„Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen uns von uns ab und
stellen uns fremd. ... Allmählich, über Monate hin, stellte sich das Dilemma heraus: sprachlos
bleiben oder in der dritten Person zu erzählen, das scheint zur Wahl zu stehen“.1
Was die DDR-Autorin Christa Wolf anlässlich ihrer Büchnerpreisrede 1980 wohl in erster
Linie auf die unmittelbare deutsch-deutsche Vergangenheit und deren literarische Verarbeitung
bezogen hat, kann ohne weiteres auch für die Literatur gelten, die sich mit dem dunkelsten
Kapitel deutscher Geschichte auseinander zu setzen versucht: die Literatur des Holocaust,
die Literatur nach Auschwitz. Nicht einmal 60 Jahre sind seit dem Massenmord an etwa sechs
Millionen Juden vergangen. Das Vergangene ist also längst nicht tot. Um so weniger für diejenigen,
die die Zeit des Nationalsozialismus unmittelbar miterlebt haben und anschließend
vor der Entscheidung standen: sprachlos bleiben, oder das Schweigen über die Greueltaten
und das von ihnen evozierte Leiden brechen.
Im Folgenden sollen nun zwei Autoren betrachtet werden, die sich für die zweite Wahlmöglichkeit
entschieden haben: Nelly Sachs und Jurek Becker, die keine „geistige Kapitulation
vor der moralischen Ungeheuerlichkeit“2 gezeigt, sondern einen Weg der Artikulation gefunden
haben. Einen Weg der Artikulation, den beide Autoren auf unterschiedliche Weise beschreiten:
Nelly Sachs wählt die Lyrik, Jurek Becker die Epik.
Ziel dieser Arbeit ist es nun, diese unterschiedlichen Darstellungsformen, ihre Intention und
Wirkung im Hinblick auf den Holocaust zu vergleichen um Unterschiede und Gemeinsamkeiten
bei der Bearbeitung dieses schwierigen Themas zu zeigen.
Um die Fülle an möglichen Interpretationsansätzen einzuschränken, soll das Augenmerk auf
die Darstellung der Figur des Jakob bei beiden Autoren gerichtet werden. Jurek Beckers Roman
kreist, wie schon im Titel angekündigt, um einen Lügner namens Jakob. Bei Nelly Sachs
finden sich die Gedichte Jakob3, Lange sichelte Jakob4 sowie Und aus der dunklen Glut ward
Jakob angeschlagen 5 mit dem gleichnamigen Protagonisten, wobei für die Analyse vor allem
die beiden Erstgenannten herangezogen werden sollen. Doch warum Jakob?
1 Christa Wolf zitiert in: Jung (1998), S. 2. [...]
2 Kröhle (1989), S. 53.
3 Siehe Sachs (1988), S. 90.
4 Siehe Sachs (1988), S. 290.
5 Siehe Sachs (1988), S. 213.
Inhaltsverzeichnis
- 1. EINLEITUNG.
- 2. NELLY SACHS.
- 2.1 Einordnung in den Gesamtzusammenhang........
- 2.2 Formanalyse..........\n
- 2.2.1 Symmetrie und Parallelismus
- 2.2.2 Aufbruch der klassischen Strophenform .....
- 2.3 Motivbestand: Dominanz von Geburts- und Astralmotivik
- 2.4 Interpretation der Gedichte
- 2.4.1 Gedicht I: Jakob als pars pro toto für das Leiden der Menschheit.………………………..\n
- 2.4.1.1 Leiden, Tod, Erinnerung
- 2.4.1.2 Jakob als Vorkämpfer
- 2.4.1.3 Seligkeit und Verrenkung.....
- 2.4.2 Gedicht II: Jakob als Richter über Leben und Tod
- 2.4.2.1 Antithetik von Leben und Tod...........
- 2.4.2.2 Anspielung auf die Rolle der Kunst...\n
- 2.4.2.3 Die Feuersymbolik.........
- 3. JUREK BECKER
- 3.1 Der Baum als Leitmotiv: das Prinzip Hoffnung..\n
- 3.1.1 Natürliche Ordnung kontra Ghettoordnung..\n
- 3.1.2 Rolle der Bäume im Erzähldiskurs
- 3.2 Intertextualität im Roman: Bezug zur Bibel
- 3.2.1 Biblisch konnotierte Namensgebung
- 3.2.2 Jakobs Kampf und Berufung ......
- 3.2.3 Anspielung auf die Bücher Genesis und Hiob………………………..\n
- 3.3 Erzählform: zwischen Moderne und Tradition
- 3.3.1 Absage an den sozialistischen Realismus...\n
- 3.3.2 Nähe zur jüdische Erzähltradition........\n
- 4. SACHS UND BECKER IM VERGLEICH
- 4.1 Ausgangsbasis: Biografie und Judentum…………………………\n
- 4.2 Unterschiede in der Verwendung jüdischer Symbole und Motive
- 4.2.1 Typisierung Jakobs.............
- 4.2.2 Die messianische Idee.
- 4.3 Aufnahme durch Kritik und Rezeption...........
- 4.3.1 Nelly Sachs, die Ikone jüdischer Dichtung
- 4.3.2 Jurek Becker, der traurige Humorist .......
- 5. RESÜMEE: SCHREIBEN NACH AUSCHWITZ!.
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit setzt sich zum Ziel, die unterschiedlichen Darstellungsformen der Holocaustliteratur von Nelly Sachs und Jurek Becker zu vergleichen. Dabei liegt der Fokus auf der Figur des Jakob und ihrer Bedeutung in den jeweiligen Werken. Der Vergleich soll Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Bearbeitung des Themas Holocaust aufzeigen und die Intention und Wirkung der beiden Autoren beleuchten.
- Darstellungsformen der Holocaustliteratur: Lyrik bei Nelly Sachs, Epik bei Jurek Becker
- Figur des Jakob als zentrales Element in beiden Werken
- Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Interpretation des Holocaust durch die beiden Autoren
- Intention und Wirkung der literarischen Werke im Kontext des Holocaust
- Rezeption und Kritik der beiden Autoren
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung befasst sich mit der Frage der Erzählbarkeit des Holocaust und stellt den Kontext der Arbeit vor. Kapitel 2 analysiert die Lyrik von Nelly Sachs, insbesondere die Gedichte, in denen Jakob als Protagonist auftritt. Kapitel 3 beleuchtet die Figur des Jakob in Jurek Beckers Roman. Die Analyse fokussiert auf die Rolle des Baumes als Leitmotiv, die Intertextualität im Roman und die Erzählform. In Kapitel 4 werden die beiden Autoren und ihre Werke im Vergleich betrachtet. Dabei werden insbesondere die Unterschiede in der Verwendung jüdischer Symbole und Motive beleuchtet.
Schlüsselwörter
Die Arbeit beschäftigt sich mit der Thematik des Holocaust und befasst sich mit den Werken von Nelly Sachs und Jurek Becker. Zentrale Schlüsselwörter sind Holocaustliteratur, Lyrik, Epik, Jakob, Symbolismus, Judentum, Intertextualität, Erzählform, Rezeption und Kritik.
- Citation du texte
- Marion Kaufmann (Auteur), 2001, Von der Erzählbarkeit des Holocaust. Nelly Sachs und Jurek Becker im Vergleich, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14788