Schuld und Willensfreiheit oder: Trennt das Schuldprinzip das Strafrecht von den Nachbardisziplinen?


Seminararbeit, 2000

29 Seiten

Angela Thams (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Das Schuldprinzip im Strafrecht
2.1. Begriff der Schuldfähigkeit
2.1.1. §§19, 20 StGB Schuldunfähigkeit
2.1.2. §21 StGB verminderte Schuldfähigkeit
2.1.3. Rechtsfolgen
2.2. Schuld und Verantwortung
2.2.1. Der strenge Indeterminismus
2.2.2. Der relative Indeterminismus
2.2.3. Die Lehre von der Lebensführungsschuld

3. Feststellung der Schuld im Strafverfahren

4. Die Bedeutung des Schuldprinzips für die Kriminologie
4.1. Ätiologische Ansätze
4.1.1. Täterorientierte Ansätze
4.1.2. Makrosoziologische Ansätze
4.2. Der Labeling-Approach

5. Wege aus dem Dilemma
5.1. Maßnahmerecht statt Schuldstrafrecht (défense sociale)
5.2. Die Neue Sozialverteidigung
5.3. Limitierung des Schuldprinzips durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

6. Fazit

Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1. Einleitung

„(...) die Lehre vom Willen ist wesentlich erfunden zum Zweck der Strafe, d.h. des Schuldig-finden-Wollens. (...) Die Menschen wurden `frei` gedacht, um gerichtet, um gestraft werden zu können: folglich mußte jede Handlung als gewollt, der Ursprung jeder Handlung im Bewußtsein liegend gedacht werden.“ (Nietzsche)

Gerade als Juristin macht sich für mich das in Jahren eingeübte normative und von Dogmatik geprägte Denken bemerkbar, das es manchmal allzu beschwerlich macht, sich einer sozialwissenschaftlichen Thematik zu nähern. Die Unterschiede und die Schwierigkeiten zwischen den Disziplinen finden auch und gerade in Kommunikationsproblemen ihren Ausdruck. Wo genau liegen die Gründe für derartige Konflikte, und sind sie zu lösen? Diese Gedanken beschäftigten mich vor Beginn der Arbeit, und so ist es Ziel dieser Arbeit, das schwierige Verhältnis zwischen dem Strafrecht und den benachbarten Disziplinen (der Kriminologie und der Psychologie bzw. der Psychiatrie) näher zu beleuchten. Da es sich hierbei aber um ein sehr komplexes Thema handelt, das im Rahmen einer Hausarbeit m.E. nur schwer bewältigt werden kann, lag es nahe, sich auf einen Aspekt zu beschränken. Hier bot sich die Willensfreiheitsproblematik innerhalb des Schuldprinzips an, da sich an diesem Punkt die Geister scheiden und Kommunikations-probleme sowie systematische Probleme deutlich werden.

Dabei sollen zunächst das Schuldprinzip und die Bedeutung der Willensfreiheit im Strafrecht analysiert werden, um im Anschluss die damit einher gehenden Probleme bei der Umsetzung in die Praxis, namentlich bei der Feststellung der Schuld im Strafverfahren, darzustellen. In diesem Bereich kommen die Schwierigkeiten des Strafrechts im Umgang mit Psychologie bzw. Psychiatrie zum Tragen.

Wenn im vierten Teil die Bedeutung des Schuldprinzips für die Kriminologie und ihre verschiedenen Richtungen dargestellt werden, so erhebt dieser Teil der Arbeit keinen Anspruch auf Vollständigkeit, d.h. es konnte nicht detailliert auf alle in der Kriminologie vertretenen Kriminalitätstheorien eingegangen werden. Vielmehr sollten anhand der Hauptrichtungen bzw. der für diese Problematik bedeutsamen Ansätze Gründe für die geringe Verwertung kriminologischer Erkenntnisse im Strafrecht gefunden werden.

Im fünften Teil der Arbeit werden Lösungsversuche lediglich nachgezeichnet, ohne dass eine Entscheidung für einen der Wege fällt.

Schließlich bleibt alles offen und vielleicht ist gerade das der Weg, um den Dialog zwischen den Disziplinen nicht zum Stillstand zu bringen, sondern ihn weiterhin zu suchen.

2. Das Schuldprinzip im Strafrecht

Es soll hier zunächst ein Überblick über die im Strafrecht geltenden Abgrenzungskriterien zur Schuldfähigkeit dargestellt werden.

2.1. Begriff der Schuldfähigkeit

Schuldfähig im strafrechtlichen Sinne ist eine Person dann, wenn sie zum Zeitpunkt der Tat in der Lage war, kraft ihres Verstandes zwischen rechtmäßigem und rechtswidrigem Verhalten zu wählen.

2.1.1. §§19, 20 StGB Schuldunfähigkeit

Daraus ergibt sich auch der Begriff der Schuldunfähigkeit. Menschen, die aus bestimmten Gründen unfähig sind, die Gebote des Rechts zu erkennen und ihre Willensentschließungen und Handlungen von ihnen bestimmen zu lassen, kann man danach keinen Vorwurf machen, d.h. sie sind schuldunfähig.

Kinder, die bei der Tat noch nicht 14 Jahre alt waren, sind grundsätzlich schuldunfähig (§19 StGB). Gleiches gilt für Menschen, die bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer anderen seelischen Abartigkeit unfähig waren, das Unrecht ihrer Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. (§20 StGB).

2.1.2. §21 StGB verminderte Schuldfähigkeit

Der schwer abgrenzbare Bereich der erheblich verminderten Schuldfähigkeit nach §21 StGB, der eine Dekulpation bedingt, eine Strafmilderung aber nicht unbedingt nach sich zieht[1], liegt vor, wenn die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in §20 StGB bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert ist.

Als problematisch wird in diesem Bereich angesehen, dass abnorme Persönlichkeiten oft als strafrechtlich voll verantwortlich und meist nur dann als erheblich vermindert schuldfähig beurteilt werden, wenn die Persönlichkeitsstörung besonders ausgeprägt ist und sich in mehreren Lebensbereichen auswirkt, außerdem aber auch das angeklagte Delikt in einem spezifischen Zusammenhang mit der Art der vorliegenden Persönlichkeitsabnormalität steht.[2]

2.1.3. Rechtsfolgen

Es gibt verschiedene Arten von Rechtsfolgen für den Täter, abhängig davon, ob er schuldfähig, vermindert schuldfähig oder schuldunfähig ist.

Rechtsfolgen bei Schuldfähigkeit wären z.B. Freiheitsstrafe, Geldstrafe, Fahrverbot, Führungsaufsicht, Berufsverbot, Verbot des Stimmrechts usw..

Fehlende Schuldfähigkeit bedeutet nach dem Strafrecht trotz fehlender Zurechnung des strafbaren Verhaltens nicht etwa, dass man vor Strafrechtsfolgen sicher sein kann. Seit Einstellung der Maßregeln der Besserung und Sicherung in das Strafgesetzbuch 1933 kann über den Betroffenen eine der Strafrechtsfolgen verhängt werden, die in §61 StGB aufgezählt sind. Dieser Maßregelvollzug ist gegenüber dem Strafvollzug aber nur theoretisch das geringere Übel. Aus der Sicht des Betroffenen kann ein Freispruch wegen Schuldunfähigkeit heute nur theoretisch ein günstiger Ausgang des Verfahrens sein, in der Praxis bedeutet es lediglich eine Alternative von „Kriminalisierung“ und „Psychiatrisierung“.[3] Es wird davon ausgegangen, dass eine Unterscheidung von Strafe und Maßregel ein „Etikettenschwindel“ und für den Betroffenen ohne praktische Wirkung sei.[4]

2.2. Schuld und Verantwortung

Wie oben bereits dargelegt, wird die Schuld im Strafrecht als eine persönliche und freie Entscheidung gegen das Gesetz angesehen. Das Strafrecht konzentriert die Zurechnungsfrage ausschließlich auf einen einzelnen Menschen.[5] Wann einem Menschen ein Schuldvorwurf gemacht werden kann, bestimmt sich folglich danach, ob der Schuldige eine Alternative zu dem Verhalten hatte. Wer, wie das Strafrecht, den Schuldvorwurf auf ein individuelles Andershandelnkönnen gründet, muss voraussetzen, dass der Handelnde in seiner Handlungssituation diese Option tatsächlich hatte. Angesprochen ist hier also das Problem der sogenannten „Willensfreiheit“.[6]

Diese Fragestellung ist insofern von Bedeutung und soll an dieser Stelle ausführlich diskutiert werden, weil ihre Beantwortung die Grundüberzeugung des Strafrechts, die der Verwertung kriminologischer und psychiatrischer Erkenntnisse entgegenstehen könnte, deutlich macht. Andererseits soll aber nicht die Frage im Vordergrund stehen, ob der Mensch determiniert oder indeterminiert handelt,[7] sondern die Frage, ob die Willensfreiheit ein Paradigma des Strafrechts darstellt, und welche Probleme sich in der Folge daraus ergeben.

2.2.1. Der strenge Indeterminismus

Das Strafgesetzbuch, das bis 1933 in §51 StGB von der „freien Willensbestimmung“ des Menschen ausgegangen ist, nimmt heute zum Indeterminismus-Problem nicht ausdrücklich Stellung. Lediglich die Judikatur geht im Anschluss an die grundlegende Verbotsirrtumsentscheidung des BGH von der Willensfreiheit des Menschen aus:

„Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, daß der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden,...“[8]

Extreme Auffassungen werden in der Literatur z.B. von Schünemann und Dreher vertreten. So geht Schünemann davon aus, dass die Freiheit zum Andershandelnkönnen einer besonders elementaren Schicht der abendländischen Kultur angehöre, deren Preisgabe nur bei Auflösung dieser Kultur insgesamt denkbar wäre.[9]

Ähnlich ist für Dreher die Willensfreiheit so sehr immanenter Bestandteil der menschlichen Wertspähre, dass sie im Bereich des Rechts nicht bewiesen zu werden braucht.[10] Diese Sicht der Dinge erscheint jedoch allzu stark vereinfacht und misst überkommenen Denkgewohnheiten einen Wahrheitsgehalt schon kraft ihrer Existenz zu.

Regelmäßig wird jedoch angenommen, dass die Frage der Willensfreiheit erfahrungswissenschaftlich nicht zu entscheiden ist.[11] Trotzdem wird von einer „praktischen Willensfreiheit“ ausgegangen. Danach ergebe sich die Annahme der Willensfreiheit aus einem rechtspolitischen Bekenntnis des Gesetzgebers „aufgrund seiner ihm weltanschaulich gegebenen Funktion“.[12] Nach dieser Auffassung läge dem Schuldprinzip des Strafrechts der Indeterminismus zugrunde.

[...]


[1] Mechler, Kleines Kriminologisches Wörterbuch 1993 S.455

[2] Mechler, a.a.O. S. 457

[3] Hassemer „Einführung in die Grundlagen des Strafrechts“ 1990 S. 216

[4] Ellscheid/Hassemer „Strafe ohne Vorwurf“ S. 266 (277)

[5] Hassemer, Kleines Kriminologisches Wörterbuch 1993 S. 451

[6] Hassemer, a.a.O. S.453

[7] Eine Analyse dieser Problemstellung müsste tief in die philosophische Diskussion einsteigen und würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.

[8] BGHSt 2, 194 (200f.)

[9] Schünemann “Die Funktion des Schuldprinzips...“ 1984, S.153 (163)

[10] Dreher, ZStW 1983 S. 340ff.

[11] Bockelmann 1976 S. 4, Schöch 1980 S. 150

[12] Kim 1983 S. 374

Ende der Leseprobe aus 29 Seiten

Details

Titel
Schuld und Willensfreiheit oder: Trennt das Schuldprinzip das Strafrecht von den Nachbardisziplinen?
Hochschule
Universität Hamburg  (Aufbaustudiengang Kriminologie)
Autor
Jahr
2000
Seiten
29
Katalognummer
V145536
ISBN (eBook)
9783640556281
ISBN (Buch)
9783640556656
Dateigröße
506 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Keine Benotung. Auszug aus dem Dozenten-Gutachten: "Ein kompliziertes Thema, in der Kürze sehr gut dargestellt."
Schlagworte
Maßregelvollzug, Kriminologin, défense sociale, Labeling-Approach, Willensfreiheit, Indeterminismus, Schuldprinzip, Angela Thams
Arbeit zitieren
Angela Thams (Autor:in), 2000, Schuld und Willensfreiheit oder: Trennt das Schuldprinzip das Strafrecht von den Nachbardisziplinen?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/145536

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