Familie in der heutigen Form ist keineswegs die Fortsetzung einer alten Tradition; vielmehr hat sie nur eine relativ kurze Geschichte, in deren Verlauf sie, bedingt durch gesellschaftliche Faktoren, ganz unterschiedliche Formen angenommen hat.
Aus wissenschaftlicher Sicht problematisch ist dabei die in öffentlicher Meinung ebenso wie auch in der Verfassung (Deutschland) herrschende Auffassung von der Gleichsetzung der beiden Institutionen Ehe und Familie; sind doch beides gänzlich unterschiedliche Beziehungsformen.
Der Begriff der Familie ist erst während der Renaissance entstanden und im Rahmen der Verrechtlichung des bürgerlichen Lebens in den wachsenden städtischen Kommunen zur zentralen Grundeinheit geworden. Zuvor sprach man nur von wirtschaftlichen Gemeinschaften und ausgehend von der bäuerlichen Agrarwirtschaft von der Institution des ganzen Hauses. Diese Institution umfaßte nicht nur die klassische Mehrgenerationen-Kernfamilie, sondern zB auch Mägde und Knechte oder im Handwerksbereich etwa Lehrlinge. Erst im 19. Jht. setzte sich ein Verständnis von Familie durch, das sich an der rechtlichen Institution der Ehe und der Liebesheirat orientierte.
Inhaltsverzeichnis
1. Familie im Wandel
1.1. Wendepunkte in der Geschichte der Familie
1.2. Stellung der Kinder
2. Familie - Zahlen und Fakten
2.1. Heiratsmüdigkeit
2.2. Scheidung
2.3. Suche nach Alternativen
2.4. Geburtenrückgang
2.5. Neue Lebensperspektiven von Frauen
3. Neue Familienformen (Auswahl)
3.1. Ein-Elter-Familie
3.2. Lebensabschnittspartnerschaften
3.3. Living-apart-together
3.4. Nesting-Modell
3.5. Fortsetzungsfamilien
4. Theoretische Zugänge
4.1. Psychoanalytische Konzepte
4.2. Familienstufentheorie
4.3. Familienstreß- und Familienkohäsionstheorien
5. Literatur
6. Anhang Präsentationsfolien
Anmerkung: Da es für das Problem der Gleichbehandlung weiblicher und männlicher Formen von Substantiven, Adjektiven und Pronomen bis heute keine stilistisch und ökonomisch überzeugende Lösung gibt, wurde nach 'alter' Konvention - jedoch im vollen Bewußtsein um diese Problematik - jeweils die männliche Form gewählt.
Familie, bezeichnet völkerpsychol.-ethnologisch das arbeitsteilige dauerhafte Zusammenleben von einer Frau mit ihren Kindern unter dem Schutz und mit der Hilfe eines Mannes. Sind mehrere Frauen vorhanden, so besitzt jede Frau ihre Feuerstelle, und ihre Kinder leben mit ihr (Thurnwald, 1932; zit. n. Dorsch, 1994, S.237).
1. Familie im Wandel
Familie in der heutigen Form ist keineswegs die Fortsetzung einer alten Tradition; vielmehr hat sie nur eine relativ kurze Geschichte, in deren Verlauf sie, bedingt durch gesellschaftliche Faktoren, ganz unterschiedliche Formen angenommen hat.
Aus wissenschaftlicher Sicht problematisch ist dabei die in öffentlicher Meinung ebenso wie auch in der Verfassung (Deutschland) herrschende Auffassung von der Gleichsetzung der beiden Institutionen Ehe und Familie; sind doch beides gänzlich unterschiedliche Beziehungsformen.
1.1. Wendepunkte in der Geschichte der Familie
Der Begriff der Familie ist erst während der Renaissance entstanden und im Rahmen der Verrechtlichung des bürgerlichen Lebens in den wachsenden städtischen Kommunen zur zentralen Grundeinheit geworden. -- Zuvor sprach man nur von wirtschaftlichen Gemeinschaften und ausgehend von der bäuerlichen Agrarwirtschaft von der Institution des ganzen Hauses. Diese Institution umfaßte nicht nur die klassische Mehrgenerationen-Kernfamilie, sondern zB auch Mägde und Knechte oder im Handwerksbereich etwa Lehrlinge. Erst im 19. Jht. setzte sich ein Verständnis von Familie durch, das sich an der rechtlichen Institution der Ehe und der Liebesheirat orientierte.
Exkurs: Die soziale Stellung der Frau im Wandel der Jahrhunderte
Betrachtet man das Zusammenleben von Mann und Frau - ob nun in Ehe oder als Familie - so müssen wir leider feststellen, daß sich "…die Voraussetzungen der traditionellen Ehe radikal von denen der modernen Ehe unterschieden. Anders als im 20. Jht. […] heirateten die Menschen früher aus 'familiären' Gründen: Ein Mann nahm eine Frau, damit sie ihm den Hof bewirtschaften half oder ihm die männlichen Nachkommen lieferte, denen er das Erbe hinterlassen konnte. Es gab wenig emotionalen Kontakt zwischen Mann und Frau, ja die Männer sahen in anderen Männern ihre wichtigsten 'geistigen Partner'; […] die Frau hatte den Status einer 'besseren Dienstmagd der Söhne und Knechte', um einen Beobachter bretonischer Verhältnisse [aus dem Jahre 1835, Anm.] zu zitieren" (Shorter, 1987, S.18).
Von Rechten der Frau war also überhaupt keine Rede. Vielmehr standen sie in völliger Abhängigkeit von ihrem Ehemann, weil ihre instabile Gesundheit (als Folge u.a. der Schwangerschaften) ihnen beständig im Wege war, sie viel zu oft ans Haus fesselte und von aktiver Teilnahme abhielt. Erst die Fortschritte der Medizin, die bessere Gesundheitsfürsorge und nicht zuletzt die Möglichkeiten der Konzeptionsregelung in unserem Jahrhundert leiteten eine Änderung der Repressionen ein und führten schließlich zusammen mit gesellschaftlichen Veränderungen (bei Männern UND Frauen) zur relativen Gleichstellung der Frau in unserem Jahrhundert.
Der Mythos Großfamilie
In der Diskussion des Wandels in der Familie taucht immer wieder die These auf, daß sich die Familien im Laufe der Geschichte immer weiter verkleinert habe; daß Kindern also beispielsweise wesentlich mehr Bezugspersonen zur Verfügung standen. Dagegen sprechen jedoch einige Punkte (vgl. Petzold, 1992, S.12f):
> Armut: Die Masse der Bevölkerung war sehr arm, die überwiegende Zahl der Bauern waren als Kleinpächter von einigen wenigen Adligen oder Großbauern abhängig; Großfamilien mit zahlreichen Verwandten gab es lediglich bei dieser reichen Feudalklasse.
> Grund & Boden: Die ökonomische Auszehrung der Bauern machte es unmöglich, eine Großfamilie überhaupt zu ernähren, denn dazu war das zur Verfügung stehende Land viel zu klein.
> Erbteilung: Durch das Erbrecht war die für eine Großfamilie schwierige Situation entstanden, daß die Landparzellen pro Familie immer kleiner wurden.
> Sozialmedizinische Aspekte: Niedrige Lebenserwartung, schlechte Ernährung zT schon im Säuglingsalter und der damalige Stand der Medizin führten dazu, daß das Netz der verwandtschaftlichen Beziehungen im Mittelalter nicht so groß war wie heute mystifizierend behauptet wird. Ein Kleinkind lernte damals nur selten seine Großeltern persönlich kennen.
> Migration & Kriege: Die zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen ebenso wie eine teilweise dadurch bedingte hohe Mobilität (Ostkolonisation, Völkerströme, Wanderungstraditionen einzelner Berufszweige,…)
Die hauptsächliche Veränderung im Laufe der Jahrhunderte bestand daher demnach nicht in einer Abnahme der verwandtschaftlichen Bindungen in der Familie, sondern:
C Veränderungen der Funktion der Familie
C Veränderung der psychologischen Charakteristika der Familie
Während der Funktionswandel ein vieldiskutiertes Thema in der Familiensoziologie ist, sind die Konsequenzen dieses Funktionswandels für die psychologischen Beziehungen in der Familie dagegen kaum noch erforscht worden.
Wendepunkt "Trennung von Arbeits- & Familienwelt"
Die wichtigste funktionale Veränderung betrifft die Frage, ob die Familie selbst ein Ort der Produktion gesellschaftlicher Güter ist. -- War doch im Mittelalter die Einheit des "ganzen Hauses" primär eine Produktionsgenossenschaft mit klar patriarchalisch orientierter hierarchischer Struktur. Dies änderte sich jedoch im Zuge der Industrialisierung ab dem beginnenden 19. Jht.. Es erfolgte eine Auslagerung der Arbeitssphäre aus der Familie, hatte doch der Arbeitsplatz zur Voraussetzung, daß der Arbeiter seine Arbeitszeit ausschließlich - dh 12 bis 14 Stunden am Tag) für den Betrieb in den Manufakturen oder in der Fabrik zur Verfügung stellte.
Mit der Entstehung von Manufakturen und Fabriken wurde die über Jahrhunderte hinweg bestehende Einheit von Leben und Arbeit im "ganzen Haus" zerstört. Die Arbeitskraft wurde aus dem Lebenszusammenhang herausgelöst und mußte sich voll in der neuen Institution industrieller Fabrikation verausgaben. Mit zahlreichen Konsequenzen, mußte doch nun die Hausfrau die Verantwortung für Hausarbeit und Kinderaufzucht übernehmen, also die Bedingungen für die Reproduktion der Familie sichern. Damit war die Basis für die noch heute verbreitete Doppelbelastung von arbeitender Frau und Mutter gelegt, mußten doch schon damals viele proletarische Frauen durch Heimarbeit hinzuverdienen.
In diesem gesellschaftlichen Rahmen entstanden in der Folge die polaren Geschlechtsrollenstereotype für den Ehemann und die Hausfrau - also der "Brötchenverdiener" und "Familienernährer" vs. der "Mutter in Küche und Haushalt".
Und es ist nicht unwahrscheinlich, daß heute - rund 200 Jahre später - die Veränderung der Arbeitswelt im Rahmen der Entwicklung neuer Kommunikationsmedien und fortschreitender Spezialisierung der Arbeitskräfte neuerlich Umbrüche in der Familienstruktur und Funktion der einzelnen Mitglieder mit sich bringen wird.
"Dabei ist es nicht nur die Frauenbewegung, die mit Vehemenz eine Auflösung der traditionellen Geschlechtsrollenstereotype fordert; [und in vielen Fällen leider eine einsame Ruferin in der Wüste bleibt] es sind vielmehr auch die Produktionsbedingungen selbst, die entscheidende Veränderungen in diesem Verhältnis der Arbeits- und Lebensbereiche zueinander bewirken könnte, zB durch neue Formen von Heimarbeit" (Petzold, 1992, S.15).
1.2. Stellung der Kinder
Auch die heute gängige Auffassung, die Familie sei auch deshalb wichtig, weil durch sie die Entwicklung der Kinder am besten gewährleistet sei, ist eine Sichtweise, die erst in unserem Jahrhundert größere Verbreitung gefunden hat. Lloyd deMause (1977) unterscheidet sechs Entwicklungsphasen der Geschichte der Kindheit, deren Charakteristika nachstehend angeführt seien:
- "Vergessene Kinder" - Antike bis 4. Jht.:
- Kinder ohne eigenen gesellschaftlichen Wert.
- Allgemeine soziale Akzeptanz des Kindermordes.
- "Klöster & Ammen" - 4. bis 13. Jht.:
- Unerwünschte Kinder in Klöster oder zu Säugeammen.
- Kinder als billige Arbeitskräfte [Diener -- Bergwerke].
- Höhere Schichten: Kindheit unter Bediensteten.
- Niedere Schichten: Kinder als Miternährer.
- "Erziehung vs. Aufzucht" - 14. bis 17. Jht.:
- Kategorie Kindheit entwickelt sich [vgl Parallelentwicklung Familie ].
- Kinder als eigenständige Personen "entdeckt".
- ABER: Mittelalterliche Praktiken immer noch verbreitet.
- "Lebensperiode Kindheit" - 18. Jht.:
- Kindzentriertes Bemühen um ein Verstehen der speziell kindlichen Eigen- schaften und Beweggründe für sein Handeln.
- Neues gesellschaftliches Stereotyp Kind.
- Abkehr von der "kleinen Erwachsenen"-Perspektive.
- "Sozialisation als zentrales Thema" - 19. bis Mitte des 20. Jht.:
- Entstehung der besonderen Wissenschaften, die sich dem Kind widmen [Pädagogik, Kinderpsychologie, Psychoanalyse…].
- (Aus-)Bildung werden gesellschaftlich neu gestaltet.
- Sozialisation wird zentrales Thema gesellschaftlicher Aufgaben.
- Kinder müssen die komplizierte Gesellschaft kennenlernen und in sie ein gegliedert werden, um existieren zu können.
- "Unterstützung kindlicher Entwicklung" - ab Mitte des 20. Jht.:
- Kinder sollen in der natürlichen Entwicklung zur individuellen Persönlichkeit von den Erwachsenen nur unterstützt werden.
- Gleichberechtigtes Verhältnis Eltern-Kind [Machtgefälle gering].
- Disziplinierende Maßnahmen behindern die Entwicklung.
- JEDOCH: Kinderhandel / Kindesmißhandlungen / Sex. Mißbrauch.
Die Geschichte der Kindheit ist also mit Blick auf die Familie dadurch gekennzeichnet, daß die Familie - und dabei besonders die Mutter - immer mehr für das Kind zu leisten hat. Die Erziehung des Kindes wird zu einer immer schwierigeren Aufgabe. Dies führt zum gesellschaftlichen Paradoxon, daß der Wert von Kindern auf diesem Hintergrund zwar gestiegen ist, gleichzeitig die 'Aufzucht' vieler Kinder für viele Eltern damit zum unerschwinglichen Luxus wird. Stehen doch viele Familien nach der Geburt von Kindern vor der Situation, am allgemeinen Zuwachs des gesellschaftlichen Wohlstandes - einem der Grundmerkmale des Industrialismus - persönlich nicht mehr teilhaben zu können, sondern sozioökonomisch absteigen.
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