In Marsilius von Padua begegnet uns einer der provokativsten politischen Denker des Mittelalters. Sein Hauptwerk "Defensor Pacis" beendete er am 24. Juni 1324. In diesem Traktat entwickelt er vor dem Hintergrund einer arbeitsteiligen Gesellschaft eine politische Ordnung, die auf der Partizipationsbereitschaft und -fähigkeit der Bürger beruht und bis heute noch nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat.
Die Bürger diskutieren und beschliessen über die richtige Ordnung des Gemeinwesens: Sie entscheiden über die Gesetze nach denen sie leben wollen und wählen die Amtsträger, welche die Einhaltung der Gesetze überwachen sollen.
In der Volksversammlung haben die Bürger die Möglichkeit ihre Vielfältigen Meinungen auszutauschen und über die verschiedenen Vorschläge zu entscheiden. Ist der Konsens über ein Gesetz nicht mehr gewährleistet, so muss es von ihnen erneut diskutiert werden. Dadurch sind sie aufgefordert, ihre Entscheidungen oder die ihrer Vorfahren ständig zu überprüfen und gegebenenfalls zu ändern. Indem Marsilius die Meinungsvielfalt und den Meinungsaustausch der Bürger voraussetzt, wird das Gemeinwesen als Raum des Politischen etabliert.
Die ethische Rechtfertigung dieser Konzeption leitet Marsilius aus den Schriften des Aristoteles ab. In der Auseiandersetzung mit ihm kommt Marsilius zu dem Schluss, dass in einem Gemeinwesen immer ausreichend Bürger über jene Tugenden verfügen, die sie zu einer Entscheidung im Sinne des Allgemeinwohls kommen lassen. Im richtigen Handeln des Bürgers verwirklichen sich seine Tugenden.
Diese entspringen den individuellen Erfahrungen des einzelnen. Die Diskussion der Bürger über die Generationen hinweg dient der Potenzierung der Erfahrungen. Erst hierdurch kann die Vielfalt menschlichen Handelns in die Gesetzgebung einfließen.
Da kleinere Gruppen nicht über diesen Erfahrungsschatz verfügen und ihn auch nicht wie abstraktes Wissen erlernen können, spricht Marsilius ihnen die Fähigkeit ab, im Sinne des Gemeinwesens handeln zu können. Daher müssen sich alle Bürger an den politischen Entscheidungen beteiligen.
Diese Verpflichtung zur Partizipation leitet Marsilius aus dem Gedankengut der Römischen Republik ab. Im Folgenden wird der Einfluss verschiedener Tugendkonzeptionen von der Antike bis zum Hochmittelalter auf das politische Denken des Marsilius von Padua untersucht.
Inhaltsverzeichnis
- I. Über die Aktualität des Mittelalters - statt einer Einleitung
- I.1 Die Krise der Demokratie und die politische Tugend
- 1. Marsilius von Padua - Zeit, Leben und Werk
- 1.1 Zeit
- 1.2 Leben
- 1.3 Kleinere Schriften
- 2. Tugend und Politik im geistigen Umfeld des Marsilius
- 2.1 Arete und Praxis bei Aristoteles
- 2.1.1 Logos, Tugend und der Raum des Politischen bei Aristoteles
- 2.1.2 Die Tugendlehre des Aristoteles
- 2.1.3 Handeln und Herstellen - Praxis und Poiesis
- 2.1.4 Das politische Gemeinwesen
- 2.1.5 Aristoteles und der Raum des Politischen
- 2.2. 'Polis ohne Territorium'
- 2.2.1 Polis ohne Territorium
- 2.2.2 Das politische System der Athener
- 2.2.2.1 Die Verfassungsorgane
- 2.2.2.2 Partizipation und Repräsentation
- 2.2.2.3 Die Polis als Ort des miteinander Redens
- 2.2.2.4 Die Entstehung des politischen Bewußtseins
- 2.2.2.5 Neue Ordnung und überkommene Werte
- 2.3 Virtus - Die Tugend der Römischen Republik
- 2.3.1 Platonischer Idealstaat und Tugend
- 2.3.1.1 Platon und der konstruierbare Staat
- 2.3.1.2 Gemeinwesen und Tugend bei Platon
- 2.3.2 Roma aeterna und die Tugend
- 2.3.2.1 Die res publica: eine transpersonale Größe
- 2.3.2.2 Das Wesen der Virtus
- 2.3.2.3 'Roma aeterna' versus 'Polis ohne Territorium'
- 2.4 Augustinus und die Entpolitisierung der Tugend
- 2.4.1 civitas terrena und civitas dei
- 2.4.2 Civitas terrena und politische Gemeinschaft
- 2.4.3 Christliche Tugend und Politik bei Augustinus
- 2.5 Herrschaft und Tugend bei Thomas von Aquin
- 2.5.1 Der Mensch als animal sociale
- 2.5.2 Die Aufgaben der irdischen Herrschaft
- 2.5.3 Politische Klugheit, Widerstandsrecht und bonum commune
- 2.5.4 Thomas von Aquin und der Raum des Politischen
- 3. Tugend und Politik im Denken des Marsilius von Padua
- 3.1 Civitas, Regnum und Imperium
- 3.2 Ökonomie und Gesellschaft im
- 3.2.1 Die Stände als Garant des guten Lebens
- 3.2.2 Der regierende Stand
- 3.2.3 Die Einheitlichkeit des 'regierenden Standes'
- 3.2.4 Die Tugenden der 'pars principans'
- 3.2.5 Der Priesterstand als Beispiel für die Unterordnung der Stände unter den Willen des Gesetzgebers und des regierenden Standes
- 3.2.6 Die Stände und der Raum des Politischen
- 3.3 Die politische Konzeption des Defensor Pacis
- 3.3.1 Der Wille der Bürger als Ausgangspunkt der politschen Konzeption
- 3.3.2 Die Gesetzgebung als politische Handlung
- 3.3.3 Gesetzgebung und kollektive Erfahrung
- 3.3.4 Natürlicher Menschenverstand und abstraktes Wissen
- 3.3.5 Der Gesetzgeber und die Einsetzung der Regierenden
- 3.3.6 Die Kontrolle der Regierung durch die universitas civium
- 3.3.7 Menschlicher und göttlicher Wille
- 3.3.8 Die zwei Körper der universitas civium
- 3.4 Marsilius und die virtus
- Die Krise der Demokratie und der Rückgriff auf klassische Tugenden.
- Vergleichende Analyse der Tugendkonzepte bei Aristoteles, Platon, Augustinus und Thomas von Aquin.
- Marsilius von Paduas politische Philosophie und seine Konzeption der Tugend.
- Die Rolle der Gesetzgebung und der Bürgerbeteiligung in Marsilius' Denken.
- Relevanz von Marsilius' Ideen für gegenwärtige politische Herausforderungen.
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Arbeit untersucht die Aktualität mittelalterlicher politischer Philosophie im Kontext der gegenwärtigen Demokratie- und Vertrauenskrise. Sie fokussiert auf das Werk Marsilius von Paduas und dessen Auseinandersetzung mit dem Begriff der Tugend im politischen Kontext. Dabei werden die philosophischen Grundlagen in der Antike und im Mittelalter vergleichend analysiert, um Marsilius' Konzeption zu verstehen und deren Relevanz für heutige Debatten aufzuzeigen.
Zusammenfassung der Kapitel
I. Über die Aktualität des Mittelalters - statt einer Einleitung: Dieses einführende Kapitel beleuchtet die aktuelle Relevanz mittelalterlicher politischer Philosophie angesichts der gegenwärtigen Krise der Demokratie und des wachsenden Desinteresses an Politik. Es stellt die zentrale Forschungsfrage nach den ethischen Grundlagen demokratischer Systeme und der Rolle von politischen Tugenden in den Vordergrund, wobei der Fokus auf den italienischen Bürgerhumanismus und dessen Einfluss auf die republikanische Tugend in der Frühen Neuzeit gelegt wird. Der Autor skizziert die Problematik des modernen Vertrauensverlustes in Institutionen und stellt die Frage nach der Stabilität des Gemeinwesens in den Mittelpunkt, was im weiteren Verlauf des Textes durch die Analyse des Denkens bedeutender Philosophen vertieft wird.
1. Marsilius von Padua - Zeit, Leben und Werk: Dieses Kapitel bietet einen biographischen Überblick über Marsilius von Padua, seine Zeit, sein Leben und seine wichtigsten Schriften. Es liefert den notwendigen historischen Kontext für das Verständnis seines politischen Denkens und seiner Auseinandersetzung mit den politischen und philosophischen Strömungen seiner Epoche. Der Schwerpunkt liegt auf der Einordnung von Marsilius' Leben und Werk innerhalb der politischen und intellektuellen Entwicklungen des Mittelalters und die Vorbereitung auf die folgende vertiefte Analyse seiner politischen Philosophie.
2. Tugend und Politik im geistigen Umfeld des Marsilius: Dieses Kapitel analysiert die Konzepte von Tugend und Politik bei Aristoteles, Platon, im römischen Verständnis der *Virtus*, bei Augustinus und Thomas von Aquin. Es vergleicht die verschiedenen Ansätze und zeigt deren Entwicklung und Wandlung im Laufe der Geschichte auf. Dies schafft die Grundlage für das Verständnis der spezifischen Position von Marsilius und der Einordnung seiner Überlegungen in den Kontext der vorangehenden philosophischen Tradition. Der Abschnitt über die *Polis* im antiken Griechenland und das Konzept der *res publica* im römischen Kontext hebt die unterschiedlichen Ansätze politischer Ordnung hervor.
3. Tugend und Politik im Denken des Marsilius von Padua: Dieses Kapitel bildet den Kern der Arbeit. Es analysiert Marsilius' politische Philosophie und seine Konzeption von Tugend im Detail. Es untersucht seine Ideen zu *Civitas*, *Regnum* und *Imperium*, seine Gesellschaftsordnung mit den verschiedenen Ständen, und vor allem seine zentrale Schrift, den *Defensor Pacis*. Der Fokus liegt auf Marsilius' Verständnis von Gesetzgebung, Bürgerbeteiligung und der Rolle des menschlichen Willens in der politischen Ordnung. Es werden zentrale Aspekte wie der Wille der Bürger, die Gesetzgebung als politische Handlung, das Verhältnis zwischen menschlichem und göttlichem Willen und die Rolle der Kontrolle der Regierung durch die Bürgergemeinschaft eingehend untersucht und mit den vorangegangenen Kapiteln in Verbindung gebracht.
Schlüsselwörter
Marsilius von Padua, Defensor Pacis, politische Tugend, Demokratie, Gemeinwesen, Gesetzgebung, Bürgerbeteiligung, Aristoteles, Platon, Augustinus, Thomas von Aquin, Mittelalterliche politische Philosophie, Republik, Virtus, Politische Theorie.
Häufig gestellte Fragen (FAQ) zu: "Über die Aktualität des Mittelalters - statt einer Einleitung"
Was ist das zentrale Thema der Arbeit?
Die Arbeit untersucht die Aktualität mittelalterlicher politischer Philosophie, insbesondere des Werks Marsilius von Paduas, im Kontext der gegenwärtigen Demokratie- und Vertrauenskrise. Der Fokus liegt auf der Relevanz von Marsilius' Konzeption der Tugend für heutige politische Herausforderungen.
Welche Philosophen werden neben Marsilius von Padua behandelt?
Die Arbeit analysiert vergleichend die Tugend- und Politikkonzepte von Aristoteles, Platon, Augustinus und Thomas von Aquin, um Marsilius' Position einzuordnen und seine Neuheit herauszustellen.
Um was geht es in Kapitel 1 ("Marsilius von Padua - Zeit, Leben und Werk")?
Kapitel 1 bietet einen biographischen Überblick über Marsilius von Padua, seine Zeit und seine Schriften. Es liefert den historischen Kontext für das Verständnis seines politischen Denkens.
Was ist der Inhalt von Kapitel 2 ("Tugend und Politik im geistigen Umfeld des Marsilius")?
Kapitel 2 analysiert die Tugend- und Politikkonzepte der antiken und mittelalterlichen Philosophen (Aristoteles, Platon, Römer, Augustinus, Thomas von Aquin), um die Grundlage für das Verständnis von Marsilius' Position zu schaffen.
Worauf konzentriert sich Kapitel 3 ("Tugend und Politik im Denken des Marsilius von Padua")?
Kapitel 3 bildet den Kern der Arbeit und analysiert detailliert Marsilius' politische Philosophie und seine Konzeption von Tugend. Es untersucht seine Ideen zu *Civitas*, *Regnum*, *Imperium*, seiner Gesellschaftsordnung und seinem *Defensor Pacis*. Schwerpunkte sind Gesetzgebung, Bürgerbeteiligung und der menschliche Wille in der politischen Ordnung.
Welche Schlüsselkonzepte werden in der Arbeit behandelt?
Schlüsselkonzepte sind: Marsilius von Padua, *Defensor Pacis*, politische Tugend, Demokratie, Gemeinwesen, Gesetzgebung, Bürgerbeteiligung, Aristoteles, Platon, Augustinus, Thomas von Aquin, mittelalterliche politische Philosophie, Republik, *Virtus*, politische Theorie.
Welche aktuelle Problematik wird mit der Arbeit adressiert?
Die Arbeit adressiert die Krise der Demokratie und den Vertrauensverlust in Institutionen. Sie sucht nach ethischen Grundlagen demokratischer Systeme und der Rolle politischer Tugenden in der Gegenwart.
Welche konkreten Fragen werden in der Arbeit gestellt und beantwortet?
Die Arbeit befasst sich mit Fragen nach der Relevanz klassischer Tugenden in modernen Demokratien, vergleicht verschiedene Tugendkonzepte und analysiert Marsilius' Beitrag zur politischen Philosophie. Es geht um die Rolle der Gesetzgebung, die Bürgerbeteiligung und das Verhältnis von menschlichem und göttlichem Willen in der politischen Ordnung.
Für wen ist diese Arbeit bestimmt?
Diese Arbeit richtet sich an Wissenschaftler und Studierende, die sich mit mittelalterlicher politischer Philosophie, politischer Theorie und der Aktualität klassischer Denker befassen.
Wie ist der Aufbau des Inhaltsverzeichnisses?
Das Inhaltsverzeichnis ist hierarchisch aufgebaut und zeigt die detaillierte Gliederung der Arbeit, beginnend mit einer Einleitung über die Aktualität des Mittelalters, gefolgt von Kapiteln über Marsilius von Padua, den Vergleich mit anderen Philosophen und einer detaillierten Analyse von Marsilius' politischer Philosophie.
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- Dr. Phil Matthias Runge (Author), 1996, Marsilius von Padua - Politik und Tugend im politischen Denken des ausgehenden Hochmittelalters, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/147082