Tschižewskij verteidigte sich im Vorwort zu seinem Abriss der altrussischen Literatur
gegenüber dem Vorwurf, dass eine Beschäftigung mit ihr uninteressant wäre, da deren
Inhalte fremd seien und sie auch formell nicht dem modernen ästhetischen Geschmack
entspräche. Tatsächlich sei es jedoch interessant, sich mit ihr auseinanderzusetzen, da
sie nicht nur über die Vergangenheit aus „erster Hand“ informiere, sondern auch
Grundlage der neueren russischen Literatur sei. In der Tat sind Inhalt und Form der
altrussischen Texte im ostslavischen Kulturbereich (denn um diese soll es in
vorliegender Arbeit gehen) für heutige Leser sehr fremdartig.1 Aber gerade diese
Fremdartigkeit macht den geradezu exotischen Reiz der alten Texte aus. Warum
wählten deren Autoren wohl ganz bestimmte Themen, die sie in einer ganz bestimmten
Art und Weise bearbeiteten? Die Beschäftigung mit diesen Texten, die Diskussion
darüber, hilft uns vielleicht besser als jede Sekundärliteratur anderer historischer
Disziplinen, den (allerdings gebildeten) Menschen des russischen Mittelalters, damit
seine Welt und so letztlich auch historische Zusammenhänge und Prinzipien zu
verstehen. Die Möglichkeit, mehr über das Bewusstsein des mittelalterlichen „Russen“
zu erfahren, lässt das Thema dieses Referates Zum Problem des Autors
kirchenslavischer Texte: Autorenintentionen und Geschichtsmetaphysik in der Kiever
Rus‘ nicht mehr so trocken erscheinen.
Wenn in dieser Arbeit von (alt-)kirchenslavischen Texten die Rede ist, so sind damit
speziell die Texte der Literaturepoche vom 11. bis zum 13./14. Jahrhundert im
ostslavischen Raum (Kiever Rus‘) gemeint, obwohl das Altkirchenslavische über
dieses Gebiet hinaus verbreitet gewesen ist und außerdem erste Texte sicherlich schon
im 10. Jahrhundert in Osteuropa verfasst worden sind. Doch sind uns diese nicht einmal
in Abschriften des Spätmittelalters oder der Frühen Neuzeit erhalten geblieben.
[...]
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort
- 1. Einleitung: Zur frühen altrussischen Literatur
- 2. Das Problem der Autorenschaft bei kirchenslavischen Texten
- 3. Autorenintentionen und Geschichtsmetaphysik in der Kiever Rus
- 3.1. Orthodoxe Frömmigkeit in Altrussland
- 3.2. Geschichtsbewusstsein und Autor
- 3.3. Die praktische Umsetzung der altrussischen Geschichtsmetaphysik mittels Urbild-Abbild-Modell
- 4. Schlussbemerkungen am Beispiel des Slovo o zakone i blagodati
- Literaturverzeichnis
- Anmerkungen
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Seminararbeit befasst sich mit dem Problem der Autorenschaft in der altrussischen Literatur, insbesondere mit dem Fokus auf kirchenslavische Texte. Sie untersucht die Autorenintentionen und die Rolle der Geschichtsmetaphysik in der Kiever Rus und versucht zu beleuchten, wie diese Aspekte die Entstehung und Gestaltung von Texten beeinflusst haben. Die Arbeit konzentriert sich auf den Zeitraum vom 11. bis zum 13./14. Jahrhundert, in dem die altrussische Literatur ihren ersten Höhepunkt erlebte.
- Die Rolle der Autorenintentionen in der Gestaltung von Texten
- Das Konzept der Geschichtsmetaphysik in der Kiever Rus
- Der Einfluss der orthodoxen Frömmigkeit auf die Literatur
- Die Verwendung von Urbild-Abbild-Modellen in der altrussischen Literatur
- Die politische Bedeutung der altrussischen Literatur
Zusammenfassung der Kapitel
- Vorwort: Die Einleitung stellt die Bedeutung der altrussischen Literatur für das Verständnis der russischen Geschichte und Kultur heraus. Sie argumentiert, dass die Beschäftigung mit diesen Texten, trotz ihrer scheinbaren Fremdartigkeit, einen wertvollen Einblick in die Mentalität des russischen Mittelalters ermöglicht.
- 1. Einleitung: Zur frühen altrussischen Literatur: Dieses Kapitel bietet einen Überblick über die frühen altrussischen Texte, die vorwiegend aus dem Griechischen und Altbulgarischen übersetzt wurden. Es werden die wichtigsten Gattungen der altrussischen Literatur vorgestellt, darunter gottesdienstliche Texte, weltliche Literaturgenres, Chroniken, Predigten, Heiligenlegenden und epische Lieder.
- 2. Das Problem der Autorenschaft bei kirchenslavischen Texten: Dieses Kapitel untersucht die Frage der Autorenschaft in der altrussischen Literatur und beleuchtet die besonderen Herausforderungen, die sich aus der Überlieferung von Texten in Handschriften ergeben. Es analysiert den Einfluss von Übersetzungen und Entlehnungen aus anderen Literaturen auf die Gestaltung von kirchenslavischen Texten.
- 3. Autorenintentionen und Geschichtsmetaphysik in der Kiever Rus: Dieser Abschnitt analysiert die Autorenintentionen und die Geschichtsmetaphysik in altrussischen Texten. Es werden die Themen der orthodoxen Frömmigkeit, des Geschichtsbewusstseins und der praktischen Umsetzung der altrussischen Geschichtsmetaphysik mittels Urbild-Abbild-Modellen untersucht.
Schlüsselwörter
Altrussische Literatur, Kirchenslavische Texte, Autorenintentionen, Geschichtsmetaphysik, Kiever Rus, Orthodoxe Frömmigkeit, Urbild-Abbild-Modell, Politische Zielsetzung, Übersetzungen, Entlehnungen, Handschriften.
- Quote paper
- Harms Mentzel (Author), 1997, Zum Problem des Autors kirchenslavischer Texte: Autorenintentionen und Geschichtsmetaphysik in der Kiever Rus, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14855