Geschlechtsspezifische Sozialisation. Geschlechtsidentitätsfindung bei Kindern


Dossier / Travail, 2003

29 Pages, Note: 2


Extrait


INHALTSVERZEICHNIS

I. Einleitung

II. Geschlechtsunterschiede
1. Biologischer Geschlechtsunterschied
2. Sozialer Geschlechtsunterschied

III. Geschlechtsidentität und Geschlechterrolle
1. Definition
2. Entstehung
3. Bedeutung der Geschlechtsidentität für die Sozialisation
4. Geschlechterrollen
a) Erziehung
b) Gesellschaft
c) Religion
d) Medien
e) Andere Kulturen

IV. Fazit

V. Quellen

I. Einleitung

Alles beginnt mit dem Satz der Hebamme: „Es ist ein Junge!“ Für die Eltern ist das Geschlecht vermutlich zweitrangig – und sie wissen was auf sie zukommt. Doch der Kleine möchte irgendwann schon wissen, woran er nun ist: Wodurch wird einem Kind bewußt, daß es Mädchen oder Junge ist und was verbindet es damit? Die Frage, ob es mit äußerlichen Umständen, wie Kultur, Erziehung, Medien oder dem Beisammensein mit anderen Kindern zusammenhängt oder innerliche Prozesse eine Rolle spielen, darauf wollen wir eine Antwort geben. Auch beschäftigen wir uns mit der Frage, woher diese geschlechtsspezifischen Unterschiede herrühren, die mit dem Alter – also der Heranreifung zu Mann oder Frau – offenbar werden. Wieso werden aus anfangs gleichgestellten Kleinkindern sich förmlich anfeindende, miteinander konkurrierende Frauen und Männer? „Kein anderes menschliches Merkmal hat so grundsätzliche Auswirkungen auf die Sozialisation wie die Geschlechtszugehörigkeit.“[1]

Die Erziehung spielt sicher die größte Rolle. Man kann davon ausgehen, daß die Eltern oder Kindergartenbetreuer das Kind, subjektiv nach Geschlecht – bewußt oder unbewußt – großziehen. Bestes Beispiel: Einem weinenden Jungen wird gesagt: „Richtige Männer heulen nicht!“ oder: „Und Du willst ein Mann sein?“ Genausowenig werden einem Jungen Puppen zum Spielen gereicht. Einem Mädchen wird immer gepredigt, sich damenhaft zu benehmen, also auf Sauberkeit zu achten und Zurückhaltung zu üben.

Dem Kind wird also durch Verhaltensweisen der Bezugspersonen ein typisch männliches bzw. weibliches Gebaren anerzogen oder es imitiert diese. Die täglichen Wechselbeziehungen von Kind und Eltern – getragen von Ge- und Verboten sowie Imitation – sozialer Umwelt und Massenmedien sind „nach Erkenntnissen soziologischer und psychologischer Forschungen der wichtigste Mechanismus zur Einübung der Geschlechterrolle.“[2]

So merkt ein Kind schon frühzeitig, daß es da einen Unterschied gibt zwischen den Menschen. Am besten läßt sich das wohl an den Genitalien festmachen. Beispielsweise beim gegenseitigen „Erforschen“, mit und bei anderen Kindern oder Geschwistern, wird es dem Kind offensichtlich, daß es zwei Geschlechter gibt. Doch dauert es eine zeitlang, bis diese Erkenntnis zu Tage tritt. So ist es für einen Jungen erst einmal selbstverständlich, das gleiche Genital auch bei anderen Personen vorauszusetzen.

„Diese Überzeugung wird vom Knaben energisch festgehalten, gegen die sich bald ergebenden Widersprüche der Beobachtung hartnäckig verteidigt und erst nach schweren inneren Kämpfen (Kastrationskomplex) aufgegeben.“[3] Jungen glauben, dem Mädchen „fehle etwas“. Wohingegen kleine Mädchen „das anders gestaltete Genitale des Knaben“ anerkennen und einem Penisneid unterliegen, der bis in den Wunsch gipfelt, auch ein Junge zu sein.[4]

Die eigentliche Rolle und Bedeutung des eigenen Geschlechts, kann das Kind nur „innerhalb der elterlichen Beziehungen und in der Wirkung auf die übrige außerfamiliale Welt“ erfahren.[5]

Die Eltern sind auch das erste Modell, „an dem das Kind die Wahrnehmung der geschlechtsspezifischen Rollen beobachten kann.“ Das diesbezügliche Verhalten und die Denkweise von Vater und Mutter untereinander oder in Bezug auf den Nachwuchs hinterlassen einen „gravierenden Eindruck in der sich formenden Psyche des Kindes.“ Nehmen wir zum Beispiel die mögliche Unterordnung der Frau unter ihren Mann, wie es weit über das 19. Jahrhundert üblich war und heute vereinzelt noch ist.[6]

Später sind die Unterschiede dann noch offensichtlicher. In der DDR etwa, wurde sehr viel Wert auf Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann gelegt. Jedoch im Alltag sah es ganz anders aus. So wurde im Kindergarten zum Beispiel nur den Mädchen aufgetragen, den Tisch nach einer Mahlzeit abzuwischen.

Die Kinder bekamen so früh mit, daß Hausarbeit Frauensache ist und verhielten sich dementsprechend. „Die Kinder zeigten, was sie kannten und was sie tagtäglich erlebten.“ Auch in ihren Berufswünschen wurden die Sprößlinge manipuliert. Berufe waren geschlechtsspezifisch zugeordnet, was auch die Kinder wußten – demnach wollten Mädchen, um ein Beispiel zu nennen, am liebsten Krankenschwester und Jungen Polizisten werden. „Als einigen nicht sofort ein Berufswunsch einfiel, machte die Erzieherin einen „passenden“ Vorschlag.“

So wurden die Kinder schon frühzeitig in für das Geschlecht typische Arbeitsbereiche vorbereitet, da es in der DDR, je nach Geschlecht, klare Berufseinteilungen gab – wenn auch nicht offiziell.[7][8]

Doch auch durch Medien werden Kinder manipuliert, indem typisch weibliche oder männliche Eigenschaften transportiert werden – ganz früh durch Bilderbücher, später dann durch Fernsehen etc. Die Kinder übernehmen dann instinktiv die „vorgeschriebenen“ Vorstellungen vom Frau- bzw. Mannsein.[9] So werden Frauen als emotionale Sorgende und Männer als kompetente Versorger dargestellt, um nur ein Beispiel zu nennen.[10]

In dieser Arbeit wollen wir kurz auf die Unterscheidung von biologischem und sozialem Geschlecht eingehen und im Hauptteil die Geschlechtsidentität und die Bedeutung der Geschlechtszugehörigkeit in der Gesellschaft von allen Seiten beleuchten, wobei das Hauptaugenmerk auf der kindlichen Findung und Erfahrung zu dieser liegt. Zum Schluß folgt ein persönliches Resümee.

II. Geschlechtsunterschiede

Das es in der westlichen Kultur zwei anerkannte Geschlechter gibt – männlich und weiblich – ist jedem von uns seit frühester Kindheit bewußt.[11]

Jedoch ist es nicht jedem Menschen offensichtlich, daß wir uns nicht nur rein biologisch voneinander unterscheiden, sondern auch sozial unsere mehr oder minder festen geschlechtsbestimmten Rollen einnehmen. Auf das Erlernen und die Bedeutung dieser Geschlechterrollen soll hier jedoch noch nicht eingegangen werden.

Als Erstes gilt es, die Grundlage jeglicher Geschlechtsunterschiede in biologischer sowie sozialer Hinsicht herzustellen.

1. Biologische Geschlechtsunterscheidung

Die Geschlechtszugehörigkeit entscheidet sich bei der Befruchtung der weiblichen Eizelle durch den männlichen Samen. Die Samenzelle ist der eigentliche Träger des Geschlechtschromosoms (Heterosom). Durch die Konfiguration des Heterosoms der Eizelle (X) mit dem des Samens (X oder Y) entscheidet sich, ob das entstehende Leben weiblich (XX) oder männlich (XY) wird. Diese grundlegende Unterscheidung wird als chromosomales Geschlecht bezeichnet und bestimmt den weiteren Verlauf der geschlechtlichen Entwicklung.

Ab der sechsten Woche entstehen beim Menschen die Gonaden (Keimzellen), also die Hoden beim Mann und Eierstöcke bei der Frau. In den Gonaden werden Geschlechtshormone (Testosteron und Östrogen) gebildet, welche Einfluß auf das Wachstum der inneren und äußeren Geschlechtsorgane haben sowie einige Funktionen des zentralen Nervensystems in männlich oder weiblich differenziert (Zerebrale Entwicklung).[12]

So gibt es beispielsweise in einem Gebiet des Gehirns einen Zweig, der bei Männern im Vergleich zu Frauen deutlich größer ist und besonders stark auf Hormoneinwirkung anspricht. Diese Unterschiede sind vermutlich die Ursache für unterschiedliches Verhalten. Frauen haben dafür mehr Informationsaustausch zwischen den Gehirnhälften und können sich besser mit mehreren Dingen gleichzeitig beschäftigen.[13]

Nach der Geburt sind die primären Geschlechtsmerkmale mehr oder weniger ausgebildet. Beim Jungen sind es Hoden und Penis, beim Mädchen Gebärmutter und Eierstöcke.

Das natürliche, biologische Geschlecht und deren anatomischen Besonderheiten, speziell die Genitalien, definieren uns in der Gesellschaft unveränderlich als Mann oder Frau.

Im Laufe der Entwicklung entstehen verschiedene Verhaltens- und Reaktionsweisen, welche nicht auf die soziale sondern biologische Grundlage zurückzuführen sind (z.B. aufgrund der gonodalen oder zerebralen Entwicklung). Beispiele dafür wären Unterschiede in der Aggressionsbereitschaft oder der Begabungsschwerpunkte.

Im Alltag wird man aufgrund von Aussehen und charakteristischer Verhaltensweisen in eines der beiden Geschlechter eingeordnet, wenn man vom operativen Geschlechtswechsel absieht (Transsexualität).[14] [15]

2. Soziale Geschlechtsunterscheidung

Wie im vorherigen Abschnitt beschrieben, wird das Geschlecht anhand von Äußerlichkeiten bestimmt. Dazu gehören Körperbau und Genitalien, aber auch Kleidung und das Auftreten der Person spielen eine Rolle.

Soziale Geschlechtsunterschiede sind nicht angeboren, sondern kulturell begründet. Sie werden herausgebildet oder verstärkt, durch unterschiedliche Sozialisation, Erfahrungen die einem durch die Behandlung anderer zuteil werden und deren Erwartungen in das eigene Geschlecht. Dadurch bilden sich voneinander abweichende Geschlechtsidentitäten und das für das jeweilige Geschlecht passende Aussehen und die Erscheinung sowie das typische Verhalten, welches in der Regel von der Gesellschaft, bzw. dem Kulturkreis vorausgesetzt wird. Grundlegend beginnt die Unterscheidung von Mann und Frau schon bei der Sprache, unter Zuhilfenahme etwa von Pronomen und Anreden. „Die biologisch fundierte Geschlechtsklassenzuordnung wird auf diese Weise ausgebaut zu einem geschlossenen Bündel sozialer Glaubensvorstellungen und Praktiken.“[16]

Biologisches und soziales Geschlecht stehen in einer steten und komplexen Wechselbeziehung miteinander. Aufgrund der biologisch bestimmten Grundlage entscheiden sich alle sozialen und gesellschaftlichen Forderungen und Aufträge des Individuums. Viele soziale Rollen bauen auf dem Geschlecht auf und bleiben mit dem Geschlecht ein Leben lang konstant.

Die folgende Graphik zeigt sehr eindrucksvoll die Wirkungszusammenhänge zwischen biologischem und sozialem Geschlecht im Laufe der Sexualentwicklung des Menschen und weist auf die Vielfalt von Vorgängen innerhalb dieser Entwicklung hin.[17]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

[...]


[1] Rolff, Hans-Günter & Zimmermann, Peter. „Kindheit im Wandel“. Weinheim, Basel: Beltz Verlag, 5. Aufl., 1997, S. 42.

[2] Orth-Peine, Hannelore. „Identitätsbildung im sozialgeschlechtlichen Wandel“. Frankfurt/Main, New York: Campus Verlag, 1990, S. 67.

[3] Freud, Sigmund. „Die infantile Sexualforschung“, in: „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ (1905), aus: „Psychoanalyse“. Hg.: Achim Thom. 3. Aufl. Leipzig: Philipp Reclam jun., 1984, S. 181.

[4] Freud, Sigmund. a.a.O., S. 182.

[5] Schmauch, Ulrike. „Kindheit und Geschlecht. Anatomie und Schicksal. Zur Psychoanalyse der frühen Geschlechtersozialisation“. Frankfurt/Main: Stroemfeld/Nexus, 1993, S. 7 f.

[6] vgl. Orth-Peine, Hannelore. S. 66.

[7] Schwarz, Gislinde. „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht...“ – Mütter und Berufskarrieren, aus: „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht...“ Zur Geschichte des Kindergartens in der DDR“. Hg.: Müller-Rieger, Monika. Dresden: Deutsches Hygiene-Museum und Argon Verlag, 1997, S. 63 f.

[9] Keuneke, Susanne. „Geschlechtserwerb und Medienrezeption. Zur Rolle von Bilderbüchern im Prozeß der frühen Geschlechtersozialisation“. Opladen: Leske + Budrich, 2000, S. 17.

[10] vgl. Keuneke, Susanne. S. 25.

[11] in anderen Kulturen finden sich oftmals verschiedene Geschlechtskategorien – vgl. Kapitel III., 4., e)

[12] Beispielsweise bestimmt das zentrale Nervensystem die zyklische/azyklische Produktion von Östrogen bei Frau und Mann.

[13] Bongard, Nicole S. „Wie groß ist der ‚kleine Unterschied’?“. 2002. Abrufdatum: 10.10.2002. URL: http://idw-online.de/public/zeige_pm.html?pmid=53950.

[14] "Sexualität (Biologie)," Microsoft® Encarta® Enzyklopädie 2000. Computer-Software. © 1993-1999 Microsoft Corporation.

[15] Hemminger, Hansjörg. „Grundlagen der kindlichen Sexualentwicklung aus der Sicht der biologischen Anthropologie“ aus: „Die Entwicklung der kindlichen Sexualität“. Hg.: Hellbrügge, Theodor. München, Wien, Baltimore: Urban und Schwarzenberg, 1982, S. 111-114.

[16] Müller, Marion. „Interaktive Konstruktion der Geschlechtszugehörigkeit in direkter realweltlicher und computerübermittelter Kommunikation“. Seminararbeit, 1997. Abrufdatum: 07.10.2002. URL: http://www.uni-mainz.de/FB/Sozialwissenschaften/Soziologie/Heintz/lehre/internet/mueller.htm.

[17] vgl. Hemminger, Hansjörg. S. 114.

Fin de l'extrait de 29 pages

Résumé des informations

Titre
Geschlechtsspezifische Sozialisation. Geschlechtsidentitätsfindung bei Kindern
Université
Carl von Ossietzky University of Oldenburg  (Soziologie)
Note
2
Auteurs
Année
2003
Pages
29
N° de catalogue
V14568
ISBN (ebook)
9783638199308
ISBN (Livre)
9783638719421
Taille d'un fichier
557 KB
Langue
allemand
Mots clés
Geschlechtsspezifische, Sozialisation, Geschlechtsidentitätsfindung, Kindern, geschlechtsspezifische Sozialisation, Identität, Kinder, Mädchen, Junge, Geschlecht, Erziehung, Medien, Biologie
Citation du texte
Ricardo Westphal (Auteur)J.-Ch. Busker (Auteur), 2003, Geschlechtsspezifische Sozialisation. Geschlechtsidentitätsfindung bei Kindern, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14568

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