Ethik ist anders als eine Naturwissenschaft keine „exakte“ Wissenschaft und ethische Aussagen sind nicht objektiv: das ist die heute verbreitete allgemeine Anschauung. Allerdings ist dies naturgemäß umstritten. Sucht man nach einem exponierten Vertreter der Gegenthese stößt man beispielsweise auf Aristoteles: für ihn ist die Objektivität der Ethik keine Frage, ebenso wenig, ob ethische Aussagen wahr sein können.
Genauso wie man von einer Säge sprechen kann, dass sie „gut“ ist in dem Sinne, dass sie gut schneiden könne, kann man von einer Handlung sagen, dass sie gut sei. Dieser Anspruch erscheint heutzutage aber eher fremd und keinesfalls selbstverständlich. Wie aber kann Aristoteles begründet davon sprechen, dass ethische Prinzipien „wahr“ bzw. „objektiv“ sind?
Dieser Frage wird in eher begrenztem Rahmen nachgegangen. Zum einen wird nicht die aristotelische Methode an sich untersucht, sondern speziell die der Nikomachische Ethik. Nur ergänzend werden andere Schriften herangezogen. Zum anderen ist das Ziel der Arbeit nicht, eine aktuelle oder grundsätzliche Diskussion über Wahrheit in der Ethik zu führen. Ziel ist vielmehr ein eingehendes Verständnis der Methode, wie sie Aristoteles selbst verstanden hat und somit tendenziell eine philosophiegeschichtliche Untersuchung.
Trotz dieser Beschränkungen soll die Arbeit in zweierlei Hinsicht über ihre konkreten Ziele hinausweisen: zum einen eröffnet sich über eine Diskussion der Methode ein grundlegenderes Verständnis der Inhalte der Nikomachischen Ethik. Zum anderen ist vor allem durch das sechste Kapitel mittelbar ein grundlegenderer Blick auf die ethischen Fragen unserer Zeit möglich.
Bevor man sich aber der Methode und der Untersuchung zuwendet, ist ein klärendes Wort notwendig, das vor allem der Abgrenzung zu den „objektiven“ Naturwissenschaften dient.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung und Fragestellung
2. Die Aporie der Selbstliebe
3. Ethische „Fakten“?
4. Dialektik und die Ersten Prinzipien
5. Ein Prinzip der Freundschaft
6. Der ontologische Status erster Prinzipien
7. Schlussbemerkungen
8. Anhang: Verzeichnis der verwendeten Literatur
8.1. Primärliteratur
8.2. Sekundärliteratur
1. Einleitung und Fragestellung
Ethik ist anders als eine Naturwissenschaft keine „exakte“ Wissenschaften und ethische Aussagen sind nicht objektiv: das ist die heute verbreitete allgemeine Anschauung. Allerdings ist dies naturgemäß umstritten. Sucht man nach einem exponierten Vertreter der Gegenthese stößt man beispielsweise auf Aristoteles: für ihn ist die Objektivität der Ethik keine Frage, ebenso wenig, ob ethische Aussagen wahr[1] sein können. Er gilt als „ a prime example of a philosopher who holds that ethical propositions are objectively true or false.“ (Bolton 1991: 7). Genauso wie man von einer Säge sprechen kann, dass sie „gut“ ist in dem Sinne, dass sie gut schneiden könne (Phys. 2.9.200b6-8[2] ), kann man von einer Handlung sagen, dass sie gut sei. Dieser Anspruch erscheint heutzutage aber eher fremd und keinesfalls selbstverständlich. Wie aber kann Aristoteles begründet davon sprechen, dass ethische Prinzipien „wahr“ bzw. „objektiv“ sind?
Dieser Frage wird in eher begrenztem Rahmen nachgegangen. Zum einen wird nicht die aristotelische Methode an sich untersucht, sondern speziell die der Nikomachische Ethik. Nur ergänzend werden andere Schriften herangezogen. Zum anderen ist das Ziel der Arbeit nicht, eine aktuelle oder grundsätzliche Diskussion über Wahrheit in der Ethik zu führen. Ziel ist vielmehr ein eingehendes Verständnis der Methode, wie sie Aristoteles selbst verstanden hat und somit tendenziell eine philosophiegeschichtliche Untersuchung. Trotz dieser Beschränkungen soll die Arbeit in zweierlei Hinsicht über ihre konkreten Ziele hinausweisen: zum einen eröffnet sich über eine Diskussion der Methode ein grundlegenderes Verständnis der Inhalte der Nikomachischen Ethik. Zum anderen ist vor allem durch das sechste Kapitel mittelbar ein grundlegenderer Blick auf die ethischen Fragen unserer Zeit möglich.
Bevor man sich aber der Methode und der Untersuchung zuwendet, ist ein klärendes Wort notwendig, das vor allem der Abgrenzung zu den „objektiven“ Naturwissenschaften dient. Ethik ist keine Wissenschaft in dem Sinne, dass sie das Verhalten von Menschen präzise vorhersagt. Das ist Aufgabe der moralischen Psychologie, mit der sich Aristoteles auch beschäftigt, etwa in den Abhandlungen über die Unbeherrschtheit (akrasia) oder dem Streben nach dem Glück (eudaimonia). Eine Wissenschaft von der Ethik gibt aber nicht Auskunft über das tatsächliche Verhalten von Menschen, sondern versucht, Objekten (Handlungen) Prädikate wie gut oder schlecht zuzuschreiben. Zu unterscheiden von dem Anspruch auf Objektivität ist der Begriff der Exaktheit. Eine Wissenschaft kann gleichermaßen objektiv und „inexakt“ sein, was besonders auf die Ethik zutrifft. Ein Grund für die mangelnde Exaktheit der Ethik, die Aristoteles an verschiedenen Stellen betont[3], liegt darin, dass die Ethik keine Wissenschaft von Formen, sondern von „materialisierten“ Formen ist (Substanz, siehe dazu Irwin 1980). In einer solchen Wissenschaft ist aber kein exaktes Wissen möglich, sondern nur ein Zumeist-Wissen (hôs epi to polu, Reeve 1995: 13)[4]. Ein anderer Grund liegt in der Handlungsnatur der Ethik. Aristoteles sucht Prinzipien der Ethik, wobei diese noch keine Handlungsanweisungen sind. Diese werden erst durch einen praktischen Syllogismus unter Einschluss der Umstände gewonnen: aus dem Prinzip (Essen nutzt dem Mensch) und den Umständen (Hier gibt es Essen) folgt die Handlungsanweisung (es ist gut, jetzt zu essen). Die Handlungsanweisungen sind aber deswegen ungenau, weil sie aus den Umständen hervorgehen: diese sind jedoch mit Ungenauigkeit und Unwissen verbunden. Das schließt aber nicht aus, dass es wahre und objektive Prinzipien gibt[5]. Wie aber begründet Aristoteles das Vorhandensein wahrer Prinzipien?
Entscheidend dafür ist eine Untersuchung der Methode in der Ethik. Eine der prägnantesten Erläuterungen seiner Methode in der Ethik gibt Aristoteles vor der Diskussion der Unbeherrschtheit (akrasia):
„ Man muß nun, wie in den anderen Fällen, zuerst die Phänomene [phainomena] nennen und die Schwierigkeiten [aporia] zeigen und dann alles nachweisen, was hinsichtlich jener Affekte anerkannte Meinung [endoxa] ist, oder doch das Meiste und Wichtigste. Denn wenn die Schwierigkeiten gelöst sind und das anerkannte übrigbleibt, so ist der Nachweis wohl hinreichend geliefert. “ (7.2.1146b2-7).
Man kann also drei Schritte in der Methode unterscheiden, das Nennen der Phänomene, das Auflösen der Aporien, schließlich der „ Nachweis “. Die folgende Untersuchung wird sich an diesem Schema orientieren.
Grundsätzlich bietet sich an, die Methode und die anschließenden Fragen an der Unbeherrschtheit zu untersuchen, da diese Diskussion als exemplarisch angesehen werden kann und „ wie in den anderen Fällen “ die Methode der Nikomachischen Ethik ist. Allerdings ist dieses Problem bereits eingehend untersucht worden (u.a. Barnes 1980, Cooper 1999). Um also nicht bereits vollzogene Untersuchungen nur nachzuzeichnen, wird ein anderes ethisches Problem als Hintergrund für die methodische Diskussion verwendet. Aus verschiedenen Gründen bietet sich die Untersuchung von Selbstliebe in der Freundschaft (9.8.1168a27-1169b2) an. Die Grundfrage dort ist, ob „ man sich [in der Freundschaft] selbst am meisten lieben solle oder einen anderen “ (9.8.1168a27). Mit dieser Fragestellung ist man intuitiv vertraut, so dass eine langwierige Erörterung des praktischen Problems nicht notwendig ist und man sich so auf die Diskussion der Methode konzentrieren kann[6].
Dabei wird so vorgegangen, dass nach einer Einführung in die Aporie der Selbstliebe als dem praktischen Hintergrund der methodischen Untersuchung (Kapitel 2) in einem ersten Schritt die Bedeutung des Begriffs „Phänomene“ (Phainomena), beziehungsweise der allgemeinen Anschauungen (legemona) oder Meinungen (endoxa) geklärt werden soll (Kapitel 3). Daran schließt sich eine Diskussion der dialektischen Methode an (Kapitel 4). Das Problem der Ersten Prinzipien wird zweigeteilt behandelt, zuerst in einer praktischen Bestimmung eines Ersten Prinzips in der Freundschaft (Kapitel 5), danach in einer allgemeinen Betrachtung Erster Prinzipien (Kapitel 6). Ziel ist es dabei, zu klären, inwieweit bei Aristoteles ethische Prinzipien „wahr“ sind. Ein Prinzip ist dabei ein Satz, der letztlich einer Handlung ein Prädikat wie gut/schlecht bzw. tapfer/feige zuordnen kann. Kann man einem Menschen beispielsweise mit Anspruch auf Objektivität schlechtes Verhalten vorwerfen, wenn er seinem Freund nicht hilft? Um diesen Anspruch auf Objektivität zu verstehen, soll deshalb das praktische Problem- die Freundschaft- kurz erläutert werden.
2. Die Aporie der Selbstliebe
In den Büchern über die Freundschaft ist eine zentrale Frage das Verhältnis von Freundschaft mit anderen zu der mit sich selbst, also der Konflikt zwischen Altruismus und Egoismus. Dieses Problem thematisiert Aristoteles im achten Kapitel des neunten Buches (9.8.1168a27-1169b2). Sein Vorgehen ist dabei ähnlich wie die Diskussion der akrasia exemplarisch für die ethische Methode. Zuerst umreißt er die „ Phänomene“[7]. Demnach tadelt[8] „ man “ denjenigen, der „ sich selbst am meisten [schätzt]... “ (9.8.1168a28-29) und der „ nichts tue, was nicht in seinem Interesse sei “ (9.8.1168a31). Der Tugendhafte hingegen wird gelobt, weil er „ das Seinige vernachlässigt “ und „ um des Freundes willen “ (9.8.1168a33-34) handelt. Diese Darstellung der allgemeinen Meinung deckt sich im Prinzip mit den heute gängigen unreflektierten Vorstellungen von Freundschaft und wirkt insofern unproblematisch. Deshalb wirkt der folgende Satz unverständlich: „ Diesen Erwägungen widersprechen aber die Tatsachen [!], und dies aus verständlichen Gründen. “ (9.8.1168a35-b1[9] ). Welche Tatsachen widersprechen dem intuitiven Verhältnis von Selbstliebe und Freundschaft? Hier greift Aristoteles auf eine Untersuchung im vierten Kapitel zurück, wo er vier (bzw. fünf) Kriterien nennt, die „ man “ der Freundschaft zuschreibt. Ein Beispiel ist etwa, dass der Freund „ das Gute oder gut Erscheinende um des andern selbst willen wünscht “ (9.4.1166a3-4). Dieses Kriterium trifft aber ebenso wie die anderen bei dem Tugendhaften im Verhältnis zu sich selbst zu. Aus diesem Grund ist der Tugendhafte sein eigener Freund: er liebt sich selbst[10]. Damit ist das zweite phainomenon eigentlich eine Folgerung aus einer vorangegangen Untersuchung, dass wird sich aber im Verlauf der Untersuchung als nicht problematisch herausstellen. Was sind nun die Schwierigkeiten (Aporien)? Eigentlich sind diese offensichtlich und bedürfen keiner besonderen Offenlegung: die eine Vorstellung sagt, dass ein Freund selbstlos handeln soll, die andere Ansicht hingegen betont, dass ein Freund sich selbst lieben solle. Ein Freund soll also zugleich selbstlos und eigenliebend sein. Da beides aber nicht möglich scheint, sind die beiden phainomena miteinander im Widerstreit.
Wie kann diese Aporie in einem zweiten Schritt nun aufgelöst werden? Im Falle der akrasia findet eine Klärung über den Begriff des Wissens statt. Ähnlich geht Aristoteles auch hier vor: problematisch ist der Begriff der Selbstliebe und aus diesem Grund werden zwei Konzepte von Selbstliebe unterschieden. Das eine Konzept (9.8.1168b14-24) bezeichnet die als eigenliebend, die „ viel beanspruchen an Geld, Ehre und körperlichen Genüssen. “ (9.8.1168b16). Das andere Konzept (9.8.1168b24-1169a11) hingegen versteht den tugendhaften Menschen[11] als eigenliebend, wenn sie sich bemühen, „ selbst immer das Gerechte zu tun ..., und was es sonst an Tugenden gibt. “ (9.8.1168b25-26). Denn der Tugendhafte handelt gemäß der Tugend, was für ihn im Sinne seiner Glücksvorstellung ist. Der Unterschied zwischen beiden Konzepten liegt darin, was der Mensch an sich selbst liebt: im ersten Fall liebt der Mensch sich in Form seiner niederen Seelenteile, die er durch Geld, Ehre und ähnliches befriedigen will. Im zweiten Fall hingegen richtet sich die Liebe auf den Geist (nous)[12] und der sich so selbst Liebende handelt als Ausdruck seiner Selbstliebe tugendhaft. Dieses tugendhafte Handeln aber äußert sich als scheinbar altruistisches Handeln[13]. Die Widersprüche in den phainomena ergeben sich also dadurch, dass einmal auf eine pejorative Form der Eigenliebe Bezug genommen wird, das andere Mal auf eine edle Eigenliebe[14]. Dadurch aber ist nachgewiesen, „ was hinsichtlich jener Affekte anerkannte Meinung ist.“ (7.1.1145b3) . Die beiden Ausgangspunkte der Untersuchung stehen nicht mehr im Widerspruch zueinander, sondern sind in einem gemeinsamen Rahmen integriert, die Schwierigkeiten gelöst. Ist damit aber „der Nachweis wohl hinreichend geliefert. “, wie Aristoteles behauptet? Auf diese Frage wird im sechsten Kapitel zurückzukommen sein. Zuerst aber müssen zwei Fragen geklärt werden: erstens, was sind die Ausgangspunkte der Diskussion, die hier mit phainomena bezeichnet worden sind? Zweitens: wie lässt sich die Methode formalisieren und inwiefern ist sie wissenschaftlich im Sinne von Aristoteles?
3. Ethische „Fakten“
Was sind also phainomena, die Aristoteles als Ausgangspunkt der Untersuchung bezeichnet? Wörtlich übersetzt bedeutet dieser Ausdruck das-Erscheinende und das-auf-der-Hand-liegende[15]. Es fällt auf, dass der Begriff bei Aristoteles uneinheitlich in Relation auf die „ Fakten “ (gignomena, sumbainonta, huparchonta) verwendet wird. Stellenweise sind phainomena gleichbedeutend mit Fakten (Metaphysik 1090b19-20), an anderen Stellen werden sie den Fakten gegenüber gestellt (Topik 146b36, 171b27-30, Metaphy. 1009a38-1010a3, Rhet.1402a26-7, 1402b23)[16]. Damit aber erweist sich eine bestimmte Interpretation der phainomena bereits als nicht zutreffend: phainomena sind keine „ Baconian observations, raw feels, sense data, or the like “ (Reeve 1995: 35). Zwar gibt es Stellen im Aristotelischen Korpus, wo phainomena ohne weiteres Fakten im modernen Sinne entsprechen, also Beobachtungen, die theoretisch nicht aufgeladen sind. An diesen Stellen kann man dann auch begrenzt von einem „ Empirismus “ (Barnes 1992: 92) oder einem „ Baconian picture of natural science “ (Nussbaum 1981: 244 über Owen 1986) sprechen. Allerdings gibt es genauso phainomena, die keinesfalls Fakten im modernen Sinne sind. Ein gutes Beispiel hierfür sind Sprichwörter, die Aristoteles an verschiedenen Stellen verwendet und keinesfalls nur als illustrierendes Material versteht. Wenn man sagt, dass Freunde „ eine Seele “ sind und „ das Knie ... näher [ist] als die Wade “ (in Bezug auf die Selbstliebe), so sind das für Aristoteles ethische „Fakten“ oder eben phainomena. Auf diese doppelte Bedeutung der Phainomena im Sinne von „ Fakten “ auf der einen Seite und „ conceptual structure revealed by language “ (Owen 1986: 240) hat bereits Owen hingewiesen, wobei zumeist die harten Fakten der reinen Beobachtung den Naturwissenschaften zugerechnet werden, Sprichwörter, Meinungen und ähnliches hingegen den „Humanwissenschaften“[17]. Da sich diese Arbeit mit der Ethik und damit den Humanwissenschaften beschäftigt, ist es hier nicht von Interesse, ob es in Bezug auf verschiedene Wissenschaften einen doppeldeutigen Begriff von Fakten gibt[18]. Im Rahmen der Ethik handelt es sich bei phainomena vorwiegend um Überzeugungen, Glauben, Expertenwissen und ähnliches, also das, was mit Sprache beschrieben wird. Auf einen weiteren Unterschied im Vergleich zu modernen Fakten muss ebenfalls hingewiesen werden: „ Fakten “, also phainomena können falsch sein. So sind die Vorstellungen der Menge über das Glück, dass die Menge besitzt, zwar phainomena, jedoch falsch (1.3.1095b19). Klar dürfte damit sein, dass phainomena nicht unserem modernen Verständnis von Fakten entsprechen und damit die Wissenschaft der Ethik keine Wissenschaft im Sinne Bacons ist.
Ein anderer Terminus neben den phainomena sind endoxa, was mit allgemeiner Anschauung oder angesehener Meinung übersetzt wird (Reeve 1995: 5). Was sind endoxa, und wie verhalten sie sich zu phainomena ? Dazu gibt es mehrere recht kontroverse Ansichten. Nussbaum beispielsweise setzt endoxa mit phainomena gleich und bezeichnet beide als „ common conceptions or beliefs on the subject “ (Nussbaum 1986: 243). Das deckt sich sehr gut mit Aussagen wie der, dass der Tugendhafte „ das Seinige vernachlässigt.“ (9.8.1168a33-34). Anders als Nussbaum versteht Irwin unter endoxa allgemeine Anschauungen „ held by fairly reflective people after some reflection “ (1988: 38) und beruft sich auf eine Stelle in der Eudemischen Ethik (1214b28-1215a2), in der Aristoteles den Kreis derjenigen eingrenzt, die als gute Menschen berufen über ethische Fragen reden können. Ähnliche Aussagen finden sich auch in der Nikomachischen Ethik: „ Darum muß der der, der über das Schöne und Gerechte ... hören will, eine gute Lebensführung aufweisen... Wer nun diese Lebensführung besitzt, der kennt entweder die Prinzipien schon oder dürfte sie leicht begreifen. “ (1.2.1095b4-8). Barnes wiederum verwendet den Begriff „ reputable “ (Barnes 1980: 505), um Anschauungen zu endoxa zu qualifizieren. Wann eine Anschauung angesehen ist, ist dabei nicht ohne weiteres klar. In Anlehnung an Top. 100b21-3 scheint Barnes aber eine Ansicht genau dann als angesehen zu bewerten, wenn sie jeder teilt. Reeve sieht endoxa hingegen als phainomena mit einem „ additional epistimic weight “ (Reeve 1995: 37) an, dass sich aus der Zustimmung Aller, der Meisten oder der Weisen ergibt. Die Meinung der Weisen kann dabei der Meinung der Vielen entgegenstehen. Diese Ansicht hat er allerdings später geändert und spricht nun davon, dass direkte endoxa „ deeply unproblematic beliefs “ (Reeve 1998: 242) sind[19].
Diese Verwirrung lässt sich klären, wenn man die Struktur zweier Argumente in der Nikomachischen Ethik untersucht[20]: die der akrasia (7.Buch) und der Selbstliebe in der Freundschaft (9.8.). Im ersten Fall, der Unbeherrschtheit, nennt Aristoteles zuerst die „ üblichen Ansichten “ (legemonia, 7.2.1145b7-21). An diese schließt sich die Sicht des Sokrates (7.3.1145b22-30), eines unbekannten Sokratikers[21] (7.3.1145b31-35) und der Sophisten (7.3.1146a21-27) an. Wie verhält es sich im zweiten Fall? Hier setzt die Diskussion ebenfalls mit der üblichen Ansicht ein („ Man tadelt jene...“, 9.8.1168a27-34), an die sich die Sicht anschließt, dass der Freund selbstliebend sei. Allerdings schließt Aristoteles hier an eine Diskussion aus dem vierten Kapitel (9.4.1166a1-1166b29) an: „ Denn es wurde schon gesagt... “ (9.8.1168b5-6). Das dort bereits aus phainomena[22] gewonnene Ergebnis wird verwendet, ergänzt nur um Sprichwörter (9.8.1168b7-10). Vergleicht man beide Passagen fällt auf, dass die Diskussion mit der allgemeinen Ansicht einsetzt. An diese schließt sich im weitesten Sinne eine Expertenmeinung an: die von Sokrates, eines Sokratikers, eingeschränkt der Sophisten bzw. die von Aristoteles selbst (in Gestalt der Erkenntnis aus 9.4.). Damit verläuft die Trennung nicht zwischen „Allen oder den Vielen“ auf der einen und der Meinung der Weisen auf der anderen Seite. Vielmehr findet sich als ein Ausgangspunkt die Meinung der Vielen, der andere Ausgangspunkt ist eine Expertenmeinung. Der erste Punkt ist nach der Topik ein endoxon, der zweite eine thesis (Bolton 1990/92: 77):
[...]
[1] Der Begriff wahr wird im folgenden noch intuitiv verwendet. Eine Definition ist erst im sechsten Kapitel möglich und von einer meta-theoretischen Entscheidung abhängig.
[2] Im Folgenden wird die Primärliteratur wie folgt zitiert: Metaphysik (Met.), Physik (Phys.), Topik (Top.) Eudemische Ethik (EE). Die Magna Moralia wird nicht herangezogen. Die Nikomachische Ethik wird ohne Abkürzung zitiert. Die erste Zahl ist immer das Buch, gefolgt vom Kapitel und der Bekkerschen Zahl.
[3] „ Es kennzeichnet den Gebildeten, in jedem einzelnen Gebiet nur so viel Präzision zu verlangen, als es die Natur des Gegenstandes zulässt.“ (1.1.1094b23-25)
[4] Siehe dazu Reeve 1995: 7-30.
[5] Genaugenommen spricht Aristoteles gleichermaßen davon, dass Ethik exakt (1.7.1098a23) bzw. inexakt (1.1.1094b23-25) ist. Der Grund für diesen Widerspruch mag in der Trennung von Prinzipien, Handlungsumständen und daraus folgend Handlungsanweisungen begründet sein. Diese Frage kann hier aber nicht weiter verfolgt werden. Zur Exaktheit der Aristotelischen Ethik siehe Irwin 2000, Anagnostopoulos 1994 und Reeve 1995: 7-30.
[6] Zum Problem bietet sich folgende Literatur an: Cooper 1977 und 1985, Stern-Gillet 1995, Schulz 2000 und aus nicht-aristotelischer Sicht: Blum 1980 und verkürzt 1997.
[7] In 1168a27-34 für das erste, und 1168a35-b10 für das zweite Phainomenon
[8] Im Original findet sich epitimôsi, also in etwa „es werden jene getadelt“.
[9] Im Original findet sich für Tatsachen ta erga, also in etwa „wie es gehandhabt wird“
[10] Freundschaft und lieben sind im Griechischen nicht so strikt getrennt wie im Deutschen. Man betrachte beispielsweise Freundschaft (philia) und das Liebenswerten (to philêta). Zum Problem siehe Schulz 2000.
[11] Man beachte, dass hier ein Unterschied zur ersten Anschauung vorliegt, wenn vom tugendhaften Menschen die Rede ist.
[12] Problematisch ist in der Diskussion wie Irwin bemerkt, dass bestimmte metaphysische Elemente vorausgesetzt werden (Irwin 1988: 602).
[13] Dieses Problem führt über die Konkurrenzgüter zur Auseinandersetzung, im Falle moralisch wertvoller Güter zum moralischen Wettbewerb. Siehe hierzu die exemplarische Debatte zwischen Kraut 1989 und Annas 1989, sowie Kraut 1991, Annas 1993 und Dziob 1993. Kritik findet sich bei Price 1995, 247f. und Stern-Gillet 1995, 116ff.
[14] Das Edle steht hier für den Terminus „kalos“, siehe hierzu 4.2.1120a24.
[15] Substantivierte Form von „to appear“ und „to be plainly so“ (Reeve 1995: 34)
[16] Siehe Reeve 1995: 34.
[17] Nussbaum 1981 spricht von „humanities“. Das entspricht zwar nicht der aristotelischen Einteilung der Wissenschaften, trifft aber den Unterschied zu den Naturwissenschaften gut.
[18] Zu dieser Frage siehe etwa Cleary 1994.
[19] Direkte endoxa sind Anschauungen, die nicht von Experten oder erfahrenen Philosophen geäußert werden. Der Punkt wird auf im folgenden klar.
[20] Eine ähnliche Sicht findet sich bei Bolton 1992: 77 und Reeve 1999.
[21] Siehe Gigon in Aristoteles 1998: 398.
[22] Die Charakteristika der Freundschaft wurden bereits vorher eingeführt: 8.2.1155b31, 8.8.1159-a31-33, 8.5.1157b7-8, 8.3.1156b14 und 8.6.1158a9.
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