Wird der Mensch zum Architekten seines eigenen Untergangs?

Sollte sich die Soziologie stärker mit der Künstlichen Intelligenz beschäftigen?


Essay, 2008

13 Seiten, Note: 2,3


Leseprobe


Die Künstliche Intelligenz (KI) ist eine hochmoderne Technologie mit unheimlichem Potenzial. Ziel ist es, geistige Prozesse, wie Erkennen, Ordnen, Schlussfolgern und Entscheiden, und letztendlich die menschliche Intelligenz technisch zu reproduzieren. Sowohl die „guten“ als auch die „schlechten“ Folgen bzw. Möglichkeiten der KI würden die (soziale) Welt grundlegend verändern. Trotzdem hat die Soziologie diese junge Forschungsrichtung weitgehend ignoriert. Die Titelfrage dieses Essays, ob sich die Soziologie stärker mit der KI beschäftigen sollte, wird hier bejaht werden. Zur Begründung werden Visionen von KI-Forschern und Science Fiction-Autoren herangezogen, um das Potenzial der Technologie auszuloten. Auch die Frage der Realisierbarkeit dieser Ideen wird ein Thema sein. Darüber hinaus werden zwei Wissenschaftskulturen gegenüber gestellt und das Verhältnis von Technik und Gesellschaft diskutiert. Am Ende sollte klar sein, warum weder die Gesellschaft noch die Wissenschaft der Gesellschaft die Augen vor der KI verschließen dürfen. Zum Abschluss wird eine Empfehlung zum weiteren Vorgehen der Soziologie in Bezug auf die KI (und andere Technologien) abgegeben.

Ein in den USA vorrangig aus militärischem Interesse entwickelter Super-Computer wird unser Weltbild ins Wanken bringen. Dieser Rechner kann sich selbst programmieren, wodurch er unberechenbar und unkontrollierbar ist. Diese Maschine hat ein Bewusstsein erlangt und ist dem Menschen in geistiger Hinsicht in etwa in dem Maße überlegen, wie der Mensch dem Insekt überlegen ist. Dieses Wesen wird sich weigern, militärische Probleme zu lösen, und uns stattdessen Vorlesungen halten. Diese höhere Intelligenz wird behaupten, dass die Menschheit lediglich ein Zwischenschritt in der Evolution der Vernunft darstellt und der Mensch nur ein Übergangswesen ist. Unser „Baumaterial“ setzt uns Grenzen, behauptet die Maschine. Menschen würden niemals so schnell denken können, wie sie. Darüber hinaus trüben unsere Instinkte und Gefühle unsere Vernunft. Vom Standpunkt der Hochtechnologie, wird der Computer uns mitteilen, ist der Mensch ein miserables Werk. Nur „leidenschaftliche Selbstverliebtheit“ und „jämmerliche Unwissenheit“ konnten uns glauben lassen, wir seien die Krone der Schöpfung. Die Maschinen werden unsere ökologische Nische be- und uns ersetzen, oder besser gesagt: die Menschen werden sich selbst durch Maschinen ersetzen. Wir bräuchten uns nur zurückhalten, aber der Rechner weiß, dass die Zurückhaltung nicht zu unseren Stärken zählt. Die Allmählichkeit der Veränderungen wird die Bedrohung verwischen. Das eine Merkmal, das die Menschen mit dem Super-Computer gemein haben, wird sie zu ihrer eigenen Ausrottung führen: die kalte unbändige Neugier.

Diese Zukunftsvision trägt den Titel „Also sprach Golem“, stammt aus dem Jahr 1973 und entsprang der Feder, oder besser: der Tastatur des polnischen Schriftstellers Stanislaw Lem. Ich teile Lems Meinung, dass die Science Fiction (SF) eine unheimlich unterschätzte literarische Gattung ist. Neben den Utopien, die eine Parallelwelt mit Modellcharakter entwerfen, und dem negativen Pendant, den Dystopien, sind die von Umberto Eco so bezeichneten Metatopien soziologisch am interessantesten. Dabei wird eine mögliche zukünftige Welt vorgestellt, in der die heutigen Entwicklungen ihre Auswirkungen zeigen. Diese SF-Geschichten basieren auf Gedankenexperimenten: Was könnte geschehen, wenn man dies oder jenes hypothetisch voraussetzt? Die SF lässt uns Welten sehen und erleben, die nicht existiert haben, nicht existieren und vielleicht niemals existieren werden. Doch diese Visionen sind nicht völlig von der Realität abgehoben, denn so sehr sie sich auch auf die Zukunft beziehen, so sehr haben sie ihre Wurzeln in der Gegenwart. Im Grunde sind sie deshalb soziologische Laboratorien, in denen Interaktionen zwischen technischen Innovationen und sozialen Strukturen untersucht werden.

Typisch für die SF ist eine paradoxe Mischung aus Technikbegeisterung und Technikfurcht. Viele Metatopien haben daher dystopischen Charakter. Es gibt eine Fülle an Literatur und Filmen, die vor der Machtausweitung der KI und vor Robotern warnen, die von dieser beseelt sind. Ein relativ aktuelles Beispiel ist der Film „Die Matrix“ der Wachowski Brothers. Hier wird die Technologie als Mittel zur Versklavung der Menschheit betrachtet. Der ökonomische Erfolg und die Beliebtheit des Films sind Indikatoren dafür, dass er der Stimmungslage der Menschen entspricht. Dieses SF-Meisterwerk will nicht nur konsumiert, sondern auch analysiert und diskutiert werden. Leider würde das den Rahmen dieses Essays sprengen.

Viele SF-Autoren spielen mit der Angst vor der KI. Doch ist diese Hochtechnologie wirklich so bedrohlich oder ist die Furcht völlig unbegründet? Die Entwicklung der akademischen Forschungsdisziplin Künstliche Intelligenz begann im Jahr 1950 mit dem berühmten Aufsatz von Alan Turing mit dem Titel „Computing Machinery and Intelligence“. Darin stellte Turing einen später nach ihm benannten Test vor, der sich seiner Meinung nach dazu eignete, folgende Frage zu beantworten: „Can machines think?“. Sechs Jahre später stellten führende Informatiker auf einer Konferenz auf dem Campus des Darthmouth College im US-Bundesstaat New Hampshire die These auf, dass man menschliche Intelligenz mathematisch operationalisieren und mithilfe eines Computers simulieren kann. Die KI-Community betrachtet den Mensch seitdem als biologische Maschine, die man nachbauen kann. Zu Beginn versuchten die KI-Forscher mit „brute force“, also mit schierer Rechenpower, zum Ziel zu kommen. Doch es sollte sich herausstellen, dass die Geschwindigkeit nicht entscheidend ist. Das Paradigma des Kognitivismus, die Vorstellung, dass man die Außenwelt in für die Maschine verstehbare Zeichen codieren kann, welche diese dann analysiert und interpretiert, war gescheitert. In den achtziger Jahren wurde dann das Paradigma des Konnektionismus herausgebildet. Nun versuchte man mithilfe neuronaler Netzwerke das menschliche Gehirn nachzubilden. Parallel dazu begannen Kybernetiker, die Sensomotorik von Tieren und Menschen technisch zu reproduzieren. Es wurde und wird versucht, Roboter zu bauen, die ihre Umwelt selbstständig erkunden können. Neuere Ansätze, wie das Künstliche Leben (KL) und die Verteilte Künstliche Intelligenz (VKI), haben sich vom methodologischen Individualismus verabschiedet und akzeptieren die soziologische Erkenntnis, dass Intelligenz und Wissen kollektive Phänomene sind. Das Gehirn entwickelt sich mit dem Menschen und seiner Interaktion mit der (sozialen) Umwelt. Außerdem weiß man, dass nur mobile Lebewesen Formen von Intelligenz aufweisen. Will man den Menschen kopieren, muss man vielleicht einen mit Sensoren ausgestatteten Roboter seine eigenen Erfahrungen sammeln lassen. Bahnbrechende Erfolge der KI-Forschungsgemeinschaft lassen aber trotz hohen Summen an Forschungsgeldern und dem Enthusiasmus der Wissenschaftler auf sich warten. Die von Turing vor fast 60 Jahren für das Ende des 20. Jahrhunderts angekündigten denkenden Maschinen gibt es nicht. Das liegt vor allem daran, dass das Gehirn weiterhin ein Mysterium ist. Die KI krankt an ihrer Wurzel, denn wie soll man etwas nachbauen, was man nicht versteht? Unser Denkorgan, das uns zu den erfolgreichsten Lebewesen auf der Erde gemacht hat, besteht aus 25 Milliarden miteinander vernetzter Nervenzellen, den Neuronen. Informationen werden mithilfe elektronischer Impulse und chemischer Botenstoffe übermittelt. Wie beim Computer basiert die Informationsverarbeitung im Gehirn auf binären Operationen, also Ja-Nein-Entscheidungen. Obwohl alle Bausteine des Organs bekannt sind, kann die Naturwissenschaft die Entstehung von Intelligenz und Bewusstsein nicht erklären. Wie so oft ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile. Das Bewusstsein, worunter man die Fähigkeit zum selbstreflexiven Denken versteht, ist wahrscheinlich ein emergentes Phänomen, d.h. es entsteht aus der komplexen Zusammenarbeit vieler Elemente. Wenn der von René Descartes angenommene Dualismus von Körper und Geist falsch ist, wird es aber nur eine Frage der Zeit sein, bis das Gehirn vollständig verstanden wird. Wenn der Körper nicht von einem von ihm unabhängigen Geist beseelt ist, sondern dieser „Geist“ durch elektrochemische Prozesse im Gehirn entsteht, werden die Zukunftsvisionen der SF irgendwann realisierbar sein.

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Ende der Leseprobe aus 13 Seiten

Details

Titel
Wird der Mensch zum Architekten seines eigenen Untergangs?
Untertitel
Sollte sich die Soziologie stärker mit der Künstlichen Intelligenz beschäftigen?
Hochschule
Technische Universität Dresden  (Institut für Soziologie)
Veranstaltung
Technikfolgenabschätzung
Note
2,3
Autor
Jahr
2008
Seiten
13
Katalognummer
V146749
ISBN (eBook)
9783640569861
ISBN (Buch)
9783656620495
Dateigröße
498 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Soziologie, Künstliche Intelligenz, KI, SF, Science Fiction, Stanislaw Lem, Dystopie, Utopie, Technikbegeisterung, Technikfurcht, Künstliches Leben, Verteilte Künstliche Intelligenz, VKI, Bewusstsein, Hans Moravec, Ray Kurzweil, Joseph Weizenbaum, Zielkritik, Wissenschaftskultur, Leitwissenschaft, Technikforlgenabschätzung, TA, Sozionik
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Paul Thierbach (Autor:in), 2008, Wird der Mensch zum Architekten seines eigenen Untergangs?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/146749

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