Ganztagsschulen - die Wundermittel zur Heilung der deutschen Bildungsmisere?


Hausarbeit (Hauptseminar), 2006

79 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Ergebnisse der großen Leistungsvergleichsstudien - Impulse zur Verbesserung des Schulwesens durch Ganztagsschulen?
2.1 TIMSS - Dritte Internationale Mathematik- und Naturwissenschaftsstudie
2.2 PISA - Programme for International Student Assessment
2.3 IGLU - Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung
2.4 Vergleichstudienergebnisse im Kontext der Schulentwicklung

3. Aktuelle Definitionen des Begriffs „Ganztagsschule“
3.1 Definition Ganztagsschule durch den Ganztagsschulverband
3.2 Definition Ganztagsschule durch den Schulausschuss der KMK

4. Anforderungen, Erwartungen und Hoffnungen an Ganztagsschulen im Visier
4.1 Ganztagsschulen helfen, Familie und Beruf miteinander besser zu vereinbaren
4.2 Ganztagsschulen machen Schulen durch eine veränderte Schulorganisation lebensnäher, effizienter und gerechter
4.3 Ganztagsschulen gewährleisten durch eine neue Dimension von Unterricht erfolgreiches Lehren und Lernen

5. Aktuelle Situation der Ganztagsschulen
5.1 Stand und Umsetzung des IZBBs
5.2 Bevölkerungsakzeptanz, -nachfrage und -einschätzungen von Ganztagsschulen
5.2.1 Elternumfragen
5.2.2 Lehrerumfragen

6. StEG - Studie zur Entwicklung von Ganztagsschule
6.1 Fragestellungen und Ziele
6.2 Projektdesign und Erhebungswellen
6.3 Rückmeldung der Ergebnisse

7. Fazit

8. Quellenangaben

9. Anhang

1. Einleitung

„Die Welt erklärt man nicht an einem halben Tag. Ganztagsschulen. Zeit für mehr.“ heißt es in der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung herausgegebenen Broschüre. Eine Broschüre, die das Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB) der Bundesregierung als einen Beitrag für eine nachhaltige und notwendige Bildungsreform in Deutschland ausführlich beschreibt und die den Leser eindrucksvoll, lebens- und realitätsnah Möglichkeiten, Ziele und Chancen eines ganztägigen Schulsystems aufzeigt.

Ganztagsschulen sind ins Zentrum der bildungspolitischen Debatten in der Bundesrepublik Deutschland gerückt. Insbesondere die erschreckenden Ergebnisse der großen Leistungsver- gleichsstudien (PISA, TIMSS und IGLU) haben gezeigt, dass das bundesdeutsche Schulsys- tem krankt: Das Leistungsniveau der deutschen Schülerinnen und Schüler liegt deutlich unter dem Durchschnitt der Industrieländer. Weiterhin ist unser Bildungssystem hochgradig sozial ungerecht: in keinem anderen vergleichbaren Land entscheidet die soziale Herkunft so sehr über den Bildungserfolg von Kindern wie in Deutschland. Auch bei der Integration und För- derung von Kindern nichtdeutscher Herkunft liegt die Bundesrepublik auf den letzten Plät- zen.1 Ein Bildungsnotstand in Deutschland, der auf Entwicklungsprobleme des Schulsystems, der Schulen und des Unterrichts hinweist, wurde offensichtlich. Um die Qualität von Bildung, die Rahmenbedingungen an Schulen und damit die Zukunft der Kinder nachhaltig zu verbes- sern hat die Bundesregierung im Rahmen des Programms „Zukunft, Bildung und Betreuung“ seit Mai 2003 mit dem flächendeckenden Ausbau von Ganztagsschulen in Deutschland be- gonnen.2 Das fast ausschließlich auf Halbtagsschulen bauende deutsche Schulsystem soll re- formiert werden, die im internationalen Vergleich bestehende Sonderrolle aufgehoben wer- den. Denn in anderen Ländern wie Frankreich, Großbritannien, Skandinavien und den USA sind Ganztagsschulen so selbstverständlich, dass es dafür keinen eigenen Begriff gibt. Nun scheint diese Schulform, die in Deutschland seit dem Gesamtschulvorstoß in den 70-er Jahren weitgehend in Vergessenheit geraten war, die Universallösung zu sein. Ganztagsschulen als Antwort auf die Pisa-Studie, als Zeitträger für mehr Qualität und Effektivität im Unterricht, als Ort der individuellen Förderung, kreativen Freizeitgestaltung und familienfreundlichen Betreuung - kurz: als neuer Lebens- und Lernort für Schülerinnen und Schüler durch ein ver- besserte Lernkultur - sind die Hoffnungsträger der Gegenwart und Zukunft. Große Erwartun- gen und Ansprüche, die an die zukunftsweisende Schulform gestellt werden und gleicherma- ßen spannend, ob bzw. inwieweit es diese nach knapp drei Jahren intensivster Förderung und Weiterentwicklung geschafft hat, dem Ziel eines besseren und gerechteren Schulsystems nä- her zu kommen. Sind Ganztagsschulen die „Treibhäuser der Zukunft“3 und effektive Motoren der Bildungsreform, die das deutsche Bildungssystem wieder an die Weltspitze bringen?

Die vorliegende Arbeit soll versuchen, der Fragestellung anhand empirischer Befunde zum Thema Ganztagsschulen nachzugehen und die Wirkung sowie gegenwärtige Entwicklung ganztägiger Schulorganisation aufzuzeigen. Dazu soll im ersten Teil der Hausarbeit (Kapitel 2) die Notwendigkeit einer umfassenden Bildungsreform anhand der Ergebnisse der großen Leistungsvergleichsstudien dargestellt werden, wobei der Fokus auf der Pisa-Studie liegt. Nach aktuellen Definitionen des Begriffs Ganztagsschule (Kapitel 3) werden im dritten Teil Anforderungen, Erwartungen und Hoffnungen an Ganztagsschulen (Kapitel 4) dargestellt und unter Berücksichtigung gegenwärtig zur Verfügung stehender wissenschaftlicher Belege kri- tisch bewertet. Ferner wird ein Einblick in die aktuelle Situation der Ganztagsschulen in Form der Darstellung statistischer Zahlen, Daten und Fakten gegeben (Kapitel 5). Im letzten Teil (Kapitel 6) geht es um die Vorstellung der StEG-Studie, einer laufenden Studie zur Entwick- lung von Ganztagsschulen, die in naher Zukunft aussagekräftige, umfassende Ergebnisse zur Wirkungsweise ganztägiger Schulorganisation zu bringen vermag und als empfehlenswerte weiterführende Informationsquelle dieser Arbeit anzusehen ist.

2. Ergebnisse der großen Leistungsvergleichsstudien - Impulse zur Verbesserung des Schulwesens durch Ganztagsschulen?

Schulische Leistungsvergleichsstudien sollen der Qualitätsentwicklung und -verbesserung von Schulen dienen und anhand eines sogenannten output-Kriteriums, der Leistungsmessung, auf- zeigen wie ernst die verschiedenen Staaten ihren Bildungsauftrag gegenüber der nächsten Generation nehmen.4 Inwieweit Leistungsvergleichsstudien dazu in der Lage sind, wird kon- trovers diskutiert. Während internationale Vergleichsstudien (wie TIMSS, PISA und IGLU) gegenwärtig die bildungspolitische Debatte dominieren und als Gradmesser für die aktuelle Leistungsfähigkeit des deutschen Bildungssystems gelten, geben Kritiker mögliche externe und interne Mängel von Leistungsvergleichsstudien zu bedenken. Klemm (2000) weist bei- spielsweise auf die Gefahr einer „curricularen Globalisierung“ hin. Dieser zufolge definierten die Testaufgaben sozusagen ein internationales Curriculum, das nicht in jedem Fall auf curri- culare Validität überprüft sei.5 Ebenso werden weitere interne Mängel der Leistungsver- gleichsstudien in der Repräsentativität von Stichproben bis hin zur Interpretation von Leis- tungsunterschieden gesehen. Als externes Manquo sei auf die mögliche Engführung bei den Lernzeilen hingewiesen, da sich der Blick in vielen Studien fast ausschließlich auf fachliche Leistungen konzentriert.6 Der Bildungsauftrag von Schule ist jedoch weit umfassender (vgl. Anhang Abb.1), Fachleistungen können folglich weder eine individuelle Prognose für Le- bensbewältigung noch für den wirtschaftlichen Erfolg sein. Wenn es also im Folgenden um die zusammenfassende Darstellung der Ergebnisse der drei großen Leistungsvergleichsstudien (TIMSS, PISA und IGLU) geht, die aufgrund des miserablen Abschneidens deutscher Schüle- rinnen und Schüler eine dringend notwendige Bildungsreform deutlich machen, ist gleicher- maßen zu bedenken, dass keine Studie „perfekt“ ist und neben insgesamt solider, sorgfältiger und aufwendiger Vorbereitung, Durchführung und Auswertung kleinere methodische Schwä- chen vorhanden sein könnten. Insgesamt geht es dennoch um wichtige ernstzunehmende und aussagekräftige Ergebnisse, die Defizite in bestimmten Bereichen des Bildungssystems, der Schul- und Unterrichtsqualität aufzeigen und aus denen - insbesondere durch den internatio- nalen Vergleich - wesentliche Ansatzpunkte für ein besseres Schulsystem hervorgehen.7

2.1 TIMSS - Dritte Internationale Mathematik- und Naturwissenschaftsstudie

Die TIMSS (Third International Mathematics and Science Study) ist eine von der Internatio- nal Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA) durchgeführte interna- tional vergleichende Schulleistungsuntersuchung, mit dessen Hilfe in den letzten 15 Jahren aus 41 Ländern (vgl. Anhang: Abb. 2) verlässliche Daten zu den Mathematik- und Naturwis- senschaftsleistungen von Schlüsseljahrgängen aus der Grundschule, Sekundarstufe I und Se- kundarstufe II gewonnen wurden. Deutschland hat sich an den Untersuchungen der Sekundar- stufe I und Sekundarstufe II beteiligt.8 Mitte des Jahres 1997 brachte die Veröffentlichung der TIMSS große Aufruhe in der deutschen Bildungspolitik, da die Ergebnisse der deutschen Schülerinnen und Schüler im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich im internationa- len Vergleich unterdurchschnittliche Leistungen ergaben. Obwohl es weder gravierende inter- nationale Unterschiede bei den Lehrplänen und Curricula, noch bei den Stundentafeln in den entsprechenden Fächern gab, wiesen die Mehrzahl der nord-, ost- und westeuropäischen Län- der sowie die meisten asiatischen Staaten deutliche Leistungsvorsprünge auf.9 Vom Ende der 8. Klasse bis zum Ende der Sekundarstufe II vergrößerte sich der Abstand sogar zu den leis- tungsstärkeren Ländern (Italien, Tschechien, Schweden, USA). Bei ca. 20% der deutschen Schülerinnen und Schüler des 8. Jahrgangs waren die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fähigkeiten nur noch mit erweitertem Grundschulniveau vergleichbar. Allgemein auffällig wurden insbesondere Schwächen bei Aufgaben, die das selbstständige Anwenden von Gelern- tem, die Übertragung in neue Kontexte oder ein flexibles Umstrukturieren von Problemkons- tellationen erfordern. Probleme und Defizite, die vielleicht auf lernineffiziente Unterrichtsme- thoden und auf zu wenig Experimentiermöglichkeiten und mangelnden Praxisbezug in den Klassenräumen der deutschen Schülerinnen und Schüler zurückzuführen sind?

Bereits eine alte Weisheit Pestalozzis besagt, dass Schülerinnen und Schüler bzw. allgemein Menschen nur durch die Verbindung von „Kopf-, Herz und Handarbeit“ effektiv und langfris- tig lernen. Die Verzahnung von theoretischen und praktischen Lerninhalten und die Ausbil- dung von Transferleistungen, von Fähigkeiten des selbstständigen Erarbeitens, Durchführens und Lösens bestimmter Aufgaben, erfordert ein großes Repertoire an Lösungsstrategien. Stra- tegien, die nicht von heute auf morgen im 45-Minuten Takt, unter verbaler Anleitung des Lehrers mit maximalem Anschauungsmedium der Tafel ausgebildet werden können - so die überspitzte Darstellung des Lehrens und Lernens an deutschen Oberschulen. Schülerinnen und Schüler brauchen Zeit, um Sachverhalte durch Erforschen, Experimentieren und Erkun- den nachvollziehen und verstehen zu lernen. Sie benötigen Zeit zur Entwicklung von Lö- sungsstrategien durch ganzheitlichen, anschaulichen und schüleraktiven Unterricht. Zeit und Unterricht, die herkömmliche deutsche Halbtagsschulen - zumindest den Ergebnis- sen der TIMSS zufolge - nicht haben. Ein benötigtes Mehr an Zeit, das an Ganztagsschulen Schülerinnen und Schülern zur Verfügung stünde und eine neue Dimension von Unterricht bringen könnte. - Weiterhin unterschieden sich die deutschen Schülerinnen und Schüler erwartungsgemäß je nach Schulform (Haupt-, Realschule oder Gymnasium) in ihren Fachleistungen erheblich. Innerhalb der einzelnen Schulformen ließ sich wiederum eine erhebliche Überlappung der Fähigkeitsverteilungen feststellen.10 An dieser Stelle sei nebenbei erwähnt, dass diese Ergebnisse das in Deutschland bestehende dreigliedrige Schulsystem erneut in Frage stellen und eindrucksvoll belegen, dass ein einheitlich-integriertes System - ein Schulsystem ohne frühe Selektion - zu hervorragenden Leistungsergebnissen führen kann.

Festzuhalten gilt, dass die TIMSS wesentliche Leistungs- und Motivationsschwachpunkte im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich deutscher Schülerinnen und Schüler aufdeck- te, die die Effektivität des deutschen Bildungssystems in Frage stellten und großen Hand- lungs- und Reformbedarf im mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht aufzeigten. TIMSS kann rückblickend als „Startpunkt für die Qualitätssicherung und Qualitätsentwick- lung im Bildungswesen“ gesehen werden.11 Als Reaktion auf TIMSS wurde neben vielen ex- emplarischen Ideen für einen aktivierenden, verständnisorientierten Unterricht das BLK- Programm realisiert, ein Reformkonzept zur „Steigerung der Effizienz des mathematisch- naturwissenschaftlichen Unterrichts“, das von der Bund-Länder-Kommission für Bildungs- planung und Forschungsförderung (BLK) in Auftrag gegeben wurde.12 Weiterhin wurde von den Kultusministern im Sommer 1997 der sogenannte „Konstanzer Beschluss“ gefasst, in dem vereinbart wurde, dass die Länder regelmäßige Vergleichsuntersuchungen zum Leis- tungsstand der Schulen durchführen werden.13

2.2 PISA - Programme for International Student Assessment

Durch TIMSS zum großen Teil ausgelöst und als weitere Maßnahme, das deutsche Schulsys- tem im Rahmen wissenschaftlicher Untersuchungen international vergleichen zu lassen, um gesicherte Befunde über Stärken und Schwächen der Schülerinnen und Schüler in den zentra- len Kompetenzbereichen (Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften) zu erhalten, nahm Deutschland als eines von 32 Teilnehmerstaaten - davon 28 Mitgliedstaaten der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) (vgl. Anhang: Abb.3 ) - an der PISA-Studie teil.14 Pisa ist die Abkürzung für „Programme for International Student Assess- ment“ und eine international standarisierte Leistungsmessung, die 15-jährige Jugendliche auf Kompetenzen untersucht, die für das lebenslange Lernen in Schule, Beruf und Alltag wichtig sind. PISA liefert somit Informationen über die Ergebnisse des Lehrens und Lernens in unter- schiedlichen Bildungssystemen und deren Qualität. Die Erhebungen werden in einem Abstand von drei Jahren durchgeführt. Dabei liegt der Schwerpunkt jeweils auf einem Kompetenzbe- reich (vgl. Anhang: Abb. 4).15 Die erste PISA-Erhebung fand im Jahr 2000 statt, die zweite im Jahr 2003 und die dritte findet in diesen Jahr 2006 statt. PISA erfasst folgende drei Kompe- tenzbereiche:

1. Lesekompetenz (Reading Literacy)

Lesekompetenz meint mehr als Informationen aus Texten entnehmen zu können. Es wird vor allem die Fähigkeit untersucht, geschriebene Texte unterschiedlichster Art in ihren Aussagen, ihren Absichten und ihrer Form zu verstehen und in einem größeren Zusammenhang einord- nen zu können. Bei PISA werden fünf Kompetenzstufen verschiedenen Schwierigkeitsgrades unterschieden.16

Die Testleitungen der deutschen Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich sind unterdurchschnittlich (vgl. Anhang: Abb. 5). Auf der Gesamtskala im Lesen liegt der Mittel- wert der 15-jährigen in Deutschland bei 484 Punkten und damit 16 Punkte unter dem OECD- Mittelwert. Lediglich Luxemburg und Liechtenstein als zwei weitere mitteleuropäische Län- der weisen neben Deutschland Mittelwerte unter dem OECD-Durchschnitt auf. Auch die Er- gebnisse von PISA 2003 zeigen keine signifikanten Unterschiede im Bereich der Lesekompe- tenz.17 Auffällig und besorgniserregend ist die starke Streuung der Schülerleistungen in Deutschland. Der Leistungsabstand zwischen den leistungsschwächsten und leistungsstärks- ten Schülerinnen und Schülern ist in Deutschland im Vergleich zu den anderen Ländern am größten. Ferner geben 42% der Jugendlichen an, nicht zum Vergnügen zu lesen. Sie stehen dem Lesen allgemein motivationslos gegenüber und bilden eine Risikogruppe. Übrigens be- finden sich 23% der deutschen Schülerinnen und Schüler auf der Kompetenzstufe I, was dem elementaren Niveau (Grundschulniveau) entspricht. Unter diesen Jugendlichen sind knapp die Hälfte (47%) selbst sowie deren Eltern in Deutschland geboren und sprechen zu Hause deutsch.18 Erschreckend ist ebenfalls, dass sich aus vorherigen Befragungen der Lehrer nach schwachen Lesern ergab, dass nur ein kleiner Teil der Risikogruppe als leseschwach erkannt wurde. Insbesondere an dieser Stelle wird die unzureichende individuelle Förderung ersicht- lich. Im deutschen Schulsystem geht anscheinend ein Großteil der Schülerinnen und Schüler, die einer gezielten Förderung bedürfen, unter. Zumindest findet bei vielen keine gezielte und frühzeitige Identifikation und Förderung statt. Ein Zustand, der Schul- und Unterrichtsqualität in Frage stellt, der nach neuen Schul- und Unterrichtskonzepten verlangt. Mehr Zeit für indi- viduelle Förderung, für das Eingehen auf individuelle Stärken und Schwächen. Mehr Zeit, um die Schülerinnen und Schüler dort abzuholen, wo sie stehen und ihr Interesse für den Lern- stoff zu erwecken. Fraglich bleibt, ob es dafür einer Ganztagsschule bedarf oder durch neue schülergerechtere Unterrichtsformen dies auch an Halbtagsschulen zu verwirklichen wäre.

2. Mathematische Grundbildung (Mathematical Literacy)

Mathematische Kompetenz besteht für PISA nicht nur aus der Kenntnis mathematischer Sätze und Regeln und der Beherrschung mathematischer Verfahren. Sie zeigt sich vielmehr in der Fähigkeit mathematische Begriffe als „Werkzeuge“ in einer Vielfalt von Kontexten einzuset- zen. Entsprechend der Lesekompetenz werden auch bei der mathematischen Grundbildung fünf Kompetenzstufen unterschiedlichem Schwierigkeitsniveaus definiert. Betrachtet man die Mathematikleistungen im internationalen Vergleich (s. Anhang: Abb. 6), so liegt Deutschland mit den osteuropäischen Ländern und Spanien im schlechteren Mittel- feld, aber deutlich unter dem OECD-Mittelwert. Demgegenüber gehören die vier angloameri- kanischen Staaten (Vereintes Königreich, Kanada, Australien und Neuseeland) sowie Finn- land und die Schweiz zur Spitzengruppe der Teilnehmerstaaten. PISA 2003 (Schwerpunkt Mathematik) liefert etwas bessere Werte, im Mittelfeld des OECD-Durchschnitts.19 Trotzdem liegen rund 20% aller deutschen 15- jährigen Schülerinnen und Schüler unter oder auf der ersten Kompetenzstufe (Grundschulniveau). Auch im Mathematikbereich wurde eine sehr große Leistungsstreuung offensichtlich.

3. Naturwissenschaftliche Grundbildung (Scientific Literacy)

Naturwissenschaftliche Grundbildung (Physik, Chemie und Biologie) ist die Fähigkeit, na- turwissenschaftliches Wissen anzuwenden, naturwissenschaftliche Fragen zu erkennen und Schlussfolgerungen zu ziehen.20 Die Einteilung erfolgte in fünf Kompetenzstufen. Die deutschen Schülerinnen und Schüler schneiden um 13 Punkte schlechter ab als der inter- nationale Durchschnitt, der bei 500 lag (vgl. Anhang: Abb. 7). Damit liegen die Naturwissen- schaftsleistungen deutscher Schülerinnen und Schüler unterhalb des Durchschnitts der OECD- Staaten. Die internationale Spitze (Korea, Japan) und Finnland haben einen erheblichen Vor- sprung mit bis zu 60 Punkten.21

Insgesamt bestätigen die nur mäßigen Ergebnissen der mathematischen und naturwissen- schaftlichen Grundbildung die Aussagen der TIMSS und weisen darauf hin, dass der Unter- richt in Deutschland noch zu wenig problem- und anwendungsorientiert angelegt ist. - Ferner wird in der PISA-Studie der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Kompe- tenzerwerb international verglichen. Dabei kam die alarmierende Tatsache heraus, dass in keinem anderen Land, das an PISA teilgenommen hat, die Unterschiede im Leistungsniveau so stark mit der sozialen Herkunft und dem Migrationsstatus gekoppelt sind wie in Deutsch- land.22 So stammen beispielsweise Jugendliche mit geringer Lesekompetenz (Kompetenzstufe I oder darunter) vor allem aus unteren sozialen Schichten (vgl. Anhang: Abb. 8). Die Chancen eines Arbeiterkindes anstelle der Realschule das Gymnasium zu besuchen sind viermal gerin- ger als die eines Kindes aus der Oberschicht!23 Demgegenüber schaffen es Länder wie Finn- land, Island, Korea und Japan - bei etwa gleich großer sozialer Heterogenität der Elternhäuser

- die Auswirkungen der sozialen Herkunft zu begrenzen und gleichzeitig ein hohes Kompetenzniveau zu erreichen. Deshalb könnte der Ganztagsbetrieb an Schulen besonders sozial schwachen und benachteiligten Kindern, die im häuslichen Umfeld wenig oder gar keine Förderung erfahren weitaus größere Bildungschancen ermöglichen und dadurch zu einem gerechteren Bildungssystem führen.

2.3 IGLU - Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung

Im Jahr 2001 beteiligte sich die Bundesrepublik Deutschland an der internationalen PIRLSStudie (Progress in International Reading Literacy Study), die in Deutschland unter der Bezeichnung „Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung“ (IGLU) durchgeführt wurde. Auch am geplanten zweiten Zyklus in diesem Jahr (2006) wird Deutschland wieder teilnehmen. Die IGLU-Studie testet international vergleichend das Leseverständnis von Schülerinnen und Schülern der vierten Jahrgangsstufe. Das Besondere an dieser Jahrgangsstufe ist der Übergang vom „lesen lernen“ zum „lesen, um zu lernen“.24

„Kompetent lesen zu können, ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Weiterent- wicklung der eigenen Fähigkeiten, des eigenen Wissens und der Teilhabe am gesellschaftli- chen Leben“.25

Die Ergebnisse zeigen, dass Deutschland mit dem Rang 11 zwar im Mittelfeld der EU-Staaten liegt, jedoch weit unter den Spitzenländern Schweden, Niederlande und England (vgl. An- hang: Abb. 9). 10, 3% der deutschen Viertklässler können nur einfachste Inhalte verstehen, das OECD-Mittel liegt hier allerdings bei 14,1%.26 Trotzdem erreichen etwa ein Drittel der Schülerinnen und Schüler nur die Kompetenzstufe I u. II, so dass hier besondere Förderung notwendig wird, damit sich Schwierigkeiten nicht manifestieren. Nur 18,1% der Viertklässler erlangen die höchste Kompetenzstufe - daran wird deutlich, dass es kaum eine Begabtenförde- rung gibt. Zusätzlich gaben Lehrer an, dass sich Differenzierung und individuelle Förderung auf schwächere Schülerinnen und Schüler beschränke.27 Eine Schlussfolgerung dieser Ergeb- nisse ist, dass Lehrkräfte befähigt werden müssen, besser mit Heterogenität umzugehen, um eine wirksame Förderung der leistungsschwachen und auch der leistungsstarken Schülerinnen und Schüler zu gewährleisten.

Grundsätzlich bestätigte auch IGLU, dass das deutsche Bildungssystem einer umfassenden Reformierung bedarf.

2.4 Vergleichstudienergebnisse im Kontext der Schulentwicklung

Auf das Handlungsfeld Schule bezogen zeichneten sich aus den Erkenntnissen allen drei großen Leistungsvergleichsstudien generell fünf Interventionsmöglichkeiten ab, die es für ein besseres und gerechteres Schulsystem zu beachten gilt:

1. Ein neuer Stellenwert des Lernens,
2. Eine differenzierte Vermittlung von Lerninhalten - neue Formen des Lehrens und Lernens,
3. Ein anderer Umgang mit schwachen Schülerinnen und Schülern,
4. Der Ausbau der Zusammenarbeit im Kollegium,
5. Ein gezielter Umgang mit Ressourcen in gemeinsamer Zusammenarbeit und Koopera- tion von Schulpersonen und außerschulischen Partnern.

Nach den Veröffentlichungen der Ergebnisse der Leistungsvergleichsstudien - insbesondere der PISA-Studie - hat die Debatte um Ganztagsschulen neuen Aufschwung erhalten. Die zeit- liche und konzeptionelle Struktur sowie der Umfang unterrichtlicher und außerunterrichtlicher Zusatzangebote wurden als eine Möglichkeit für eine neue Lehr- und Lernkultur angesehen.28 Ein wesentlicher Grund für diesen Aufschwung liegt in dem Vergleich der europäischen Schulsysteme, die sich in den Studien als Spitzenländer herausgestellt haben, begründet. Auf- fällig wurde dabei, dass in Finnland, Skandinavien und Großbritannien ganztägige oder zu- mindest erweiterte Halbtagsangebote der Schulen eine wichtige Rolle spielen.29 Der Ausbau von Ganztagsangeboten wurde auf der Kultusministerkonferenz 2001 als ein vordringliches Handlungsfeld angesehen.

Am 12. Mai 2003 unterzeichneten Bund und Länder gemeinsam das Investitionsprogramm „Zukunft, Bildung und Betreuung“ (IZBB), dass mit vier Milliarden Euro innerhalb der nächsten fünf Jahre den flächendeckenden Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen gewähr- leisten soll. So leitet eines der größten Bildungsprogramme, die es in Deutschland gab, den „Kurswechsel“ in der Schulpolitik ein. Das von der Bundesregierung unterstützte Ganztags- schulprogramm zielt entsprechend der Vereinbarung auf den Ausbau und die Weiterentwick- lung von neuen Ganztagschulen, auf die "Schaffung zusätzlicher Plätze" an bestehenden Ganztagsschulen oder auf die "Qualitative Weiterentwicklung" von Ganztagsangeboten.30

3. Aktuelle Definitionen des Begriffs „Ganztagsschule“

In der Vergangenheit herrschte sehr viel Verwirrung um den Begriff der Ganztagsschule auf- grund unterschiedlichster Modelle ganztägiger schulischer Betreuungsformen und verschie- denster Bezeichnungen für diese.31 Die Übergänge oder auch Abgrenzungen, was unter einer Ganztagsschule zu verstehen ist, waren fließend und ließen sich nur schwer in ein „enges be- griffliches Korsett32 “ zwängen. Am ehesten Anlehnung fand die Definition des UNESCO- Instituts von 1961, bei der Ganztagsschule als Oberbegriff für alle Formen ganztägiger schuli- scher Betreuung zu verstehen ist, die je nach Ausmaß der schulgebundenen Zeit der Schüle- rinnen und Schüler in offene Schulen (lediglich eine Erweiterung der halbtägigen Schulzeit in Form von fakultativen Betreuungsangeboten), Ganztagsschulen im engeren Sinne (Rhythmi- sierung der Unterrichtszeit im Wechsel mit nicht unterrichtsbezogenen Tätigkeiten) und Ta- gesheimschulen (Ergänzung des obligatorischen Angebots einer Ganztagsschule im engeren Sinne um eine Betreuung vor und nach der Schulzeit und um eine geregelte Mittagsmahlzeit) kategorisiert wurden.

Im Zuge der aktuellen Debatte um Ganztagsschulen sind gegenwärtig zwei Definitionen von Ganztagsschule präsent, die Definition der Ganztagsschule durch den Ganztagsschulverband und die Definition des Schulausschusses der Kultusministerkonferenz (KMK). Beide sollen im Folgenden vorgestellt werden.

3.1 Definition Ganztagsschule durch den Ganztagsschulverband

Laut Ganztagsschulverband gewährleistet eine Ganztagsschule

- allen Schülerinnen und Schülern ein durchgehend strukturiertes Angebot in der Schule an mindestens vier Wochentagen und mindestens sieben Zeitstunden,
- den konzeptionellen Zusammenhang der Aktivitäten der Schülerinnen und Schüler am Vor- und Nachmittag,
- die konzeptionelle Einbindung erweiterter Lernangebote, individueller Fördermaßnahmen und Hausaufgaben/ Schulaufgaben,
- die im Schulkonzept als pädagogische Aufgabe eingebundene gemeinsame und individuelle Freizeitgestaltung der Schülerinnen und Schüler,
- die Aufgreifung altersgerechter Interessen und Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler bei ihren Angeboten,
- alternative Unterrichtsformen wie zum Beispiel Projektarbeit,
- die Begünstigung sozialen Lernens,
an allen Schultagen ein warmes Mittagessen,
- eine ausreichende Ausstattung mit zusätzlichem pädagogischen Personal, mit einem er- weiterten Raumangebot und mit zusätzlichen Lehr- und Lernmitteln,
- die Organisation aller Angebote unter der Aufsicht und Verantwortung der Schule.33 Darüber hinaus unterscheidet der Ganztagsschulverband zwischen zwei Formen von Ganztagsschulen, die offenen und die gebundenen Ganztagsschulen.

1. Offene Ganztagsschulen weisen folgende Merkmale auf:

Der verbindliche Unterricht liegt vorwiegend am Vormittag, allerdings in modifizierter Form, da sich die Hausaufgabenpraxis ändert.

- Nach der Unterrichtszeit wird eine fakultative Mittagsversorgung angeboten.
- Es besteht die Möglichkeit einer Hausaufgabenbetreuung unter professioneller Aufsicht auf freiwilliger Basis.
- Es bestehen sowohl gebundene, verpflichtende (festgelegte Arbeitsgemeinschaften) als auch ungebundene Freizeitangebote (Schülerdisco, Leseraum, Spielecke etc.).
- Am Nachmittag werden Förderangebote fakultativ angeboten.
- Arbeitsgemeinschaften finden nachmittags unter Berücksichtigung des erweiterten Bildungsauftrages statt.
- Angebote im Sinne von „Öffnung der Schule“, Projektunterricht, Exkursionsvorhaben erfolgen am Nachmittag.
- Am Nachmittag wird ein an dem Profil der Schule angelehntes breites Angebot an Neigungs- und Hobbykursen angeboten, das nach Möglichkeit unter Einbeziehung von Eltern und Experten stattfindet.34

2. Gebundene Ganztagsschulen weisen folgende Merkmale auf:

- Der verpflichtende Unterricht wird unter Aufgabe des herkömmlichen 45-Minuten-Taktes, der Orientierung am biologischen Rhythmus und durch Ermöglichung von fächerübergreifendem Unterricht auf Vor- und Nachmittag verteilt.
- Es findet eine obligatorische Mittagsversorgung statt, da alle Schülerinnen und Schüler am Nachmittag Unterricht oder andere Präsenzzeiten haben.
- Hausaufgaben werden konzeptionell eingebunden.
- Gebundene und ungebundene Freizeit wird auf den Vor- und Nachmittag verteilt und kann zuweilen auch jahrgangs- oder klassenintegriert stattfinden.
- Fördermaßnahmen werden entweder zu verschiedenen Zeitpunkten im Tagesablauf oder in klassen- oder jahrgangsbezogenen Differenzierungsstunden realisiert. Projektunterricht findet sowohl am Vormittag als auch am Nachmittag stärkere Berück- sichtigung.
- Es werden obligatorische und teilobligatorische Neigungsgruppen/ Arbeitsgemeinschaf- ten/ Hobbygruppen vorwiegend nachmittags unter Einbeziehung außerschulischer Partner angeboten.
- Neu entwickelte und modifizierte Unterrichtsfächer (Umweltkunde, Klassenforum, Museumsunterricht) sowie Anteile reformpädagogischer Unterrichtssequenzen (Freiarbeit etc.) werden am Vor- und Nachmittag eingebunden.35

Diese Definition von Ganztagsschule durch den Ganztagsschulverband zielt auf die Verbindung des erweiterten Zeitrahmens einer Ganztagsschule mit pädagogischen Inhalten, reformpädagogischen Gedanken und konzeptionellen Erfahrungswerten.

3.2 Definition Ganztagsschule durch den Schulausschuss der KMK

Die eher formale Definition des Schulausschusses der Kultusministerkonferenz (KMK) vom 27. März 2003 verfolgt statistische Zwecke wie etwa die Erfassung von Ganztagsschulen und orientiert sich aus diesem Grund weniger an pädagogischen Empfehlungen als vielmehr an organisatorischen Merkmalen. Im Rahmen der Untersuchung empirisch fundierter Aussagen über Ganztagsschulen wird sich an dieser Definition von Ganztagsschule orientiert:

„Unter Ganztagsschulen werden Schulen verstanden, bei denen im Primar- oder Sekundarbe- reich I

- über den vormittäglichen Unterricht hinaus an mindestens drei Tagen in der Woche ein ganztägiges Angebot für die Schülerinnen und Schüler bereitgestellt wird, das täglich mindestens sieben Zeitstunden umfasst,
- an allen Tagen des Ganztagsbetriebes den teilnehmenden Schülerinnen und Schülern ein Mittagessen bereitgestellt wird,
- die nachmittäglichen Angebote unter der Aufsicht und Verantwortung der Schulleitung organisiert und in enger Kooperation mit der Schulleitung durchgeführt werden und in einem konzeptionellen Zusammenhang mit dem Vormittagsunterricht stehen.“36

Es werden drei Formen unterschieden:

- In der voll gebundenen Form sind die Schülerinnen und Schüler verpflichtet, an mindestens drei Wochentagen für jeweils mindestens sieben Zeitstunden an den ganztägigen Angeboten der Schule teilzunehmen.
- In der teilweise gebundenen Form verpflichtet sich ein Teil der Schülerinnen und Schüler an mindestens drei Wochentagen für jeweils mindestens sieben Zeitstunden an den ganztägigen Angeboten der Schule teilzunehmen.
- In der offenen Form ist ein Aufenthalt verbunden mit einem Bildungs- und Betreuungsangebot in der Schule an mindestens drei Wochentagen von täglich mindestens sieben Zeitstunden für die Schülerinnen und Schüler möglich. Die Teilnahme an den ganztägigen Angeboten ist jeweils durch die Schülerinnen und Schüler oder deren Erziehungsberechtigte für mindestens ein Schulhalbjahr verbindlich zu erklären."37

4. Anforderungen, Erwartungen und Hoffnungen an Ganztagsschulen im Visier

Als Antwort auf den Pisa-Schock und die daraus hervorgehende Misere des deutschen Bil- dungswesens reagierte Deutschland mit dem Investitionsprogramm „Zukunft, Bildung und Betreuung“ (IZBB). Der Weg zu mehr Schulqualität sollte bzw. soll mit dem flächendecken- den Ausbau von Ganztagsschulen gewährleistet werden. Schließlich haben die PISA-Sieger wie Kanada, Norwegen, Schweden und insbesondere Finnland schon lange eine ganztägige Schulorganisation.38 So könnte vorschnell der Eindruck entstehen, die Ergebnisse der PISA- Studie wären per se Begründung und Beweis zugleich für die Notwendigkeit und den Erfolg von Ganztagsschulen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass bei PISA keine schulischen Ganztagsangebote untersucht wurden. Dementsprechend lassen sich keine fundierten Aussa- gen zum Erfolg oder zur Wirkung von Ganztagsschulen ableiten.39 Ferner werden Ganztags- schulen innerhalb der einzelnen Länder ganz unterschiedlich organisiert - es handelt sich je- weils um einen großen Komplex eines eigenen autonomen Schulsystems, in dem Schulalltag so selbstverständlich ganztägig stattfindet, dass es keinen eigenen Begriff dafür gibt. Ein ein- faches „Kopieren“ anderer Schulsysteme ist wohl kaum möglich und sinnvoll. Ein Blick „ü- ber den Tellerrand“ kann jedoch immer als nützlich und notwendig erachtet werden, um eige- ne Schwachstellen in Bezug auf das Bildungssystem aufzudecken und mögliche Lösungswe- ge/ -ansätze und Chancen aufzuzeigen.

Dennoch oder gerade deswegen - Deutschlands Hoffnungen auf ein besseres und gerechteres Schulsystem liegen und lasten zugleich auf den Ganztagsschulen.

Ganztagsschulen bieten durch ihr Mehr an Zeit bessere Voraussetzungen für die Lösung der in PISA aufgezeigten zentralen Probleme unseres Schulsystems. Sie helfen den Eltern dabei, Familie und Beruf zu vereinbaren und ermöglichen eine individuelle Förderung, die auf die unterschiedlichen Stärken, Interessen und Voraussetzungen der einzelnen Kinder eingeht. Darüber hinaus leisten Ganztagsschulen die bessere Verzahnung von Unterricht und außer- schulischen Bildungs- und Freizeitangeboten. Schließlich nähert sich Deutschland mit dem Ausbau von Ganztagsschulen den europäischen und internationalen Maßstäben schulischer Förderung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen. Das alles sind Hoffnungen, Erwar- tungen und Anforderung an Ganztagsschulen.

Ganztagsschulen als Wundermittel im Visier: Realität oder Utopie?

Dieses Kapitel soll versuchen die Hoffnungen, Erwartungen und Anforderungen an eine ganztägige Schulorganisation anhand von drei zentralen Thesen vertiefend darzustellen und unter Berücksichtigung gegenwärtig zur Verfügung stehender empirischer Belege kritisch zu bewerten. Da zurzeit kaum empirische Studien zur Wirkungsweise von Ganztagsschulen vorliegen40, werden im Rahmen meiner Ausführungen auch allgemeine wissenschaftliche Belege (Neurobiologie, Erziehungswissenschaft etc.) und Meinungsumfragen im Kontext der Bewertungen von Ganztagsbeschulung herangezogen.

4.1 Ganztagsschulen helfen, Familie und Beruf miteinander besser zu vereinbaren.

Im Rahmen der Diskussion der letzten Jahre zum Ausbau ganztägiger schulischer Betreuungsformen standen auch immer wieder sozial- und arbeitsmarktpolitische Begründungen im Mittelpunkt41. Diese konnten sich zwar als alleiniges Argument für Ganztagsbeschulung nicht durchsetzen, gewannen jedoch nach den Ergebnissen der PISA-Studie wieder zunehmend an Aufmerksamkeit und Bedeutung. Der zentrale Ausgangspunkt für eine sozialpolitische Argumentation ist der tiefgreifende Wandel der Institution Familie:42

1. Das Modell der Kernfamilie

Das Modell der Kernfamilie bestehend aus einem erwerbstätigem Vater, einer Mutter als Hausfrau und zwei oder mehreren Kindern im schulpflichtigen Alter ist heutzutage nicht mehr vorherrschend und wird von zunehmend flexibleren Familienformen abgelöst. Laut Mikrozensus 2002 sind ca. 23% der Familien mit Kindern Ein-Eltern-Familien.43 Besonders diese Familien sind zur Sicherung des Lebensunterhaltes auf eine Erwerbstätigkeit und eine geregelte Unterbringung der Kinder während der Arbeitszeit angewiesen.

[...]


1 vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.): Zukunft Bildung. http://www.bmbf.de/de/1076.php; Stand: 03. Februar 2006.

2 vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.): Zukunft Bildung und Betreuung. Startkonferenz zum Investitionsprogramm. Berlin 2003.

3 zit. n. Reinhard Kahl: Treibhäuser der Zukunft. Wie in Deutschland Schulen gelingen.

4 vgl. Klaus-Jürgen Tillmann: Leistungsvergleiche - eine Chance zur Qualitätsverbesserung von Schulen? Vortrag bei der "Gesellschaft zur Förderung Pädagogischer Forschung“. Frankfurt am Main 2001.

5 vgl. Klemm, Klaus: Als Dauerveranstaltung nicht geeignet. Prof. Klaus Klemm über Chancen und Risiken von Vergleichsstudien. 2000.

6 vgl. ebd.

7 vgl. Buhlmann, Edelgard In: Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.): Vertiefender Vergleich der Schulsysteme ausgewählter PISA-Teilnehmerstaaten. Berlin 2003. S. 5-8.

8 vgl. TIMSS: Third International Mathematics and Science Study. http://www.timss.mpg.de/; Stand: 07. März 2006.

9 vgl. TIMSS: zentrale Ergebnisse. http://www.hh.schule.de/ifl/mathematik/ergtimss.htm; Stand: 07. März 2006.

10 vgl. TIMSS: Third International Mathematics and Science Study. http://www.timss.mpg.de/; Stand: 07. März 2006.

11 vgl. Baumert, Jürgen; Klieme, Eckard: TIMSS als Startpunkt für Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung im Bildungswesen, S. 5-10. http://www.bmbf.de/pub/timss.pdf

12 vgl. ebd.

13 vgl. ebd.

14 vgl. PISA 2000. Zusammenfassung zentraler Ergebnisse. Max-Planck-Institut für Bildungsforschung 2001.

15 vgl. ebd.

16 vgl. Zusammenfassung zentraler Ergebnisse. Max-Planck-Institut für Bildungsforschung 2001, S. 13.

17 vgl. PISA-Konsortium Deutschland: PISA 2003: Kurzfassung der Ergebnisse, S.1. http://pisa.ipn.uni-kiel.de/Kurzfassung_PISA_2003.pdf; Stand: 20. Februar 2006.

18 vgl. PISA 2000: Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudie. http://www.zum.de/Faecher/evR2/BAYreal/as/se/pis/pisa3.htm; Stand: 24. Februar 2006.

19 vgl. PISA-Konsortium Deutschland: PISA 2003: Kurzfassung der Ergebnisse, S.1.

20 vgl. PISA 2000. Zusammenfassung zentraler Ergebnisse, S.26.

21 vgl. ebd., S. 29.

22 vgl. Klieme, Eckard: PISA deckt die Schwachstellen auf. http://bildung.focus.msn.de/bildung/bildungsstandards/theorie?page=2; Stand: 02. Februar 2006.

23 vgl. PISA 2000: Ergebnisse der internationalen Schulleistungsstudie. Soziale Herkunft und Bildungsbeteiligung.

24 vgl. IEA PIRLS (2001): IGLU- Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung. http://www.iea-dpc.de/Home/Studien/IGLU/body_iglu.html; Stand: 01. März 2006.

25 zit. n. ebd.

26 vgl. http://www.hanau.ihk.de/index.php?cms_id=637; Stand: 01. Februar 2006.

27 vgl. ebd.

28 vgl. Klieme, Eckhard; Radisch, Falk: Ganztagsangebote in der Schule. Internationale Erfahrungen und empirische Forschungen, S. 144.

29 vgl. Bundesministerium für Bildung und Forschung (Hrsg.): Vertiefender Vergleich der Schulsysteme ausgewählter PISA-Teilnehmerstaaten, S. 6.

30 vgl. Investitionsprogramm "Zukunft Bildung und Betreuung". http://www.bmbf.de/de/1125.php; Stand: 20. Januar 2006.

31 vgl. Klieme, Eckard; Radisch, Falk: Wirkung ganztägiger Schulorganisation, S. 4-6.

32 zit. n. ebd., S. 4.

33 vgl. Ganztagsschulverband: Ganztagsschule. http://www.ganztagsschulverband.de/Pages/Programmatik.html; Stand: 20. Januar 2006.

34 vgl. Ganztagsschulverband: Ganztagsschule. http://www.ganztagsschulverband.de/Pages/Programmatik.html; Stand: 20. Januar 2006.

35 vgl. ebd.

36 vgl. http://www.kultur-macht-schule.de/fileadmin/pdf/kmk_def.html; Stand: 17. Januar 2006.

37 zit. n. http://www.kultur-macht-schule.de/fileadmin/pdf/kmk_def.html; Stand: 17. Januar 2006.

38 vgl. http://www.gew-reutlingen-tuebingen.de/kahlzu(1).htm; Stand: 18. Januar 2006.

39 vgl. Klieme, Eckhard; Radisch, Falk: Ganztagsangebote in der Schule. Internationale Erfahrungen und empirische Forschungen. Bundesministerium für Bildung und Forschung, S. 160.

40 vgl. Klieme, Eckhard; Radisch, Falk: Ganztagsangebote in der Schule. Internationale Erfahrungen und empirische Forschungen. Bundesministerium für Bildung und Forschung, S. 160.

41 vgl. Klieme, Eckard; Radisch, Falk: Wirkung ganztägiger Schulorganisation, S. 13.

42 vgl. ebd.

43 vgl. Leben und Arbeiten in Deutschland. Ergebnisse des Mikrozensus 2002. http://www.destatis.de/presse/deutsch/pk/2003/Mikrozensus_2002.pdf; Stand: 18. Januar 2006, S. 26.

Ende der Leseprobe aus 79 Seiten

Details

Titel
Ganztagsschulen - die Wundermittel zur Heilung der deutschen Bildungsmisere?
Hochschule
Humboldt-Universität zu Berlin  (Institut für Erziehungswissenschaften)
Veranstaltung
Ganztagsschulen
Note
1,3
Autor
Jahr
2006
Seiten
79
Katalognummer
V145135
ISBN (eBook)
9783640560240
ISBN (Buch)
9783640560288
Dateigröße
2179 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Ganztagsschulen, Wundermittel, Heilung, Bildungsmisere
Arbeit zitieren
Sabrina Gill (Autor:in), 2006, Ganztagsschulen - die Wundermittel zur Heilung der deutschen Bildungsmisere?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/145135

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