisch damit beschäftigend, wie wir im Falle von Axel - der dem Beruf eines Werbetexters nachgeht - sehen können), spielen sie Behindertenheim, in welchem es, je nach Bedarf, ein bis zwei Betreuer gibt und wo allmählich Alltag und Spiel nahtlos und abhängig von Lust und Laune ineinander überfließen. Von Ausflügen ins Schwimmbad, über Besuche von Fabriken bis Geburtstagsfeiern, die in wildem „Rudelbumsen“ münden - alles was in den Rahmen des „Idioten“- Daseins fällt, wird hier ausprobiert.

Den Spott, aber, den Karen schon gleich zu Beginn an diesem Spiel kritisiert, reizt Stoffer im Laufe des Filmes immer mehr aus: Seine ideologischen Überzeugungen, so stellt sich nämlich heraus, basieren bei ihm einzig und allein auf einer riesigen, aber auch blinden Wut auf die Gesellschaft, die ihn zu aggressiven Provokationen treibt - auf diese Weise weiß er beispielsweise auch alle am Haus interessierten Eindringlingen effektiv zu vertreiben.

Nicht nur für Karen ist das Ganze eine Flucht, auch Josephine entpuppt sich als eine von Zuhause, ihrem Vater und ihren Medikamenten Entflohene. Ob es sich ähnlich und wie es sich bei den anderen verhält, kann man nur raten.

Als Stoffer die ideologische Überzeugung seiner Kommunenmitglieder auf eine harte Probe stellt, kann sich schlussendlich nur die bislang zurückhaltende Karen beweisen: Stoffer will sehen, ob jeder von ihnen seinen Idioten auch im privaten Leben spielen kann. Karen traut sich als einzige und lässt ihren Idioten ihre ohnehin schon von ihrer Flucht schwer enttäuschte Familie schockieren.

Mit „falschem“ Dionysischen gegen das Apollinische Ganz offensichtlich ist Stoffer und mit ihm seine „Familie“ sehr bemüht, das dionysische Element in sich zu wecken und auszuleben. In erster Linie geht es ihnen um das eigene Vergnügen, um das lustvolle Spiel, doch für manche ist es die Flucht in eine alternative Therapie und für Stoffer wird es zur Ideologie, zu einer Sache, hinter der man hundertprozentig stehen soll. Die Gruppe grenzt sich örtlich, sowie geistig von der Außenwelt ab, jedem Fremden begegnen sie im Spiel. Was den Anschein einer harmlosen, witzigen Freizeitbeschäftigung hat, birgt jedoch undurchsichtige Ambivalenz und fruchtbaren Boden für Streitigkeiten in sich. Schon zu Beginn bezeichnet Karen das Idioten-Spiel als Spott: „Es gibt Menschen, die sind wirklich krank“.5 Das Spannende an diesem Spiel ist ja die Konfrontation des eigenen Idioten mit der Außenwelt. Deshalb muss einmal ein Fabriksleiter mit engelsgleicher Geduld die Behinderten-Gruppe zwischen nicht ungefährlichen Maschinen herumführen oder eine Gruppe tätowierter Motorrad-Männer einem der Behinderten beim Klogehen helfen. So interessant und unterhaltsam das Spiel auch ist, es ist unehrlich gegenüber der Außenwelt, jedoch diese gehört zum dieser sportlichen Herausforderung dazu. Es soll hier jetzt nicht der Fokus darauf gerichtet werden, dass das was die Idioten machen schlecht wäre - denn das wäre dem Dionysos sicher ziemlich egal - es geht darum, dass sich aus einem solchen Ansatz heraus in der Gruppe Spannungen ergeben: Bei der ersten Besprechung die Karen miterlebt, diskutieren die Mitglieder, wer schlecht war und wer was falsch gemacht hat - also wer unglaubwürdig war und deshalb die Glaubwürdigkeit aller aufs Spiel gesetzt hat. Die persönliche Freiheit und Glück versprechenden Idioten-Aktionen werden durch Regeln und verschiedene Ansichten und Bedürfnisse der anderen eingegrenzt.

Das Einsfühlen mit und die Entgrenzung des Einzelnen zu der Natur, zu den Mitmenschen (also der Verlust von Individualität) und von seinem eigenen Bewusstsein zu seinem Unterbewusstsein - das sind die Merkmale des dionysischen Rausches.6 Das Ich, welches sich ängstlich an seine Identität klammert, sieht diesen Rausch als Bedrohung. In den „Idioten“ wird versucht diesen Prinzipien nachzugehen - was nicht funktioniert (bis auf das Angsteinflößen den Identitäts-gebundenen Ichs gegenüber, welche z.B. die Interessenten für das Haus darstellen). Das bewusste Denken, welches vom wahren Rauschzustand abhält, kann nicht abgestellt werden. Der Zusammenhalt der Gruppe wird auch durch den viel zu viel wollenden und zu sehr kämpfenden Anführer Stoffer krampfhaft. Somit trennen sich die Individuen voneinander, anstatt dass sie ineinander verfließen. An einer Stelle beispielsweise lässt er als Betreuer Jeppe in der Obhut von einigen tätowierten, Furcht einflößenden Muskelprotzen und zwingt ihn somit seine Rolle solange aufrechtzuerhalten, bis er wiederkommt. Stoffer wird immer gemeiner und durch die Probleme die entstehen -interne sowie Spannungen um das Haus - verbitterter. Auch Katrin nutzt das Idioten-Spiel aus, um sich an ihrem Ex-Freund Axel, welcher ebenfalls Teil der Gruppe ist, zu rächen und ihn vor seinen Vorgesetzten zu blamieren. Stoffers herrscherischer Anspruch auf hundertprozentigen Einsatz der einzelnen Mitglieder zerstört schließlich das Zusammenleben und einer nach dem anderen verlässt die Gruppe. Der unechte, erzwungene Rausch kehrt sich gegen sich selbst. Zum harmonischen Zusammenleben fehlt das nötige Einverständnis und somit die Fähigkeit und die Möglichkeit sich in den Rausch fallen zu lassen.

Man kann in dieser Gruppierung der Idioten den Wunsch erkennen, sich von der Außenwelt, von der Gesellschaft und allen ihren Zwängen - also dem Apollinischen - abzutrennen und sie zu provozieren. Aber der dionysische Zustand ist nicht stark und nicht überzeugend genug: Der Alltag holt ihn ein. Somit stößt Stoffer bei seiner Forderung, den Idioten auch vor Menschen zu spielen, die einem etwas bedeuten (Also in Familie und Beruf), auf Angst und Resignation. Axel ist seine Familie wichtiger und auch der Künstler der Gruppe schafft es nicht bei einem seiner Kunst- Vorträge seinen Idioten raus zu lassen. Der eigene Schein nach außen hat für die Gruppen-Mitgliedern - unerwarteter Weise - noch viel zu viel Wichtigkeit, um die vertraute Außenwelt mit ihrem dunklen Unterbewusstsein zu konfrontieren und abzuschrecken. Der Versuch einer dionysischen Erfüllung schlägt, aufgrund der allzu großen Rücksichtslosigkeit und Verachtung gegenüber dem Apollinischen, und aber auch der Unfähigkeit, sich wirklich von diesem zu trennen, fehl. Die „Idioten“ lassen die natürlich Wechselwirkung der zwei Mächte nicht zu, sie wollen einen Zustand erzwingen, ohne sich im Klaren zu sein, wozu und was sie eigentlich wollen.

Nur Karen schafft es, sich der Herausforderung zu stellen und den Idioten vor ihrer Familie zu spielen, zu welcher sie, weil sie vor dem Begräbnis ihres Kindes geflohen ist, in einem großen Spannungsverhältnis steht. Hier ist es zwar tatsächlich das Dionysische, welches den Sieg davonträgt. Jedoch steht es alleine da, inmitten einer apollinischen Welt, und grenzt sich von ihr ab. Das war Stoffers unbewusster Plan: Das Dionysische, welches ja durch die Einheit der Gruppe seinen wahren Charakter erhält, sollte, durch Stoffers eigensinnige Einbildung, von einem Einzelmenschen in der apollinischen Welt präsentiert werden. Die Ausgrenzung von dieser wäre ohne Zweifel die Folge. Karens Problem mit der Gesellschaft (also ihrer Familie) treibt sie zu dieser drastischen Methode - sie „verspottet“ ihre schockierte Familie, spielt ihren Idioten alleine. Aber auch nur so schafft sie es, sich von ihr endgültig zu trennen.

Das apollinische Bild des Films

Die Formalen Bedingungen des „Dogma `95“- Manifestes sind allgemein bekannt: Jegliche Illusion soll aus den Filmen verbannt werden, die Kamera darf nur gehalten oder abgestellt werden, die Beleuchtung, die Kostüme, die Filmkulissen und das Spiel der Schauspieler so authentisch wie nur möglich.

Schon allein die Kameraführung korrespondiert in dem Film „Idioten“ mit dem bemüht dionysischen Inhalt: Als eine art private Handkamera dokumentiert sie und begleitet sie die Idioten-Gruppe bei ihren Aktionen. Die Interview-Momente mit den einzelnen Mitgliedern unterstreichen die aktive Beteiligung der Kamera an dem Leben der „Familie“. Das apollinische Erscheinungsbild des Films nimmt die Gestalt dessen an, was es zeigen soll. Es gibt hier keinen Unterschied zwischen Mythos und Erscheinung.

Interessant ist aber auch die enge Beziehung zwischen der diegetischen Wirklichkeit des Films und der Wirklichkeit der Dogma-Filmemacher. Die Dogma-Filme entstanden meist in Kommunen aus Gruppenerfahrungen heraus. Dieses und das kreative „Keuschheitsgelübde“ der Kollektive erinnert stark an die Situation in den „Idioten“. Lars von Trier verbindet in diesem Film die filmische Wahrheit mit dem echten Leben. Mehr noch: Er stellt die Vorgehensweise seiner Künstlergruppe im Film in Frage. Keine uninteressante Rolle spielt die Tatsache, dass Lars von Trier in seinem Film einige Regeln des Dogma-Manifestes nicht eingehalten hat - was auch von seinen Kollegen laut kritisiert wurde. Auch hinter der Kamera, also, zerstört jemand die für ein funktionierendes Kommunendasein notwendige Harmonie.

Das dionysische, auf Authentizität pochende, aber nicht immer funktionierende Kommunen-Filmschaffen der Dogma-Gruppe, spiegelt sich, so wie der gleichartige „Mythos“, in diesem Produkt „Idioten“, welches als Filmbild den apollinischen Teil vertritt, ziemlich ähnlich wieder.

[...]


1 Ries, Wiebrecht: Nietzsche für Anfänger - die Geburt der Tragö die. München: 1999, S. 83

2 Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Trgö die. München: 2003, S. 70

3 Safranski, Rüdiger: Nietzsche, Biographie seines Denkens. Heidelberg: 2000

4 Idioten, Regie: Lars von Trier, Dänemark: 1998

5 Idioten, Regie: Lars von Trier, Dänemark: 1998

6 Safranski, Rüdiger: Nietzsche, Biographie seines Denkens. Heidelberg: 2000

Fin de l'extrait de 21 pages

Résumé des informations

Titre
Das Problem mit dem Dionysischen und dem Apollinischen
Sous-titre
Das Missverhältnis zwischen den zwei polaren Mächten in „Idioten“, „Models“ und „Der siebte Kontinent“
Université
University of Vienna
Note
1
Auteur
Année
2007
Pages
21
N° de catalogue
V144663
ISBN (ebook)
9783640556700
ISBN (Livre)
9783640556748
Taille d'un fichier
632 KB
Langue
allemand
Mots clés
Das Dionysische und das Appollinische in den Filmen von Ulrich Seidl, Michael Haneke und Lars von trier
Citation du texte
Kaja Dymnicki (Auteur), 2007, Das Problem mit dem Dionysischen und dem Apollinischen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/144663

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