Unter welchen Bedingungen tendieren türkische Migrantinnen und Migranten und ihre Nachkommen in Deutschland dazu, sich zu assimilieren, zu integrieren oder zu segregieren?

Erklärungsversuche zur Entwicklung sozialer Identitäten anhand des „Social Identity Approach“


Magisterarbeit, 2009

83 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Soziostrukturelle Lebenslage von Turkinnen und Turken in Deutschland
2.1 Familiare Situation und Haushalt
2.2 Bildungsbeteiligung
2.3 Erwerbstatigkeit und Einkommen
2.4 Wohnsituation

3 Begriffliche Abgrenzung - Assimilation- Integration- Segregation...

4 Social Identity Approach
4.1 Theorie der sozialen Identitat
4.1.1 V orannahmen
4.1.2 Theoretische Grundkonzepte
4.1.2.1 Soziale Kategorisierung
4.1.2.2 Soziale Identitat
4.1.2.3 Soziale Vergleichsprozesse
4.1.2.4 Positive Distinktheit
4.1.3 Erlangung und Erhaltung positiver sozialer Identitat
4.1.3.1 Individuelle Mobilitat
4.1.3.2 Sozialer Wettbewerb
4.1.3.3 Soziale Kreativitat
4.2 Selbstkategorisierungstheorie
4.2.1 Personale und soziale Identitat
4.2.2 Selbstkategorisierung und Depersonalisierung
4.2.3 Salienz von Selbstkategorisierungen

5 Soziale Identitaten von Turkinnen und Turken in Deutschland
5.1 Bedingungen fur Assimilation
5.1.1 Legitimitat, Stabilitat und Durchlassigkeit
5.1.2 Selbstkategorisierung und Kontext
5.1.3 Individuelle Mobilitat
5.1.4 Verhalten der Mehrheitsgesellschaft
5.2 Bedingungen fur Segregation
5.2.1 Legitimitat, Stabilitat und Durchlassigkeit
5.2.2 Selbstkategorisierung und Kontext
5.2.3 Sozialer Wettbewerb und Ruckzug in die eigene Ethnie
5.2.4 Verhalten der Mehrheitsgesellschaft
5.3 Bedingungen fur Integration
5.3.1 Legitimitat, Stabilitat und Durchlas sigkeit
5.3.2 Selbstkategorisierung und Kontext
5.3.3 Sozialer Wandel, soziale Kreativitat und duale Identitat
5.3.4 Verhalten der Mehrheitsgesellschaft

6 Grenzen und kritische Zusammenfassung

7 Fazit

Literaturverzeichnis

Abstract

Abbildungen

Abbildung 1: Akkulturationsmodell nach Berry (Bourhis, Moise, Perreault & Senecal, 1997, S.90, Anderung v. Verf.)

Abbildung 2: Soziale Identitat als vermittelnder sozialpsychologischer Prozess (Simon & Trotschel, 2006, S.691)

1 Einleitung

In Deutschland leben derzeit rund 2,6 Millionen Menschen mit turkischen Wurzeln. Die ersten turkischen Arbeitsmigrantinnen und -migranten sind be- reits Ende der 1950er Jahre eingewandert und leben nun schon seit Jahrzehnten in der BRD. Uber ein Drittel verfugt selbst uber keine eigene Migrationserfah- rung, ist also bereits in Deutschland geboren und fast ein Viertel besitzt die deutsche Staatsangehorigkeit. Trotzdem haben Menschen mit turkischem Migrationshintergrund in Deutschland einen deutlich inferioren Status inne und konnen als Angehorige einer Minderheit bezeichnet werden (vgl. Fischer & Kneher, 2003). In der deutschen Offentlichkeit wird ihre Situation und der Grad ihrer Integration in die deutsche Gesellschaft haufig diskutiert. Diese Diskussion wird allerdings meistens eher unsachlich, wenig fundiert und popu- listisch zwischen den Polen der Assimilationsforderung einerseits und dem Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit andererseits gefuhrt.

In der vorliegenden Arbeit soll der Situation der turkischen Einwanderer und ihrer Nachkommen in Deutschland aus sozialpsychologischer Sicht nachge- gangen werden. Die Beziehung zwischen Deutschen und Turken soll dabei als Intergruppenbeziehung betrachtet werden, wobei die Deutschen die statushohe- re Mehrheit und die Turken die statusniedrigere Minderheit darstellen. Es wer- den Bedingungen herausgearbeitet, unter denen sich die Menschen mit turki- schem Migrationshintergrund in Deutschland eher assimilieren, segregieren oder integrieren. Dazu wird der „Social Identity Approach“, ein sozialpsycho­logischer Theorieansatz, der sich aus der „Theorie der sozialen Identitat“ und der „Selbstkategorisierungstheorie“ zusammensetzt, zu Grunde gelegt und als Erklarungsrahmen herangezogen. Insofern treten z.B. rechtliche, politische oder wirtschaftliche Aspekte der Diskussion eher in den Hintergrund, auch wenn sie z. T. nicht vollig auBer Acht gelassen werden konnen.

Um zunachst einen Eindruck von der soziostrukturellen Lage der turkisch- stammigen Menschen in der BRD zu bekommen, vermittelt Kapitel 2 anhand von Statistiken und empirischen Untersuchungen die grundlegenden Daten und Fakten zu ihrer Lebenssituation auch im Verhaltnis zur Situation der deutschen Bevolkerung.

In Kapitel 3 werden die Begriffe „Assimilation“, „Segregation“ und „Integration“ fur die vorliegende Arbeit geklart und definiert, da sie in der Li- teratur nicht immer einheitlich verwendet werden.

Die theoretischen Grundlagen des sozialen Identitatsansatzes werden in Kapitel 4 dargestellt, um im Anschluss die soziostrukturelle Situation mit der Theorie und verschiedenen wissenschaftlichen Befunden zu verknupfen (Kapitel 5). Dabei werden jeweils fur Assimilation, Segregation und Integration die Zu- wandererperspektive, die zeitlichen und situativen Kontextbedingungen und die Perspektive der Mehrheitsgesellschaft beleuchtet und so die Bedingungen fur die verschiedenen Akkulturationsorientierungen aus sozialpsychologischer Sicht herausgearbeitet und erklart. Die daraus abgeleiteten Erkenntnisse und Empfehlungen werden in Kapitel 6 kritisch zusammengefasst und die Grenzen der Erklarungskraft uber den sozialpsychologischen Zugang verdeutlicht. Die Arbeit schlieBt mit einem kurzen Resumee.

2 Soziostrukturelle Lebenslage von Turkinnen und Turken in Deutschland

In diesem Kapitel soll die Lebenssituation der Turkinnen und Turken in Deutschland anhand statistischer Daten und empirischer Untersuchungen dar- gestellt und in Relation zur Situation der Deutschen ohne Migrationshin- tergrund gesetzt werden. Dadurch soll zum einen deutlich werden, wie ahnlich oder verschieden die Lebensweisen (noch) sind und zum anderen kann auf problematische Strukturen der Benachteiligung aufmerksam gemacht werden. Bei dem Begriff des Migranten bzw. Migrationshintergrundes wird der Defini­tion des Mikrozensus gefolgt (Statistisches Bundesamt, 2009). D.h. Menschen mit Migrationshintergrund sind „alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten, sowie alle in Deutschland gebo- renen Auslander und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumin- dest einem zugewanderten oder als Auslander in Deutschland geborenen El- ternteil“ (Statistisches Bundesamt, 2009, S. 6).

Mit der „ersten Generation44 ist insofern nicht zwangslaufig ein alterer Einwan- derer gemeint, sondern die Migranten mit tatsachlicher Migrationserfahrung. Auch heute wandern so gesehen taglich turkische Menschen der ersten Ein- wanderergeneration in die BRD ein, z.B. Ehepartner, die in der Turkei geboren wurden und von in Deutschland lebenden Angehorigen nachgeholt werden.

In Deutschland leben demnach 1,5 Millionen Einwanderer der ersten Generation, davon haben rund 1,2 Millionen die turkische Staatsangehorigkeit und etwa 330 000 sind eingeburgerte Deutsche. Gut eine Millionen turkisch- stammiger Menschen haben keine eigene Migrationserfahrung, d.h. sie sind bereits in der BRD geboren (zweite und dritte Generation). Davon sind ca.

680 000 turkische Staatsburger, 208 000 sind Deutsche durch Einburgerung und der Rest ist deutsch, weil er oder sie das in Deutschland geborene Kind von bereits eingeburgerten Eltern ist (Statistisches Bundesamt, 2009).

2.1 Familiare Situation und Haushalt

Turkische Migrantinnen und Migranten und ihre Nachkommen sind im Durch- schnitt junger als Deutsche ohne Migrationhintergrund (33,1 Jahre gegenuber 44,9 Jahre) und haben mehr Kinder (2,1 statt 1,6). Sie sind zu fast 40% noch ledig, annahernd 40% sind mit einem Auslander oder einer Auslanderin verhei- ratet und wenn man diejenigen dazu rechnet, die mit einer Deutschen oder ei- nem Deutschen mit Migrationshintergrund verheiratet sind, dann ergibt das uber 55% (Statistisches Bundesamt, 2009). Zwar ist es im Mikrozensus nicht explizit ausgewiesen, aber vermutlich handelt es sich hier wohl um innerethni- sche Ehen (vgl. Schroedter, 2006). Nur 75 000, also etwa 3% aller Frauen und Manner mit turkischem Migrationshintergrund sind mit einer Deutschen oder einem Deutschen ohne Migrationshintergrund verheiratet. Schroedter (2006) hat in ihrer Diplomarbeit binationale Ehen in Deutschland und ihre Entwick- lung seit den 1960er Jahren untersucht und festgestellt, dass Turkinnen und Turken im Gegensatz zu allen anderen in Deutschland haufiger vertretenen Nationalitaten (wie z.B. Italiener) auch nach Jahrzehnten eher in der eigenen Ethnie verbleiben. Erst mit einem deutlichen Anstieg des Bildungsniveaus stei- gen die Ehen mit deutschen Partnerinnen und Partnern. Wahrend innerethni- sche Ehen haufig als Indikator fur mangelnde Integration betrachtet werden, geht Sackmann (2004, S.129) davon aus, dass es sich im] Falle der turkisch- stammigen Bevolkerung eher um Mechanismen des Heiratsmarktes und um die religiose Zugehorigkeit handelt. Muslime mochten Muslime heiraten, weil sie befurchten, dass verschiedene Religionszugehorigkeiten die Ehe belasten. Da in Deutschland die meisten Muslime turkisch sind, verbleiben sie mit ihrer Ehepartnerwahl sozusagen automatisch in ihrer Herkunftsnation.

Die meisten turkischstammigen Haushalte sind 3- oder Mehr- Personen- Haushalte, wahrend bei den Deutschen ohne Migrationshintergrund die 1- und 2-Personen-Haushalte uberwiegen (Statistisches Bundesamt, 2009). Im Durch- schnitt bestand 2006 ein Haushalt mit turkischem Migrationshintergrund in NRW aus 3,9 Personen (Institut fur Landes- und Stadtentwicklungsforschung, 2008, S.14). Die turkischen Haushalte sind, was die Migrationserfahrungen und Staatsangehorigkeiten ihrer Mitglieder angeht, stark durchmischt. Das ist aber nicht unbedingt gleichbedeutend mit ethnischer Durchmischung, da bei- spielsweise die Kinder deutsche Staatsangehorige ohne eigene Migrationser- fahrung sein konnen, wahrend die Eltern turkische Einwanderer der ersten Ge­neration sind.

Der Haupteinkommensbezieher ist sowohl im Migranten- als auch im deut­schen Haushalt ohne Migrationshintergrund in den meisten Fallen der Mann. Hier gibt es prozentual wenig Unterschiede. Von ca. 20 Millionen Hauptein- kommensbeziehern bei den Deutschen ohne Migrationshintergrund gegenuber 760 000 mit turkischem Migrationshintergrund sind bei den Deutschen 79% mannlich und 21% weiblich und bei den turkischen Haushalten 81% mannlich und 19% weiblich (Statistisches Bundesamt, 2009). Die Erwerbstatigkeit der Frauen spielt also offenbar unabhangig von der Ethnie oder Kultur in beiden Fallen eine eher untergeordnete Rolle, zumindest fur das Haupteinkommen des Haushalts.

Bezuglich der Lebensformen unterscheiden sich Deutsche ohne Migrationshin- tergrund von den Frauen und Mannern mit turkischem Migrationshintergrund. In den turkischen Familien gibt es prozentual fast doppelt so viele Ehepaare (39%) wie in den deutschen Familien (20%). Gleichzeitig leben deutlich weni- ger turkische Frauen und Manner allein (6,5%), wahrend dies bei den Deut- schen ohne Migrationshintergrund mit fast 20% eine beliebte Lebensform dar- stellt. Turkische Ehepaare ohne Kinder gibt es fast nur halb so oft wie deutsche (ca.14% gegenuber rund 26%). Recht ahnliche Werte ergeben sich bei den Al- leinerziehenden (etwa 3% bei beiden), wobei bei alleinerziehenden Frauen (oder z.T. auch Mannern) mit turkischem Migrationshintergrund im Schnitt mehr Kinder leben (1,75) als bei alleinerziehenden Deutschen (1,35), was sich mit der grundsatzlich niedrigeren Kinderzahl bei deutschen Frauen erklaren lasst (Statistisches Bundesamt, 2009).

Insgesamt kann zunachst festgehalten werden, dass sich (bislang) bei Frauen und Mannern mit turkischem Migrationshintergrund weniger pluralistische Lebensformen und eher konventionelle Familienstrukturen darstellen. Dies wurde z.B. von Heitmeyer, Muller und Schroder (1997) in ihrer Studie uber turkische Jugendliche in Deutschland festgestellt. „Betrachtet man demgegen- uber die Struktur turkischer Familien in Deutschland, so zeigen sich auBerlich stabile und weitgehend ,uniforme‘ traditionelle Familienkonstellationen“ (S.68). Allerdings melden die Autoren auch Zweifel an der „vermeintlichen Idylle“ an, da es in turkischen Familien neben okonomischen Problemen auch erhebliche kulturelle Konflikte zu geben scheint. In etlichen Bereichen lassen sich aber auch relativ wenig Unterschiede zwischen Deutschen und turkischen Zuwanderern und ihren Nachkommen feststellen, z.B. hinsichtlich generations- spezifischer Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Kindern (vgl. Heit­meyer et al., 1997) oder der Rolle der Frau am Haupteinkommen der Familie.

2.2 Bildungsbeteiligung

Die Bildungsabschlusse turkischer Migrantinnen und Migranten und ihrer Nachkommen in Deutschland haben sich zwar in den vergangenen Jahren ab­solut gesehen verbessert, jedoch besteht relational zur deutschen Bevolkerung nach wie vor ein deutliches Ungleichgewicht zu Ungunsten der Zuwanderer. Dieses Missverhaltnis wird verschiedentlich dem deutschen Schulsystem und seinen mangelhaften integrativen und fordernden Fahigkeiten zugeschrieben (vgl. z.B. Filsinger, 2008).

Wahrend etwa 82% der Deutschen ohne Migrationshintergrund uber einen Schulabschluss verfugen, trifft dies nur auf rund 54% der Frauen und Manner mit turkischem Migrationshintergrund zu. Dieser Umstand ist vermutlich zum Teil durch die erste Einwanderergeneration zu begrunden, die ihre Schulzeit in der Turkei verbracht hat, wo erst 1998 die 5jahrige Grundschulzeit, die auch nicht flachendeckend durchgesetzt wurde, auf acht Jahre erhoht wurde (vgl. Fischer & Kneher, 2003). Die Tatsache, dass unter denen im Mikrozensus aus- gewiesenen turkischen Migrantinnen und Migranten ohne Schulabschluss ein groBer Teil zu den Einwanderern der ersten Generation gehort, unterstutzt die- se Annahme. Allerdings verlasst jedes Jahr eine hohe Anzahl von Schulern das deutsche Pflichtschulsystem ohne qualifizierenden Schulabschluss, wobei unter ihnen die Jugendlichen mit Migrationshintergrund deutlich uberreprasentiert sind (vgl. z.B. Baethge, Solga & Wieck, 2007; Bundesministerium fur Bildung und Forschung, 2003).

Fast 22% der turkischen Migrantinnen und Migranten haben endgultig keinen Schulabschluss und befinden sich auch nicht mehr in der schulischen Ausbil- dung. Dies trifft demgegenuber nur auf rund 1,4% der Deutschen ohne Migra- tionshintergrund zu. Bezuglich der Hauptschulabschlusse zeigen sich auf bei- den Seiten ahnliche Zahlen (etwa 36% bei den Deutschen, 35% bei den Tur- kinnen und Turken). Allerdings haben in Deutschland bis zur groBen Bildungs- reform in den 1960ern uber 60% aller Schuler die Volksschule besucht und damit den heute vergleichbaren Hauptschulabschluss erworben. Seitdem ist die Bildungsbeteiligung unter der deutschen Bevolkerung stetig gestiegen, wah- rend Jugendliche mit Migrationshintergrund an Hauptschulen heute deutlich uberreprasentiert sind (vgl. Baethge et al., 2007). Die ahnlichen Prozentzahlen bedeuten insofern eigentlich, dass vor allem junge turkische Frauen und Man­ner heute nur uber einen Hauptschulabschluss verfugen, wahrend ihre deut- schen Altersgenossen hohere Schulabschlusse erworben haben. Dies wird auch deutlich anhand der Abiturientenzahlen. Wahrend ca. 16% der Deutschen ohne Migrationshintergrund uber die allgemeine Hochschulreife verfugen, trifft das nur auf gut 6% aller Frauen und Manner mit turkischem Migrationshintergrund zu (Statistisches Bundesamt, 2009).

Ahnliche Gefalle finden sich im Bereich der beruflichen Bildung. Uber 66% der Deutschen ohne Migrationshintergrund haben einen beruflichen Bildungs- abschluss erworben, aber nur 22% der Frauen und Manner mit turkischem Migrationshintergrund. Auch dies lasst sich zum Teil mit dem hohen Einwan- derungsalter und der fehlenden Anerkennung auslandischer Abschlusse in Deutschland erklaren. Allerdings gilt auch im Bereich der beruflichen Bildung, dass Benachteiligungen von Migranten nachgewiesen werden und Jugendliche mit Migrationshintergrund im Ubergangssystem und in der Erwerbslosigkeit uber- und an Universitaten und qualifizierenden Ausbildungsgangen unterreprasentiert sind (vgl. Baethge et al., 2007).

Auch die Zahlen des Mikrozensus stutzen diese Befunde. Nur ca. 2,7% der Frauen und Manner mit turkischem Migrationshintergrund verfugen uber einen Hochschul- oder Fachhochschulabschluss, demgegenuber sind es bei den Deut- schen ohne Migrationshintergrund fast 11%. Bei den Personen ohne berufli- chen Abschluss ist es noch deutlicher: 53% der turkischen Migrantinnen und Migranten und ihrer Kinder verfugen uber keinerlei beruflichen Bildungsab- schluss, zumindest uber keinen in Deutschland anerkannten, dagegen sind es bei den Deutschen ohne Migrationshintergrund nur 18%. Allerdings handelt es sich bei einem Funftel von den 53% um Menschen mit turkischem Migrations­hintergrund, aber ohne eigene Migrationserfahrung, d.h. es geht wahrscheinlich um Einwandererkinder bzw. -enkel und damit um eher jungere Menschen, die ihre Berufsausbildung unter Umstanden noch abschlieBen konnten (Statisti- sches Bundesamt, 2009).

Insgesamt stellen sich also die Voraussetzungen zur gesellschaftlichen Teilha- be fur Frauen und Manner mit turkischem Migrationshintergrund deutlich schlechter dar. Besonders bei sich verscharfenden wirtschaftlichen Bedingun- gen und steigenden Arbeitslosenzahlen wird Bildung und berufliche Qualifika- tion in Deutschland immer unerlasslicher, um am Erwerbsleben und damit letztlich auch an der Gesellschaft partizipieren zu konnen. Heitmeyer et al. (1997) sprechen in ihrer Studie uber turkische Jugendliche in Deutschland so- gar von „Modernisierungsverlierern“, da die Verteilung der Statuspositionen immer enger an hohere Bildungsqualifikationen gebunden ist (S.44).

2.3 Erwerbstatigkeit und Einkommen

Entsprechend dem durchschnittlich niedrigeren Ausbildungsniveau turkischer Migrantinnen und Migranten ist die Erwerbsbeteiligung und entsprechend das Haushaltseinkommen niedriger als beim durchschnittlichen deutschen Haushalt ohne Migrationshintergrund. Turkische Haushalte sind mit ihrem Einkommen eher in den unteren und mittleren Einkommenssegmenten angesiedelt. Wah- rend z.B. uber 28% aller deutschen Haushalte ohne Migrationshintergrund mehr als 2 600 Euro im Monat verdienen, sind es nur ca. 17% der turkischen Haushalte. Hinzu kommt, dass in einem deutschen Haushalt ohne Migrations- hintergrund durchschnittlich weniger Personen leben als in einem Haushalt mit turkischem Migrationshintergrund (Statistisches Bundesamt, 2009).

Der Lebensunterhalt der Haushalte mit turkischem Migrationshintergrund setzt sich, vermutlich bedingt durch das niedrigere Ausbildungsniveau, aber auch das durchschnittlich niedrigere Alter der Haushaltsmitglieder, anders zusam- men als das der deutschen Haushalte ohne Migrationshintergrund. Turkische Migranten und Migrantinnen und ihre Nachkommen beziehen ihren Lebensun- terhalt in Relation zu Deutschstammigen prozentual weniger durch Erwerbsta- tigkeit oder Rente bzw. Pension und deutlich mehr durch Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe oder durch die Unterstutzung durch Angehorige. Hierfur sind unter anderem wahrscheinlich die hoheren Kinderzahlen verantwortlich, da die hohere Anzahl jungerer Kinder in der Statistik mehr Personen ergibt, die von der Unterstutzung der Angehorigen leben. Die Studie von JanBen und Polat (2005) zeigt aber auch, dass turkische Familien haufig als gegenseitiger Schutz u.a. in finanziellen Krisen fungieren.

Die Erwerbsbeteiligung ist unter turkischen Migrantinnen und Migranten ge- genuber Deutschen ohne Migrationshintergrund prozentual geringer. Von rund 1,2 Millionen turkischen erwerbsfahigen Personen sind 81% erwerbstatig und 19% erwerbslos, wahrend von ca. 34,4 Millionen deutschen Erwerbsfahigen Personen fast 93% erwerbstatig sind und nur etwa 7% nicht (Statistisches Bun- desamt, 2009). Diese Zahlen sind u.U. kritisch zu beurteilen, weil wahrschein­lich etliche Arbeitssuchende (v.a. Frauen) nicht erwerbslos gemeldet sind, so- wie moglicherweise eine nicht unerhebliche Zahl Erwerbstatiger keiner offi- ziell erfassten Tatigkeit nachgeht (vgl. Mohr, 1995). Andererseits ist aufgrund dieser Statistik sowie der bereits betrachteten Zusammenhange die Annahme zulassig, dass turkische Migranten und Migrantinnen, auch abgesehen von so- zialer und institutioneller Diskriminierung, einfach aufgrund ihrer schlechteren Bildungs- und Berufsabschlusse schlechter Zugang zu Arbeitsmarkt und Er- werbstatigkeit finden, v.a. bei zunehmender De-Industrialisierung in Deutsch­land.

Die Erwerbstatigen mit turkischen Wurzeln sind, was die Stellung im Beruf angeht, statistisch gesehen eher schlechter gestellt. Wahrend der groBte Teil der Deutschen ohne Migrationshintergrund als Angestellte oder Angestellter tatig ist (ca. 56%), sind Erwerbstatige mit turkischem Migrationshintergrund meistens als Arbeiter oder Arbeiterin (ca. 63%) beschaftigt. Sie sind auBerdem in eher ungunstigeren Beschaftigungen bezuglich der Arbeitszeiten, Schichtar- beit oder Wochenendarbeit uberreprasentiert und arbeiten eher in untergeord- neteren Tatigkeiten der Uberwachung und Fertigung als in leitenden Manage­ment- oder Marketingpositionen (Statistisches Bundesamt, 2009).

Diese Umstande fuhren dazu, dass der Anteil der armutsgefahrdeten Lebens- formen unter den turkischen Migrantinnen und Migranten und ihren Kindern deutlich hoher liegt als bei Deutschen ohne Migrationshintergrund (zum Begriff der Armutsgefahrdung vgl. Statistisches Bundesamt, 2009, S.320). Ins- gesamt sind fast 36% der turkischstammigen Lebensformen armutsgefahrdet. Bei Familien mit minderjahrigen Kindern sind es etwa 40%, bei Alleinerzie- henden sogar 43%. Demgegenuber sind es bei Deutschen insgesamt nur ca.12%, bei Familien mit minderjahrigen Kindern knapp 16% und bei Allein- erziehenden annahernd 24% (Statistisches Bundesamt, 2009).

2.4 Wohnsituation

Menschen mit Migrationshintergrund leben in Deutschland haufig ethnisch segregiert in Stadtvierteln, die sich vor allem durch niedrigere Wohnstandards und schlechtere Wohnqualitat auszeichnen, d.h. die Hauser sind alter und hau- fig renovierungsbedurftig, Sanitaranlagen sind in schlechterem Zustand, die Menschen leben beengter und die Wohngegend bietet wenig Garten und Grun- flachen (vgl. HauBermann & Siebel, 2001).

Die Grunde hierfur konnen in soziookonomische und ethnisch-kulturelle Segregation differenziert werden (Institut fur Landes- und Stadtentwicklungs- forschung, 2008, S.5). Die oben genannten Bedingungen der schlechteren Ein- kommensverhaltnisse und Erwerbsbeteiligungen fuhren dazu, dass sich Men­schen mit Migrationshintergrund eher den Wohnungen im unteren Preisseg- ment zuwenden mussen, die allerdings auch uber weniger hochwertige Ausstat- tung verfugen und in weniger beliebten Stadtvierteln liegen. Daruber hinaus haben Vermieter unter Umstanden Bedenken, ihre Wohnung unabhangig von der ethnischen Zugehorigkeit der Wohnungssuchenden an erwerbslose Mieterinnen und Mieter oder an solche mit niedrigem Einkommen zu vermie- ten. Hierbei handelt es sich also eher um soziookonomische Grunde fur die Segregation.

Des Weiteren spielen auch ethnisch-kulturelle Grunde fur die raumliche Segre­gation von Migrantinnen und Migranten eine Rolle. Aufgrund fehlender oder mangelnder Sprachkenntnisse sind Zuwanderer bei der Wohnungssuche auf die Hilfe ihrer bereits in Deutschland lebenden Landsleute angewiesen. Diese ho­ren sich dann in ihrem eigenen Wohnhaus oder Wohnviertel um und vermitteln so Wohnungen in den segregierten Vierteln. Da nicht nur die Deutschkenntnis- se, sondern haufig auch die allgemeine Alphabetisierung bei turkischen Ein- wanderern der ersten Generation eher schwach sind (vgl. Luft, 2002b) bzw.

Kenntnisse uber Zugange zum deutschen Wohnungsmarkt fehlen, bleibt ihnen ein groBer Teil des Wohnungsmarktes, der v.a. uber Zeitungsanzeigen vermit- telt wird, verschlossen (HauBermann & Siebel, 2001; JanBen & Polat, 2005). Daruber hinaus finden sich auBerdem ethnische Diskriminierungen durch Ver- mieter oder Hausverwalter, sogenannte „Gatekeeper“, die die Diskriminierung entweder uber Dritte (z.B. die anderen Mieter im Haus) oder die eigene Erfah- rung begrunden (JanBen & Polat, 2005).

Daneben spielen auch verschiedene politische Entscheidungen und Fehlpla- nungen eine entscheidende Rolle (vgl. HauBermann & Siebel, 2001).

Die Differenzierung zwischen soziookonomischen und ethnisch-kulturellen Ursachen fur raumliche Segregation lasst sich nur schlecht deutlich machen, da die Faktoren ineinander ubergehen und sich z.T. gegenseitig bedingen. Es wird aber angenommen, dass sich bei Wohnungssuchenden mit Migrationshin- tergrund zu den fur Erfolg oder Misserfolg auf dem Wohnungsmarkt bedeut- samsten soziookonomischen auch noch ethnisch- kulturell bedingte Benachtei- ligungen, wie z.B. die Quotierung von turkischstammigen Bewohnerinnen und Bewohnern bestimmter Hauser oder Wohnviertel aufaddieren (JanBen & Polat, 2005, S.101).

Nach den 2006 in NRW erhobenen Daten des Instituts fur Landes- und Stadt- entwicklungsforschung (2008) leben 57% der Menschen mit turkischem Migrationshintergrund in Stadtteilen mit uberwiegend Deutschen und ca. ein Funftel in uberwiegend turkischen Vierteln. Die Autoren schlieBen daraus auf die Existenz ethnisch verdichteter Wohnquartiere in einigen Stadtteilen. Im Zeitvergleich lasst sich aber weder ein Trend zur ethnischen Durchmischung noch zur vermehrten Segregation erkennen.

Knapp ein Drittel der turkischen Migrantinnen und Migranten in NRW verfugt uber Wohneigentum, wahrend dies auf rund 47% der Deutschen ohne Migrationshintergrund zutrifft. Hier stellen die Autoren im Zeitvergleich einen anhaltenden Trend zum Erwerb von Wohneigentum durch turkische Zuwande- rer und ihre Nachkommen fest.

Die Abfrage der Quadratmeterzahl des Wohnraums pro Person ergab, dass turkischen Familien pro Kopf weniger Wohnraum zur Verfugung steht (22,3 qm) als dem Landesdurchschnitt (38 qm) (Institut fur Landes- und Stadtent- wicklungsforschung, 2008, S.12).

Nach Auswertung der offiziellen Statistiken durch JanBen und Polat (2005, S.120) kommen die Autorinnen zu dem Ergebnis, dass sich die Wohnsituation der meisten turkischen Einwanderer bezuglich der Qualitat der Wohnung, der Wohnsicherheit und der Wohnraumversorgung zwischen Mitte der 1980er Jah- re und Ende der 1990er in Richtung der deutschen Mehrheitsgesellschaft ver- bessert hat. Das heiBt aber nicht, dass die Wohnsituation einer turkischen Fa- milie im Durchschnitt mittlerweile genauso gut ist wie die einer deutschen.

Insgesamt lasst sich bereits nach diesem groben Uberblick uber die soziostrukturelle Lebenslage von Turkinnen und Turken in Deutschland fest- stellen, dass ihre Situation deutlich schlechter ist als die der Deutschen ohne Migrationshintergrund. Damit kann ihr Status gegenuber der Mehrheitsgesell- schaft als inferior, also untergeordnet, bezeichnet werden. Besonders in Berei- chen, die fur die gleichwertige Teilhabe an unserer Gesellschaft unerlasslich sind (Bildung, berufliche Qualifikation, Einkommen), stellen sich die Fakten auBerst ungunstig fur die Angehorigen der turkischen Minderheit dar. Daruber hinaus wurde empirisch nachgewiesen, dass Turken in Deutschland eine be­sonders stark diskriminierte Migrantengruppe darstellen. Als Hauptgrund wird die kulturelle Distanz zur deutschen Gruppe angenommen, z.B. aufgrund der Religion, da uber 90% aller Turken Muslime sind (vgl. Polat, 1997; Ruhs, 2009).

Hinzu kommen noch die zahlreichen Rechtsgrundlagen, die besonders denjeni- gen, die sich nicht zur Einburgerung in Deutschland entscheiden, das tagliche Leben erschweren und die Partizipation an der Gesellschaft, in der sie leben, zumindest partiell verweigern (z.B. Wahlrecht) (vgl. Beauftragte der Bundes- regierung fur Migration, Fluchtlinge und Integration, 2007; Sackmann, 2004).

3 Begriffliche Abgrenzung - Assimilation- Integration- Segregation

Bei der Migration in ein anderes Land bestehen verschiedene Moglichkeiten der Akkulturation. Darunter ist zunachst ganz allgemein ein Prozess der wech- selseitigen Veranderungen zu verstehen, der einsetzt, wenn zwei kulturelle Systeme zusammenkommen.

Dieser Akkulturationsprozess kann, abhangig von Einstellungen und Verhalten sowohl der Einwanderer als auch der Aufnahmegesellschaft, in unterschiedli- chen Formen verlaufen (Bourhis, Moise, Perreault & Senecal, 1997).

Zum Thema Akkulturation existieren verschiedene Modelle (vgl. Fischer & Kneher, 2003), was auch dazu gefuhrt hat, dass die begriffliche Abgrenzung und Definition schwierig ist und Begriffe wie Assimilation und Integration vor allem alltagssprachlich teilweise synonym verwendet werden. In dieser Arbeit sollen die Begriffe Assimilation, Integration und Segregation entsprechend dem Akkulturationsmodell von Berry (vgl. Berry, Poortinga, Segall & Dasen, 1992) verwendet, definiert und abgegrenzt werden. Allerdings sei darauf hin- gewiesen, dass hier nicht der Anspruch besteht, ein Akkulturationsmodell voll- standig mit seinen Vor- und Nachteilen darzustellen oder zu diskutieren. Es geht ausschlieBlich um den groben begrifflichen Konsens fur die vorliegende Arbeit.

Nach Berry bestehen im Wesentlichen vier verschiedene Akkulturationsorien- tierungen: Assimilation, Integration, Segregation und Marginalisierung. Akkulturationsorientierungen aus der Sicht der Zuwanderer resultieren bei Ber­ry aus den Fragen nach der Erhaltung der kulturellen Identitat der Einwanderer einerseits und der Aufrechterhaltung von Beziehungen zu anderen Gruppen (v.a. der Aufnahmegesellschaft) andererseits. Daraus ergeben sich die vier moglichen Akkulturationsstrategien (vgl. Abbildung 1).

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Akkulturationsmodell nach Berry (Bourhis, Moise, Perreault & Senecal, 1997, S.90, Anderung v. Verf.)

Unter Assimilation wird demnach eine Akkulturationsstrategie verstanden, bei der die eigene Kultur der Einwanderer zugunsten der Kultur der Aufnahmege- sellschaft aufgegeben wird.

Bei der Integration erhalten die Einwanderer Aspekte ihrer eigenen Kultur, wahrend sie gleichzeitig auch Elemente der Kultur der Mehrheitsgesellschaft annehmen.

Die Segregationsstrategie ist gekennzeichnet durch das Festhalten an der eige- nen Kultur und die Vermeidung von Kontakten zur Aufnahmegesellschaft.

Bei Marginalisierung handelt es sich eher um die Ausgrenzung aus beiden Kul- turen und daher nicht um ein anzustrebendes Akkulturationsziel. Insofern hat diese Form der Akkulturation fur die hier vorliegende Arbeit keine groBe Be- deutung und soll nur am Rande erwahnt werden.

Aus der Perspektive der Aufnahmegesellschaft ergeben sich die vier moglichen Dimensionen einerseits aus der Frage nach den gesellschaftlichen Partizipationsmoglichkeiten, die den Zuwanderern eingeraumt werden und andererseits aus der Frage nach der Akzeptanz der Beibehaltung ihrer Her- kunftskultur.

Der Begriff Segregation wird in der Literatur uneinheitlich angewendet. Teil- weise wird er fur die Akkulturationsforderungen der Aufnahmegesellschaft eingesetzt, wahrend dazu abgegrenzt die Akkulturationsorientierung der Zu- wanderer als Separation bezeichnet wird (z.B. Bourhis et al., 1997), teilweise wird ausschlieBlich der Begriff Separation verwendet (z.B. Sackmann, 2004; Zick & Kupper, 2007), an anderer Stelle immer Segregation (z.B. Esser, 2004; Kalter & Granato, 2004). Zum Teil werden beide Begriffe gleichgesetzt (vgl. Wagner, van Dick & Zick, 2001).

Fur die vorliegende Arbeit soll der Begriff Segregation verwendet werden und dabei aber durchaus beide Perspektiven berucksichtigen. Daher wurde in Ab- bildung 1 der Begriff Separation durch den Begriff Segregation ersetzt (auch bei Wagner et al., 2001, S.62).

Betrachtet man die Akkulturationsorientierungen sowohl aus der Perspektive der Einwanderer als auch aus der Perspektive der Aufnahmegesellschaft, dann wird deutlich, dass die Erwartungen der einen Gruppe z.T. nicht identisch sind mit den Bestrebungen der jeweils anderen und dass sich so je nach Konstellation von Mehr- und Minderheiteneinstellungen konfliktare, problema- tische oder harmonische Ausgange ergeben (vgl. Bourhis et al., 1997).

Daruber hinaus kann sich die Akkulturationsorientierung sowohl der Zuwande- rer als auch der Aufnahmegesellschaft in Abhangigkeit vom zeitlichen und situativen Kontext verandern.

Am Beispiel turkischer Migrantinnen und Migranten in Deutschland lasst sich dies verdeutlichen:

Als Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre die ersten turkischen Arbeits- migrantinnen und -migranten nach Deutschland kamen, hatten sie den Status von „Gastarbeitern“, die nach einiger Zeit der Tatigkeit wieder zuruck in die Turkei gehen wurden. Integration oder gar Assimilation durch die Turkinnen und Turken oder aber auch eine sinnvolle Integrationspolitik seitens der BRD waren also nicht erforderlich, bzw. nur soweit, wie sie fur eine reibungslose Verstandigung notig war.

Es stellte sich aber heraus, dass sich viele der Migrantinnen und Migranten entschlossen, in Deutschland zu bleiben und ihre Familien nachzuholen. D.h. die Kontextbedingungen hatten sich im Laufe der Jahre verandert und damit sowohl die Akkulturationsorientierungen der Zuwanderer als auch die Akkultu- rationsforderungen der Aufnahmegesellschaft.

Betrachtungen von Akkulturation benotigen also drei Perspektiven: Einwanderer, Mehrheitsgesellschaft und zeitlicher und situativer Kontext.

4 Social Identity Approach

Die Theorie der Sozialen Identitat und die Selbstkategorisierungstheorie bilden zusammen den sozialen Identitatsansatz, den „Social Identity Approach“ (vgl. Simon & Trotschel, 2006). In den folgenden Abschnitten sollen die wesentli- chen Grundlagen der beiden theoretischen Konzepte dargestellt werden.

4.1 Theorie der sozialen Identitat

Die Theorie der sozialen Identitat oder auch Social Identity Theory (SIT) wur- de bereits in den 1970er Jahren von Henri Tajfel und seinen Mitarbeitern zur sozialpsychologischen Erklarung und Analyse von (konflikttrachtigen) Inter- gruppenprozessen konzipiert (Tajfel & Turner, 1986).

4.1.1 Vorannahmen

Um die SIT verstandlich zu machen, sind einige theoretische Aspekte im Vor- feld zu klaren.

Die zugrunde liegende Definition einer Gruppe ist in der SIT bewusst sehr weit gefasst. Tajfel und seine Mitarbeiter benutzen ein Gruppenkonzept, das mit dem Nationenkonzept des Historikers Emerson (1960) weitgehend identisch ist: <Die einfachste Aussage, die man uber eine Nation machen kann, besteht darin, daB sie aus einer Ansammlung von Leuten besteht, die der Ansicht sind, daB sie eine Nation darstellen; und es kann sehr gut sein, daB nach AbschluB aller detaillierten Analysen die endgultige Aussage genauso aussehen wird.>“ (Tajfel, 1982, S.70). D.h. zu einer sozialen Gruppe gehort jedes Individuum, das sich als zu der Gruppe zugehorig definiert und auch von Anderen als zuge- horig definiert wird (Stange, 1991, S.70).

Eine weitere Vorannahme betrifft die Frage danach, wann soziales Verhalten interpersonales Verhalten und wann Intergruppenverhalten ist. Nach Tajfel lasst sich jedes soziale Verhalten zwischen zwei oder mehr Individuen auf ei- nem Kontinuum lokalisieren, dabei ist der eine Pol das rein interpersonale Ver­halten und der entgegengesetzte Pol ist das reine Intergruppenverhalten. Reines interpersonales Verhalten, was in der sozialen Realitat eigentlich nicht existiert, ist vollstandig bestimmt von den individuellen Charaktereigenschaf- ten und der interpersonalen Beziehung der agierenden Individuen, d.h. es ist gar nicht beeinflusst von deren sozialen Gruppen- oder Kategorienzugehorig- keiten. Demgegenuber ist reines Intergruppenverhalten vollstandig von der Gruppenzugehorigkeit der Individuen bestimmt und personliche Eigenschaften oder Beziehungen spielen uberhaupt keine Rolle, wie z.B. bei zwei feindliche Soldaten in der Schlacht. Jedes soziale Verhalten kann also auf dem Konti­nuum zwischen den beiden Extremen lokalisiert werden (Tajfel & Turner, 1986).

Ein weiteres wesentliches Kontinuum der SIT ist das der beiden Pole soziale Mobilitat einerseits und sozialer Wandel andererseits. Dieses Kontinuum be- zieht sich auf die Bedingungen des sozialen Systems, allerdings sind nicht die objektiven gesellschaftlichen Bedingungen entscheidend, sondern die von den beteiligten Individuen wahrgenommenen. So bestehen Bedingungen der sozia- len Mobilitat, wenn das soziale System weitgehend flexibel und durchlassig erscheint, d.h. wenn alle Individuen ihre individuelle soziale Position relativ leicht aus eigenem Antrieb und aus eigener Kraft verandern konnen. Dagegen herrschen Bedingungen des sozialen Wandels vor, wenn die Gruppengrenzen innerhalb des Systems als sehr starr und undurchlassig wahrgenommen wer- den. Individuelles Wechseln von einer Gruppe zu einer anderen ist dann nicht moglich und Veranderungen des Status in der Gesellschaft erfordern Verande- rungen der gesamten Gruppe. Intergruppenverhalten wird also umso wahr- scheinlicher, je deutlicher Bedingungen des sozialen Wandels vorherrschen (Tajfel & Turner, 1986).

Da aber Bedingungen des sozialen Wandels in einer Gesellschaft nicht grund- satzlich auch zur Diskriminierung von Minderheiten fuhren, ist entscheidend, wie Stabilitat und Legitimitat der Statusunterschiede zwischen den Gruppen wahrgenommen werden. Ein System gilt als legitim, wenn die Zuteilung in uber- und untergeordnete Gruppen nach fur alle Beteiligten akzeptablen Krite- rien erfolgt ist und es gilt als stabil, wenn keine kognitiven Alternativen zum derzeitigen Zustand vorstellbar sind. Insofern konnen soziale Systeme durch- aus illegitim, aber stabil (z.B. die jahrelange Apartheid in Sudafrika) oder auch legitim, aber instabil sein (z.B. demokratisch gewahlte, aber von groBen Teilen der Bevolkerung nicht anerkannte Staatsfuhrung) (Stange, 1991, S.76).

4.1.2 Theoretische Grundkonzepte

Die Theorie der sozialen Identitat basiert auf vier Kernelementen: der sozialen Kategorisierung, der sozialen Identitat, dem sozialen Vergleich und der positi- ven Distinktheit. Diese vier grundlegenden Konzepte sollen im folgenden Ab- schnitt dargestellt werden.

4.1.2.1 Soziale Kategorisierung

Der Mensch tendiert dazu, sich die komplexe Umwelt zu vereinfachen, indem er Kategorien entwickelt, in die er neue Informationen einordnet. Dadurch wird die Alltagsbewaltigung erheblich erleichtert. Tajfel baut sein Konzept auf den funf wichtigsten Merkmalen dieses Kategorisierungsprozesses auf, die Allport bereits 1954 herausgestellt hat (vgl. Tajfel, 1982, S.43):

1. Kategorisierung bildet fur unsere taglichen Anpassungsversuche groBe Klas- sen oder Zuordnungen.
2. Es werden so viele Erscheinungen wie moglich in eine Kategorie eingepasst, damit wir mit moglichst wenigen Kategorien den Alltag bewaltigen konnen.
3. Die Kategorie ermoglicht eine schnelle Identifizierung von Objekten, bereits aufgrund weniger Wahrnehmungen.
4. Alles, was eine Kategorie enthalt, ist mit der gleichen vorstellungsmaBigen und emotionalen Qualitat getont.
5. Kategorien konnen mehr oder weniger rational sein.

Aufbauend auf diesen Grundannahmen hat sich Tajfel, nachdem er Kategori- sierungsprozesse fur objektive Stimuli nachgewiesen hat, den sozialen Katego- risierungsprozessen zugewendet. Er stellte fest, dass Individuen sich und Ande- re bereits aufgrund minimaler Gemeinsamkeiten als Gruppe betrachten (Mini- malgruppenparadigma) und aufgrund eben dieser Gruppenzugehorigkeit die Eigengruppe bevorzugen (Ingroup bias) und die Fremdgruppe benachteiligen. Allerdings ist nicht die Benachteiligung der Outgroup, sondern die Differenzie- rung zwischen der Eigen- und der Fremdgruppe entscheidend. Dies trifft ent- gegen der Annahmen von Sherif (1967) und der Theorie des realistischen Gruppenkonflikts (Realistic Group Conflict Theory [RCT]) auch dann zu, wenn die Gruppen nicht in Konkurrenz zueinander stehen, z.B. um gemeinsa- me Ressourcen (Tajfel, 1982). Des Weiteren kamen Tajfel und seine Mitarbei- ter zu dem Ergebnis, dass Individuen fur eine klar abgegrenzte und stabile kognitive Strukturierung der Umwelt zur Akzentuierung intrakategorialer Ahn- lichkeiten und interkategorialer Unterschiede neigen.

„In anderen Worten, soziale Kategorisierung ist ein ProzeB, durch den soziale Objekte oder Ereignisse, die in bezug auf die Handlungen, Intentionen und das Wertsystem eines Individuums gleichwertig sind, zu Gruppen zusammengefaBt werden“ (Tajfel, 1982, S.101). Durch soziales Kategorisieren strukturiert das Individuum seine Umwelt also in deutlich unterscheidbare Gruppen. Bei der Entstehung und auch Erhaltung von Kategoriensystemen sind nach Tajfel soziale Werte beteiligt, dadurch werden Kategorien pragnanter und leichter zu handhaben, aber auch anderungsresistenter. Das bedeutet aber auch, dass zur Erhaltung des (Werte-) Systems dissonante Informationen uminterpretiert wer- den oder durch selektive Wahrnehmung vernachlassigt werden mussen. So wird das System fehleranfallig, um das individuelle Wertegefuge des Indivi- duums zu schutzen.

„Je hoher die Wertdifferenz zwischen sozialen Kategorien ist, desto wahr- scheinlicher ist es, daB einer negativ bewerteten Kategorie zuviel zugeordnet wird und einer positiv bewerteten Kategorie zu wenig“ (Tajfel, 1975, S.358).

[...]

Ende der Leseprobe aus 83 Seiten

Details

Titel
Unter welchen Bedingungen tendieren türkische Migrantinnen und Migranten und ihre Nachkommen in Deutschland dazu, sich zu assimilieren, zu integrieren oder zu segregieren?
Untertitel
Erklärungsversuche zur Entwicklung sozialer Identitäten anhand des „Social Identity Approach“
Hochschule
FernUniversität Hagen
Note
1,0
Autor
Jahr
2009
Seiten
83
Katalognummer
V148123
ISBN (eBook)
9783640589418
ISBN (Buch)
9783640589616
Dateigröße
1104 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Integration, Assimilation, Segregation, Soziale Identität, türkische Migranten, Social Identity Approach
Arbeit zitieren
Caroline Spaunhorst (Autor:in), 2009, Unter welchen Bedingungen tendieren türkische Migrantinnen und Migranten und ihre Nachkommen in Deutschland dazu, sich zu assimilieren, zu integrieren oder zu segregieren?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/148123

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