Das kulturelle Selbstverständnis des Landes Mecklenburg-Vorpommern - Hintergründe, Verlauf und Auswirkungen der Schweriner Landtagsdebatte 1990-2002


Tesis de Maestría, 2003

112 Páginas


Extracto


INHALT

1. Einleitung – Ein neues Bundesland mit alter Kultur?
1.1 Vorbemerkungen
1.2 Fragestellung, Abgrenzung und Methodik der Untersuchung
1.3 Forschungsstand zur Kulturpolitik

2. Hintergründe – Kultur und Kulturpolitik M-Vs im Wandel
2.1 Die DDR-Kulturpolitik in den drei Nordbezirken vor der Wende
2.2 Föderaler Kulturstaat anstatt sozialistischer Staatskultur nach der Wende
2.3 Die veränderte kulturelle Situation und deren Perzeption im Lande

3. Verlauf der Schweriner Landtagsdebatte 1990-2002
3.1 Die erste Legislaturperiode (1990-1994)
3.1.1 Kulturpolitische Vorstellungen der CDU-FDP-Koalition
3.1.2 Die Regierungsumbildung 1992
3.1.3 Das Verständnis von Kulturpolitik in den Oppositionsparteien
3.1.3.1 Die SPD-Fraktion
3.1.3.2 Die Fraktion LL/PDS
3.2 Die zweite Legislaturperiode (1994-1998)
3.2.1 Kulturpolitische Leitlinien der Großen Koalition
3.2.2 Die PDS-Opposition
3.3 Die dritte Legislaturperiode (1998-2002)
3.3.1 Der Stellenwert von Kunst und Kultur in der rot-roten Koalition
3.3.2 Die CDU-Fraktion in der Oppositionsrolle
3.3.3 Theater- und Orchesterstrukturen als Debattenschwerpunkt

4. Auswirkungen der kulturpolitischen Debatte
4.1 Kulturelles Selbstverständnis und Tourismus
4.2 Probleme der Kultur(entwicklungs)planung
4.3 Kulturförderung und Kulturfinanzierung
4.4 Identitätsstiftung als kulturpolitische Aufgabe

5. Zusammenfassung und Perspektiven
5.1 Zusammenfassung
5.2 Perspektiven

6. Abkürzungsverzeichnis

7. Literaturverzeichnis

1. Einleitung – Ein neues Bundesland mit alter Kultur?

1.1 Vorbemerkungen

Die Kunst und Kultur des Landes Mecklenburg-Vorpommern ist alt und neu zugleich. Alt erscheint sie insbesondere dann, wenn man sich die kulturhistorischen Zeugnisse dieses slawisch-germanischen Siedlungsgebietes (vgl. Brügger 1997) vergegenwärtigt, die Überreste und Denkmäler des Mittelalters und der frühen Neuzeit in Erinnerung ruft, die neben der urkundlichen Ersterwähnung nicht zuletzt 1995 Anlass zur 1000-Jahrfeier des Landes gaben. Neu dagegen wirken die kulturellen und kulturpolitischen Entwicklungen in dem Bindestrich- Bundesland, das nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Land Mecklenburg und dem westlichen Teil der preußischen Provinz Pommern ohne Stettin und die Odermündung zusammengefügt wurde. Amtlicher Name des neu geschaffenen Landes war Mecklenburg-Vorpommern, bis 1947 die Verwendung des Namenteils Vorpommern von der sowjetischen Militäradministration verboten wurde. Einen letzten Bezug auf die zwei kulturell unterschiedlichen, wenngleich vielfältig verwandten Landsmannschaften der Mecklenburger und Pommer tilgte der Beschluß der II. Parteikonferenz der SED am 12. Juli 1952 zum Aufbau des Sozialismus, der eine administrative Neugliederung nach sich zog. Der Schweriner Landtag beschloss daraufhin am 25. Juli die Neuaufteilung des Landes in die drei Bezirke Rostock, Schwerin und Neubrandenburg (vgl. Bei der Wieden 1994, S. 22), wobei letztere um Landkreise des ehemaligen Landes Brandenburg erweitert wurden (vgl. LpB M-V 1995, S. 11; LpB M-V 2001, S. 13).

Dennoch sind Mecklenburg und Vorpommern als kulturhistorische Räume nicht in Vergessenheit geraten. Mehrere Generationen von Denkmalpflegern, Volkskundlern, Regionalhistorikern, Heimatgeschichtsforschern, Publizisten und Archäologen bemühten sich auch zu DDR-Zeiten um Pflege und Bewahrung kultureller Eigenarten und Traditionen. So sind Mentalitätsunterschiede und Befindlichkeiten zwischen den kulturell eigenständigen Landesteilen bis heute spürbar – z. B. in der politischen Kultur, den Auseinandersetzungen um die Landeshauptstadt und im Wahlverhalten (siehe dazu Werz/Schmidt 1996) –, sie rückten vor allem nach der demokratischen Revolution in der DDR 1989 und der Neuerrichtung des Landes M-V 1990 ins Blickfeld der politischen Aufmerksamkeit (vgl. Schwabe 1996, S. 14).

Wie viele Kultur- und Reiseführer bezeugen (vgl. Zschocke/Drommer 1990; Eckert 1994; Museumsführer M-V 1999), bietet M-V sowohl eine interessante Natur- als auch Kultur- und Geschichtslandschaft, die seit der sog. politischen Wende weitgehend touristisch erschlossen wurde. Notwendig machten diese Vermarktung der Kulturlandschaft die ökonomische Randlage in der Peripherie von Hamburg und Berlin sowie die anhaltende wirtschaftliche Strukturschwäche des Landes. Vor diesem Hintergrund bilden Kunst und Kultur, d. h. die zahlreichen Schlösser, Gutshäuser, Burgen, Kirchen, Museen und Theater und ebenso die Musiker, Künstler und Vereine zusammengenommen eine wichtige Voraussetzung touristischer und sonstiger wirtschaftlicher Unternehmungen.

Das Land M-V und allen voran die politischen Entscheidungsträger haben seit nunmehr 13 Jahren um ein kulturelles Profil oder moderner gesagt: Image gerungen. Der erste Ministerpräsident Alfred Gomolka postulierte in einer noch heute lesenswerten Publikation des Landesfremdenverkehrsverbandes M-V 1992, M-V sei ein Kulturland, „das einen Teil seiner Kultur noch aus der Vergangenheit reißen muß“ (S. 1). Dem lag zumindest eingeschränkt die Einsicht in die Rückständigkeit des Landes im Vergleich zu anderen neuen Bundesländern zugrunde, das Bewußtsein eines Modernisierungsdefizits, das trotz größter Industrialisierungsanstrengungen auf dem Agrarsektor und im Bereich der maritimen Wirtschaft auch zu DDR-Zeiten nicht beseitigt werden konnte. Freilich vermochte man schon vor 200 Jahren, also noch lange vor dem populären, angeblichen Bismarck-Ausspruch, diese Rückständigkeit fast einfältig mit einer sich spät entfaltenden Verstandeskultur der Mecklenburger zu begründen. Johann Christian Friedrich Wundemann, Prediger zu Walkendorf, bescheinigte in seiner für das enzyklopädische Zeitalter der Aufklärung typischen Schrift Meklenburg in Hinsicht auf Kultur, Kunst und Geschmack dem Land eine günstige Lage: „Meklenburg hat unstreitig eine in vieler Hinsicht sehr vortheilhafte geographische Lage. Es hängt mit dem kultivirtesten Theil von Europa genau zusammen. Die Mittheilung aller neuen Entdeckungen im Felde der Wissenschaften und Künste sind sehr leicht“ (Wundemann 1800, S. 15).

Nicht so günstig fällt in dem zweibändigen Charakter- und Sittenbild Mecklenburgs die Darstellung der Mecklenburger aus: „Nach unserer Lage, so vortheilhaft sie ist, sind wir beträchtlich gegen Norden gerückt, und gehören, wie überhaupt der Norden Europas, zu den spät reifenden Völkern, die lange in der Minderjährigkeit bleiben, ehe sie zu einer merklichen Kultur des Verstandes, und zum eigenen, höheren Kraftgebrauche gelangen“ (ebenda 1800, S. 17f). Obgleich eine auf die Klimatheorie und unterschiedliche Temperamente der Völker abzielende Erklärung heutzutage wissenschaftlich kaum befriedigen dürfte, vielleicht sogar komisch anmutet, kann dieser Deutung mecklenburgischer Rückständigkeit im kulturellen Sinne nicht ein gewisser Grad an Plausibilität abgesprochen werden. Mecklenburg und auch Vorpommern waren nur im Ausnahmefall Orte großer Innovation. Das Beharrungsvermögen und andere „geschichtliche Elemente des niederdeutschen Charakters“ (Gamm 1998) standen dem wohl entgegen. Selbst die von Helmut Graumann vorgestellten 100 bedeutendsten Mecklenburger und Vorpommern – darunter der Erfinder der Hochdruckdampfmaschine Ernst Alban, die niederdeutschen Dichter John Brinckman und Fritz Reuter, der Opernkomponist Friedrich von Flotow, der Logiker Gottlob Frege, der Kaufhausbegründer Rudolf Karstadt, der Erfinder des Benzinmotors Siegfried Marcus, der Schriftsteller Hans Fallada, der Sprachforscher Johann Christoph Adelung, der Nestor der Luftfahrt Otto Lilienthal, der romantische Künstler Philipp Otto Runge etc. (vgl. Graumann 1999; 1999a) – können allenfalls als Alibi über die kulturelle, intellektuelle, wirtschaftliche und politische Einöde hinwegtäuschen, die Mecklenburg und Vorpommern im 19. Jahrhundert zweifellos darstellten. Die damaligen Provinzuniversitäten mit ihren geringen Studentenzahlen dienten vielen Professoren lediglich als Sprungbrett für die nächste Berufung, die eigentlichen Genieschmieden befanden sich ohnehin in Sachsen, Schwaben und den urbaneren Regionen. Die meisten der genannten Mecklenburger und Vorpommer, auf die man sich heute gerne beruft, konnten sich erst in dem befruchtenden Klima dieser geistigen Zentren Deutschlands entfalten.

Im Prozess der kulturellen Selbstverständigung des Landes spielen solche Bewusstseins- und Identitätsfragen eine große Rolle. Kulturpolitik der Gegenwart muß im Sinne des Zusammenwachsens eines neuen Bundeslandes mit alten Kulturtraditionen Rücksicht darauf nehmen.

1.2 Fragestellung, Abgrenzung und Methodik der Untersuchung

Die vorliegende Untersuchung möchte das kulturelle Selbstverständnis des Landes M-V anhand der Schweriner Landtagsdebatte eruieren. Eingedenk der Prozesshaftigkeit der Entwicklung von kulturellen Werten und Identitäten wurde von vornherein ein Untersuchungszeitraum festgelegt, der möglichst abgeschlossen sein sollte. Dabei wurde ein Zeitraum von zwölf Jahren ins Auge gefasst, der mit den vergangenen drei Legislaturperioden des Landesparlamentes übereinstimmt. Bevor die inhaltliche Gliederung der Untersuchung näher erläutert wird, muß etwas zu deren Gegenstand gesagt werden.

Kultur und Kulturpolitik sind eher vernachlässigte Randthemen politikwissenschaftlicher Forschung, das Analyseinteresse und wohl auch der Analysebedarf sinkt auf regionaler Ebene gegenüber der Bundes- und Landesebene noch einmal erheblich. Infolgedessen entstehen echte Forschungslücken, weil die Kulturwissenschaft das unbeackerte Politikfeld nicht allein abzudecken vermag. In dem Sammelband Mecklenburg-Vorpommern im Wandel macht der Rostocker Politikwissenschaftler Nikolaus Werz auf dieses Desiderat aufmerksam, wobei die Transformation des hiesigen Kulturwesens und die damit verbundenen Veränderungen der Kulturpolitik aus Platzgründen darin nicht behandelt werden (vgl. Werz/Schmidt 1998, S. 16). Dafür wird auf die Schrift des Kulturrates M-V e. V. mit dem Titel Kultur und Kunst Mecklenburg-Vorpommerns im Umbruch verwiesen, die 1993 erschien und sich methodisch der Fragebogenerhebung bediente (siehe Kulturrat M-V 1993). An die Ergebnisse dieser Studie soll angeknüpft werden.

Die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung ist analog zu ihrem Untertitel in einem methodischen Dreischritt abzuarbeiten. Im Hauptteil wird der Verlauf der kulturpolitischen Debatte im Schweriner Landtag nachzuzeichnen sein. Zuvor müssen jedoch die Hintergründe jener Debatte skizziert werden. Den Ausgangspunkt der Analyse bilden die historischen Ereignisse der Jahre 1989/1990 in der DDR, die letztlich zu ihrem Untergang führten. Sie sind Reflexe auf die veränderten geopolitischen Bedingungen, das Ende des Ost-West-Gegensatzes und Vorboten für den drohenden Kollaps des kommunistischen Lagers. Das Ende der DDR implizierte das Ende einer zentralistischen Kulturpolitik, die sich unter den Attributen sozialistisch und antifaschistisch von der föderalen Kulturpolitik der BRD bewusst abgrenzen wollte. Nur wenn man der 40-jährigen kulturpolitischen Praxis „unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“ – wie es in der Verfassung der DDR vom 6. April 1968 im Art. 1 hieß – Beachtung schenkt, ist der kulturelle Wandel, der Aufbruch im Umbruch nach der friedlichen bürgerlichen Revolution überhaupt zu verstehen. Der Systemwechsel im Gefolge der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion vom Juli 1990 bedeutete gerade auch für die kulturellen Einrichtungen der ehemaligen DDR einen tiefen Einschnitt. Viele Anträge der postkommunistischen Partei PDS beispielsweise, die im ersten Schweriner Landtag noch unter dem Namen LL/PDS firmierte, erscheinen erst in diesem Licht verständlich.

Dass die Schilderung der Ausgangssituation nicht über den Vergleich des sozialistischen Kulturbegriffs und seiner bundesrepublikanischen Entsprechung hinweggehen darf, ist selbstverständlich. Ebenso wie im nachfolgenden Hauptteil soll eine historisch-deskriptive Herangehensweise überwiegen. Materialgrundlage für die Beschreibung und Auswertung der kulturpolitischen Debatte des Schweriner Landtags sind die Plenarprotokolle, Drucksachen und sonstigen parlamentarischen Dokumente, soweit sie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind. Veröffentlichungen der Landesregierung und der einzelnen Landtagsfraktionen werden hinzugezogen. Außerdem fanden Gespräche mit einzelnen Abgeordneten und Mitarbeitern der Kulturadministration statt. An dieser Stelle sei dafür ausdrücklich Prof. Dr. Peter Kauffold als ehemaliger Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur, dem Abteilungsleiter Kultur im MBWK Dr. Enoch Lemcke und seiner Stellvertreterin Dr. Ulrike Petschulat sowie den aktiven bzw. ausgeschiedenen MdL Siegfried Friese, Karin Schmidt und Heide-Marlis Lautenschläger gedankt.

Die Anregung, die Kulturpolitik in M-V anhand der Landtagsdebatte näher zu beleuchten, verdankt sich dem Politiker und Politikwissenschaftler Dieter Schröder. Als Rostocker Oberbürgermeister von 1993 bis 1995 hat er die Ansiedlung der Hochschule für Musik und Theater in der Hansestadt maßgeblich mitgestaltet (vgl. Schröder 2002a, S. 322ff). Die Entscheidung zum Ausbau der Vorgängereinrichtungen (Außenstellen der Musikhochschule Hanns Eisler und der Schauspielhochschule Ernst Busch in Ost-Berlin) ist nach Schröder im Kontext einer „zähen kulturpolitischen Debatte im Land“ (Schröder 2001, S. 12) zu sehen, deren Höhepunkt, was Grundsätzliches, Sinn- und Orientierungsfunktion von Kultur und Kunst betrifft, auf das Ende der ersten Legislaturperiode zu datieren ist. Daher ist es ein zentrales Anliegen dieser Untersuchung zu überprüfen, wie sich die Wahrnehmung kulturpolitischer Aufgaben und die Debattenkultur selbst in der zweiten und dritten Legislaturperiode verändern, ob diese Änderung sukzessiv oder abrupt eintritt und ob sich die Perspektive auf die kulturspezifischen Finanzierungsprobleme verlagert, was ja beinahe als eine sich selbst bestätigende Arbeitshypothese zu vermuten ist.

In einem nächsten, vorletzten Schritt geraten die Auswirkungen der Debatte in den Fokus der Untersuchung. Ein ganzer Problemkreis, vom Kulturtourismus über Kulturplanung, -förderung und -finanzierung bis hin zum Topos kulturelle Identität ist hier theoretisch zu erörtern und auf die Entwicklung im Lande anzuwenden. Abschließen wird die Untersuchung mit einer Zusammenfassung und einem Ausblick auf die Kulturpolitik im Land M-V.

Der unüberschaubare Umfang der Begrifflichkeit Kultur macht eine exakte Abgrenzung und Einschränkung des Themas notwendig. So kann auf die Transformation des Bildungswesens in M-V seit 1990 im Rahmen dieser Untersuchung genauso wenig eingegangen werden wie auf den Umbruch der Wissenschafts- und Hochschullandschaft.[1] Ausgeklammert werden müssen auch Politikbereiche wie Tourismus, Jugend, Frauen etc., die große, gemeinsame Schnittmengen mit der Kulturpolitik besitzen. Der Untersuchung liegt vielmehr der enge Kulturbegriff zugrunde, der sich ministeriell und haushaltstechnisch schon als ein Ausdruck eines ausgeprägten kulturellen Selbstverständnisses durchgesetzt hat und die Bereiche Bildende Kunst, Darstellende Kunst, Literatur, Film und Medien, Heimatpflege und Niederdeutsch, Soziokultur, Museen, Bibliotheken, Archive, Denkmalpflege, Musik und Theater einschließt (siehe www.kultus-mv.de; LHP).

1.3 Forschungsstand zur Kulturpolitik

Zuallererst ist die Semantik des Begriffs Kultur zu klären. Vom lateinischen Verbum colere, colui, cultus abgeleitet, hatte das Wort im Sinne von bebauen, bewohnen, pflegen, ehren ursprünglich eine praktische Bedeutungsebene, die den Prozess der Herausbildung menschlicher Kultur durch Bodenbearbeitung (agricultura) und Sesshaftigkeit beschrieb. In seiner weitesten Verwendung bezeichnet der Begriff deshalb das, was der Mensch als Kulturwesen geschaffen bzw. durch eine Kultivierungsleistung der Natur abgerungen hat. Natur und Kultur bilden unter diesem Aspekt ein Gegensatzpaar (vgl. Brockhaus 1990, S. 580ff). Eine zweite philosophische Bedeutungsebene erhielt der Begriff in der Spätantike und im christlichen Mittelalter: „Aus den stoischen Mahnungen zur Beackerung und Pflege des Geistes [ cultura animi, C. S.] hörten frühchristliche und mittelalterliche Schriftsteller den heidnischen Frömmigkeitston heraus“ (Historisches Wörterbuch der Philosophie 1976, S. 1309). Speziell in der deutschen Geistesgeschichte ist von den Nachfolgern Kants Kultur gegenüber der Zivilisation in eine Konfrontationsstellung gerückt worden, die im englischsprachigen Raum unbekannt blieb. Der englische Dichter Thomas Stearns Eliot z. B. hielt diese Antithese für künstlich und überflüssig, da culture und civilisation nicht eindeutig zu trennen seien (vgl. Emge 1963).

Jenseits aller wortgeschichtlichen Bedeutungswandel des scheinbar universalen Begriffs Kultur hat Gert Hofstede eine Dichotomie vorgeschlagen, die Kultur im engeren Sinne auf das Feld von Literatur, Bildung und Kunst begrenzt und im Weiteren alle Denk-, Fühl- und Handlungsmuster (mentale Programme im Kopf der Menschen) umfasst (siehe Hofstede 1997, S. 2f). Eine ähnlich polarisierende Unterscheidung innerhalb des Begriffskosmos Kultur ist die zwischen Hoch- und Primitivkultur. Diese semantische Differenz, die allgemein-kulturgeschichtlich von höchster Relevanz ist, wurde in der Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland um die Alternativ-/Soziokultur erweitert. In der Kultursoziologie der Gegenwart wurde diese Unterscheidung aufgegriffen. So versucht neuerdings Gerhard Schulze drei alltagsästhetische Schemata – Trivialschema, Spannungsschema, Hochkulturschema – soziologisch zu etablieren, mit denen seine Diagnose der Erlebnisgesellschaft empirisch untermauert werden soll (siehe Schulze 1995). Die kulturpolitischen Implikationen sind erstaunlich und müssen hier noch diskutiert werden.

Ähnlich wie das Wort Kultur ist das Kompositum Kulturpolitik komplex genug, um sich einer einfachen Definition zu entziehen. Eine konsensfähige Minimaldefinition stammt aus dem Lexikon: „allgemeine Bez. für die Gesamtheit der Bestrebungen des Staates, der Kommunen, Kirchen, öffentl.-rechtl. Körperschaften, Parteien, aber auch überstaatl. und zwischenstaatl. Instanzen (UNESCO) zur Förderung und Erhaltung der Kultur“ (Meyers Enzyklopädisches Lexikon 1980, S. 441). Doch ob damit den vielfältigen Aufgaben von Kulturpolitik in der Gegenwart entsprochen wird, ist mehr als fraglich. Kulturbegriff und Kulturpolitik in heutiger Zeit sind nicht mehr unumstritten (siehe Burmeister 1998).[2] Die Begriffsschärfe nutzt durch inflationären Gebrauch ab, sodass einige schon wieder für eine Verengung plädieren, um nicht unweigerlich alles, jede Beliebigkeit, jede Mode und jeden Lebensstil mit dem Kulturetikett zu adeln (vgl. Liessmann 2001). Die Globalisierung forciert den Kulturwandel in mindestens gleichem Maße wie den technologisch-industriellen (dazu Robertson/Winter 2000). Auf diesen weltweiten Prozess der Herausbildung globaler kultureller Wertmaßstäbe hat die UNESCO bereits in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts reagiert. 1972 berief die Weltorganisation eine erste zwischenstaatliche Regionalkonferenz über Kulturpolitik in Europa ein. In Helsinki verständigten sich die 30 Teilnehmerstaaten auf vermehrten Kulturaustausch und kulturelle Zusammenarbeit. Außerdem empfahlen sie eine demokratische Kulturpolitik „unter Berücksichtigung eines erweiterten Kulturbegriffs und der Bedeutung der neuen Medien für die Teilhabe der gesamten Bevölkerung an der Kultur“ (UNESCO 1973, S. 44). Zehn Jahre später, 1982, einigte man sich auf der Weltkonferenz über Kulturpolitik in Mexiko-City darüber,

„daß die Kultur in ihrem weitesten Sinne als die Gesamtheit der einzigartigen geistigen, materiellen, intellektuellen und emotionalen Aspekte angesehen werden kann, die eine Gesellschaft oder eine soziale Gruppe kennzeichnen. Dies schließt nicht nur Kunst und Literatur ein, sondern auch Lebensformen, die Grundrechte des Menschen, Wertsysteme, Traditionen und Glaubensrichtungen“ (UNESCO-DIENST 1982, S. 1).

Die Stockholmer Konferenz über Kulturpolitik für Entwicklung 1998 erinnerte die Regierungen an die in Mexiko-City eingegangenen Verpflichtungen zum Schutz kultureller Identität und zur Bewahrung des Kulturerbes. Deshalb verabschiedeten die Mitgliedstaaten den Aktionsplan Kulturpolitik für Entwicklung, der den einzelnen Ländern politische Zielvorgaben zur Umsetzung anempfiehlt:

- Kulturpolitik als Schlüsselelement einer Entwicklungsstrategie;
- Förderung der Kreativität und der Teilnahme am kulturellen Leben;
- Politikplanung und -praxis zur Aufwertung des im-/materiellen Kulturerbes; Förderung der Kulturindustrie;
- Förderung kultureller und sprachlicher Vielfalt in der Informationsgesellschaft;
- Bereitstellung von mehr personellen Kapazitäten und finanziellen Mitteln für Kulturentwicklung (vgl. UNESCO 1998, S. 16ff).

Ungeachtet aller staatlichen Definitionsversuche hat die Vielfalt von Kulturbegriffen und Kulturtheorien beträchtlich zugenommen. Die sozialen und kulturellen Umstände in den westlich-pluralistischen Demokratien lassen Kulturpolitik bewusst mehrdimensional nur noch als eine gesellschaftliche Aufgabe denkbar erscheinen, wie die Einführung in Theorie, Geschichte, Praxis der Kulturpolitik von Max Fuchs betitelt ist. Schon im Vorwort weist der Autor auf ein Paradoxon bei der Begriffsbildung Kultur-Politik hin: „Politik als das Steuernde und Regelhafte, Kultur – gerade in Deutschland – immer auch als das Zweckfreie, Kreative“ (Fuchs 1998, S. 7). In der Kulturpolitik geht es also um die Steuerung individueller und gesellschaftlicher Gestaltungsprozesse, um Koordination und Moderation zwischen kulturpolitischen Akteuren, ihren Programmen und Strategien. Der Staat tritt in der deutschen Tradition als einer der gewichtigsten Akteure in Erscheinung. Bund, Länder und Kommunen wendeten im Jahre 1998 allein 12,1 Mrd. DM für Kunst und Kultur auf, wobei damit die Bereiche Theater, Musikpflege, nichtwissenschaftliche Bibliotheken und Museen, Denkmalschutz, sonstige Kulturpflege sowie die Kulturverwaltung abgedeckt sind. Dazu kommen die Ausgaben der öffentlichen Hand für kulturnahe Bereiche (Rundfunk, kulturelle Angelegenheiten im Ausland, kirchliche Angelegenheiten, wissenschaftliche Museen und Bibliotheken, Volkshochschulen, Kunsthochschulen), die sich auf 5,6 Mrd. DM beliefen. Davon entfielen 7,1 Mrd. DM auf die Gemeinden (rd. 40 %), 8,2 Mrd. auf die Länder (rd. 46 %) und 2,4 Mrd. DM auf den Bund (rd. 16 %). Insgesamt nehmen die Ausgaben für Kultur und kulturnahe Bereiche nur 1,74 % des öffentlichen Gesamtetats in Anspruch, das sind 216 DM je Einwohner (vgl. Statistische Ämter 2001, S. 17).

Andere Akteure müssen ebenso ins Kalkül gezogen werden: Einerseits die Kulturproduzenten – Künstler, Musiker, Schauspieler, Dramaturgen, Intendanten, Museumsmitarbeiter, Archivare und Bibliothekare; andererseits die Kulturrezipienten – das Publikum, Leser, Zuschauer, Hörer, Besucher aller öffentlichen Kultureinrichtungen. Daneben existieren eine Reihe von Vereinen und Verbänden, die sich die politische Interessenvertretung der Kulturschaffenden zur Aufgabe gemacht haben. Spitzenverband der Bundeskulturverbände ist der Deutsche Kulturrat, der in den letzten Jahren bedeutsame Veröffentlichungen hervorgebracht hat.[3] Das Handbuch des Deutschen Kulturrates klärt das Wer ist was in der Kulturpolitik unter Berücksichtigung der institutionellen Gegebenheiten des Kulturföderalismus. In ihm finden sich die Vertreter der Bundeskulturverbände, der kommunalen Spitzenverbände, der Parteien und parteinahen Stiftungen sowie der Landes- und Bundeseinrichtungen verzeichnet, ergänzt um eine statistische Auswertung der biografischen Angaben der kulturpolitischen Funktionsträger.[4] Erwähnt werden muss ferner der erste Band der Reihe Kulturpolitik – Dokumente, der sich mit Kultur und Kulturpolitik im vereinigten Deutschland beschäftigt. Hierbei handelt es sich um eine Sammlung von Reden, Aufsätzen und Ansprachen des Ministerialdirigenten Waldemar Ritter (2000), der von leitender Position im Bundesministerium des Innern aus u. a. für die Wahrung kultureller Belange bei den Verhandlungen zum Einigungsvertrag und die Auflegung der drei großen Kulturprogramme zur Substanzerhaltung, Entwicklung der kulturellen Infrastruktur und zum Denkmalschutz in den neuen Bundesländern am Beginn der 1990er Jahre verantwortlich zeichnete (vgl. S. 11).

Die kulturpolitische Gesellschaft[5] hat dagegen als Verein durch seine Mitglieder Theorie und kulturpolitische Praxis der Bundesrepublik entscheidend mitgeprägt. Zu den Mitgliedern gehören die Pioniere der Neuen Kulturpolitik wie Hermann Glaser, Hilmar Hoffmann, Dieter Sauberzweig, Olaf Schwencke und Alfons Spielhoff, die in den 70er Jahren zeitgleich mit der Reformpolitik der sozial-liberalen Koalition unter Willy Brandt begannen, ihre publizistische Wirkung zu entfalten. Die kulturpolitischen Reformimpulse gingen zunächst von den Kommunen aus, in denen viele Mitglieder der Gesellschaft noch heute das Amt des Kulturdezernenten ausüben. Als Gründungsdokument der Neuen Kulturpolitik wird heute eine Erklärung des Deutschen Städtetages zu Bildung und Kultur als Elemente der Stadtentwicklung angesehen, die 1973 verabschiedet wurde.[6] Sie variierte nicht nur das Generalthema Wege zu einer menschlichen Stadt, sondern markierte den Anspruch der Neuen Kulturpolitik, nämlich Kultur entsprechend dem Leitmotiv aus der Brandtschen Regierungserklärung Mehr Demokratie wagen zu demokratisieren. Kunst und Kultur sollten von unten organisiert und konsumiert werden; die bestehenden bürgerlichen Kulturinstitute gerieten z. T. unter Anwendung popularisierter Theoreme der Kritischen Theorie in den Verdacht, affirmativ und elitär zu sein.[7] Hilmar Hoffmann (1981) forderte in seinem gleichnamigen Buch Kultur für alle, sozial niedrigere Gesellschaftsschichten und Minderheiten am kulturellen Leben zu beteiligen und die bisherige öffentliche Kulturförderung auch auf die alternative, freie – damals noch mit Wohlklang – soziokulturelle Kulturszene auszuweiten. Es war der Zweck der Neuen Kulturpolitik, einen privilegienfreien, einkommensunabhängigen Zugang zur Kultur und Kunst in sämtlichen Facetten zu ermöglichen (vgl. S. 29). Die Erweiterung des Kulturbegriffs über den der bürgerlichen Hochkultur hinaus hatte hehre Ziele:

„Neben der höheren Kultur des Feiertags wurden jetzt auch die Elemente der alltäglichen Kultur ernstgenommen: die Amateurkünste in den Vereinen und Institutionen, die künstlerische Laienarbeit bis hin zum Chorgesang, die Gebrauchskunst des Wandschmucks, das handwerkliche Gestalten, die Vorgartenkultur und die Kultur von Nachbarschaft. Die vielgestaltige Alltagskultur ist differenzierter und aufregender, als viele ahnten. Die Förderung auch dieser künstlerischen und kulturellen Elemente wurde Teil einer programmatischen Kulturpolitik; alle diese Bereiche wurden mit dem Anspruch verknüpft, die Qualität der Lebensbedingungen unserer heruntergekommenen Städte zu verbessern. Diese Kulturpolitik ist Bestandteil jener Programmatik, die mit den inzwischen ausgehöhlten und abgedroschenen Vokabeln emanzipatorisch treffend zu bezeichnen war“ (ebenda S. 274).

Freilich trat die Ernüchterung, wie man anhand der zweiten Auflage dieses Standardwerkes Neuer Kulturpolitik von 1977 unschwer erkennen kann, schnell ein. Das Bürgerrecht Kultur ließ sich trotz dieser einprägsamen Formulierung Hermann Glasers vor Ort juristisch nicht so einfach durchsetzen, denn die Gemeinden beharrten auf einem Status von Kultur als freiwilliger kommunaler Aufgabe, zumal die erhöhten Sozialleistungen der Brandtregierung schon dem Nachfolgekanzler Helmut Schmidt finanzielle Sorgen bereiteten. Die Wirklichkeit hatte das große philanthropische Projekt einer alldemokratischen Stadtteil- und Wirtschaftskultur vor allem in praxi, wenn nicht widerlegt, dann doch entzaubert, sodass einige Kulturpolitiker resignierten: „Die Zeiten der Kulturpolitik, gleich ob nun alt oder neu, sind ziemlich passé. Mag sein, daß forcierte Ideologeme in den letzten Jahren daran nicht unschuldig sind. Der Hauptgrund aber liegt in einem radikalen Interessenwandel, der von den Künsten und deren sozialen Derivaten auf die Neuen Technologien und die Neobiologismen übergegangen ist“ (Kolbe 2001, S. 23). Für ganz unrichtig mögen dieses Urteil selbst die Vorkämpfer der neu-alten Kulturpolitik nicht halten, da sich unter den Texten zur Kulturpolitik, die von der kulturpolitischen Gesellschaft herausgegeben werden, zunehmend Erinnerungs- und retrospektive Beiträge anzutreffen sind.[8]

Im Gegensatz zum Reformeifer Hilmar Hoffmanns folgt Hermann Glaser in seinen schriftlichen Äußerungen einem kulturhistorischen Ansatz. Seiner Feder entwuchs die dreibändige Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, die Veränderungen des geistig-kulturellen Klimas des Landes in drei Etappen von der unmittelbaren Nachkriegszeit (1945-1948) über die Aufbaujahre (1949-1967) bis hin zu den 70er und 80er Jahren zwischen Protest und Anpassung (1968-1989) seismografisch registriert (vgl. Glaser 1985; 1986; 1989). Inzwischen hat Glaser eine die deutsche Einigung berücksichtigende Aktualisierung vorgenommen (siehe Glaser 2000). Kontrastmittel seiner kulturpolitischen Überzeugungen ist die bürgerliche Repräsentationskultur der Wilhelminischen Zeit, die er in einem essayistischen Epochenporträt nachzuzeichnen versucht hat (vgl. Glaser 1984). In dieser Gründerzeit kultureller Einrichtungen, der man wohl bis heute die meisten und schönsten Theater- und Museengebäude verdankt, galt, was Theodor Fontane mit bissigem Spott in Worte gekleidet hat: „Der berühmte Satz Kunst sei für alle ist grundfalsch; Kunst ist umgekehrt für sehr wenige, und mitunter ist es mir, als ob es immer weniger würden. Nur das Beefsteak, dem sich leicht folgen lässt, ist in einer steten Machtsteigerung begriffen“ (Fontane 1997, S. 15). Die Exklusivität des bürgerlichen Kulturlebens veranlasste die Arbeiterbewegung, den Galerien, Salons und Musentempeln des Bildungsbürgertums proletarische Volks- und Gewerkschaftshäuser zur Befriedigung kulturelle Bedürfnisse der unteren sozialen Schichten entgegenzusetzen. Die DDR versuchte später mit der Einrichtung der Klub- und Kulturhäuser an diese Tradition der Arbeiterkulturbewegung anzuknüpfen (vgl. Hain/Stroux 1996, S. 89).

In der Tat verdienstvoll sind einige neuere Publikationen der kulturpolitischen Gesellschaft zu nennen. Zum einen handelt es dabei um zwei aufeinander aufbauende Bibliografien, die den Forschungsstand zur Kulturpolitik von 1970 bis 1997 dokumentieren. Die erste Literatursammlung vereinigt alle zentralen Bücher, Broschüren und Aufsätze zu den kulturpolitischen Praxisfeldern, Programmen und Grundlagen der Bundesrepublik vor der Vereinigung (siehe Wagner 1993, S. 9). Bei der zweiten Bibliografie wurde die Systematik, die vorher – für die kulturpolitischen Anschauungen der Gesellschaft bezeichnend – in traditionelle Felder der Kulturpolitik und soziokulturelle Praxisfelder gegliedert war, um ein Kapitel zur Kulturpolitik in der DDR ergänzt. Hierbei mussten zwangsläufig Kompromisse eingegangen werden. So wurden zwar die Bände mit kulturpolitischen Reden von Erich Honecker und Kurt Hager längst aber nicht alle Veröffentlichungen des parteieigenen Instituts für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED[9] aufgenommen (vgl. Hager 1981; 1987 und Honecker 1982). Viel graue Literatur, Dissertationen, regionale und örtliche Schriften, die nicht im offiziellen Ost-Berliner Dietz Verlag erschienen, konnten gar nicht berücksichtigt werden (vgl. Institut für Kulturpolitik 1998, S. 12f). Zum anderen hat sich die kulturpolitische Gesellschaft und das ihr angeschlossene Institut für Kulturpolitik mit der Herausgabe des Jahrbuchs für Kulturpolitik einen Namen gemacht.[10]

Die Literaturlage zum kulturellen Wandel in Ostdeutschland, die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung eine wesentliche Quellengrundlage darstellt, sieht magerer aus. Die wenigen Studien dazu wurden insbesondere in der ersten Hälfte der 1990er Jahre vom Bund und den fünf neuen Bundesländern in Auftrag gegeben. Das Bundesministerium des Innern beauftragte z. B. das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung, ein Gutachten zu den Entwicklungstrends von Kunst, Kultur und Medien im Beitrittsgebiet anzufertigen (vgl. Scholz/Waldkricher-Heyne 1994). Dieses Ministerium, das nach Auflösung des Ministeriums für gesamtdeutsche Fragen gemäß Art. 35, Abs. 2 des Einigungsvertrags Schaden an der kulturellen Substanz durch eine Übergangsfinanzierung des Bundes abzuwenden hatte, veranlasste fernerhin eine Repräsentativumfrage über die kulturelle Partizipation, den Kulturbegriff der deutschen Bevölkerung und die Bewertung der Kulturpolitik beim demoskopischen Institut Allensbach (siehe Institut für Demoskopie Allensbach 1991). Immerhin finanzielle Förderung aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft erhielten die Gemeinschaftsumfrage des Deutschen Kulturrats und der Stiftung Lesen und die bereits erwähnte Regionalumfrage des Kulturrats M-V (vgl. Deutscher Kulturrat/ Stiftung Lesen 1992; Kulturrat M-V 1993). Beide Umfragen zielten – obgleich auf unterschiedlicher Ebene – auf eine Bestandsaufnahme der kulturellen Infrastruktur in Ostdeutschland ab.

Kritische Beobachter des einigungsbedingten Strukturwandels waren auch die Autoren und Herausgeber der Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung[11] bis zu deren Einstellung 1994, darunter die ostdeutschen Kulturwissenschaftler Horst Groschopp und Dietrich Mühlberg. Vor allem letzteren interessiert die Frage nach der Eigenidentität der Ostdeutschen. In zahlreichen Aufsätzen schildert er die Tendenzen zur Ausbildung einer deutschen Teilkultur (vgl. Mühlberg 1999; 2000; 2001).

An der Diskussion über die DDR-Kulturpolitik und den vermeintlichen kulturellen Kahlschlag beteiligten sich Mitte der 1990er Jahre parlamentarische Gremien. Sowohl auf Landesebene als auch auf Bundesebene richtete man Enquete-Kommissionen zur geschichtlichen Aufarbeitung der SED-Diktatur und ihren Folgen ein, was die PDS natürlich mit Unbehagen betrachtete.[12] Unbeschadet der politischen Auseinandersetzungen sind die in dem Zusammenhang entstandenen Gutachten und Expertisen zur Kulturpolitik von beachtlicher Qualität (vgl. Michalk 1995 und Lichtenstein 1997).

Je stärker man den Blickwinkel auf regionale Kulturpolitik verengt, desto dünner erscheint die Literaturlage. Für M-V besteht hier zweifelsohne Nachholbedarf, obwohl bereits zu DDR-Zeiten einige Schriften zur Kulturpolitik erschienen. Es waren in erster Linie Schriften der verantwortlichen staatlichen Planungs- und Leitungsstellen auf Bezirksebene und zweitrangig Schriften der Städte und Gemeinden, die nach dem Organisationsprinzip des demokratischen Zentralismus jedoch keine kommunale Selbstverwaltung kannten, sondern als „Glieder der politisch-territorialen Einheiten des Staates“ (Rechtslexikon 1988, S. 345) die kulturpolitischen Direktiven der Bezirksleitung oder des Politbüros umzusetzen hatten. So gab das Staatsarchiv Schwerin in Zusammenarbeit mit der Kulturabteilung des Rats des Bezirkes Schwerin und der Bezirkskommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung, die bei der Bezirksleitung Schwerin der SED angesiedelt war, Dokumente zur Kulturpolitik in Mecklenburg nach der Befreiung vom Faschismus heraus (vgl. Staatsarchiv Schwerin 1972). Da Kultur – ohne die damit verbundenen Probleme zu leugnen – in der DDR als planbar galt (vgl. Marten/Martin 1981), wurden in den drei Nordbezirken der DDR detaillierte Pläne über die Entwicklung von Kunst und Kultur aufgestellt (siehe Rat des Bezirkes Schwerin 1972; Rat des Bezirkes Rostock 1968).[13] Die Planvorgaben hatten die kulturellen Einrichtungen möglichst einzuhalten und zu erfüllen.

Die wenigen Veröffentlichungen zur Denkmalpflege zeugen von einer stiefmütterlichen Behandlung alter Bauwerke im Norden der DDR. Dies lag nicht nur an der Ressourcenknappheit und der Priorität des (Platten-)Wohnungsbaus, es machte zugleich die ideologischen Vorbehalte gegenüber Gebäuden aus früheren restaurativ-bürgerlichen und gar feudalen Zeitepochen deutlich (vgl. Institut für Denkmalpflege 1976).[14] Nach der Wende ist der Denkmalschutz politisch und publizistisch wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Während der Landtag M-V 1993 das Denkmalschutzgesetz verabschiedete, begannen Kommunen und Landkreise, unterstützt von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt und anderen Förderinstituten, mit den notwendigen Sanierungsmaßnahmen (vgl. Reimers 1996; Deutsche Bundesstiftung Umwelt 2001). Die Schwierigkeiten des Denkmalschutzes in M-V und die Bedingungen der DDR-Kulturpolitik allgemein erhellen am Beispiel des Schlosses Ulrichhusen und anhand des tragischen Falls des Kulturfunktionärs Rudolf Jahnke zwei Bücher, die vom Landesbeauftragten M-V für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR herausgegeben wurden (siehe Timm 1999; Viereisel 2002).

Zuletzt sei noch auf die regierungsamtlichen Dokumente, die von Landeseinrichtungen geförderten Literaturprojekte und in Auftrag gegebenen Gutachten hingewiesen, die jene Schritte abbilden, die auf dem Weg zur Entwicklung eines kulturellen Selbstverständnisses in diesem neuen Bundesland mit seinen alten kulturellen Traditionen und Gewohnheiten bereits zurückgelegt worden sind. 1991 forderte der Landtag M-V die Regierung auf, eine Kulturkonzeption für das Land zu erarbeiten. Noch im selben Jahr wurde das Papier vorgelegt und trug als einer der Auslöser und als Diskussionsgrundlage zur Debatte über die Kulturentwicklung bei (vgl. Kultusministerium M-V 1991). 1993 brachte der kleine neugegründete Rostocker Konrad Reich-Verlag dank der Mithilfe des Kultusministeriums ein Lexikon zur Kultur, Kunst, Literatur der Gegenwart in M-V heraus. Besondere Beachtung finden darin die neuen freien Träger, Vereine, Künstler und Verbände,[15] die nunmehr die Lasten und Kosten kultureller Infrastruktur zu schultern hatten (vgl. Stockfisch 1993, S. 7).

Förderung des Ministeriums erhielt im selben Jahr zugleich eine Studie des Europazentrums Rostock e. V. In ihr werden aus den untersuchten europäischen und regionalen Aspekten der Dynamik von Wirtschaft und Umwelt Folgerungen für eine Wissenschaftsstrategie und Bildungs- und Kulturpolitik des Landes abgeleitet (vgl. Europa Zentrum 1993). Ein anderes Gutachten ist im Auftrag des Wirtschaftsministeriums mit dem Grenzbereich von Kultur und Wirtschaft befasst. Demnach sollte die Bedeutung der Kulturwirtschaft als Wirtschaftssektor und Tätigkeitsfeld für immerhin 1.800 Unternehmen, Künstler, Schriftsteller, Designer, Produzenten usw. in M-V nicht unterschätzt werden. Schon 1992 erwirtschaftete die schwer abgrenzbare Branche 2,7 % der Gesamtumsätze aller Wirtschaftszweige (vgl. Wirtschaftsministerium M-V 1997, S. 2); eine Tendenz, die sich angesichts der Wachstumsraten im (Kultur-)Tourismus noch verstärkt haben dürfte.

Eine quantitative Bewertung der kulturellen Entwicklung im Lande ist nur eingeschränkt möglich. Obwohl das Statistische Landesamt in seinen Jahrbüchern Angaben über Anzahl und Besucher kultureller Einrichtungen bereitstellt (vgl. z. B. StaLa M-V 2002, S. 105ff), sind die geringen Kapazitäten des Amtes mit einer ausführlichen Kulturstatistik überfordert. Trotzdem ist in Form des Kulturfinanzberichts 2000 ein Ländervergleich zugänglich, der in Kooperation der statistischen Ämter des Bundes und des Landes entstanden ist. Um eine qualitative Darstellung des Kulturstandortes M-V zeigt sich dagegen das Kultusministerium in regelmäßigen Publikationen bemüht (siehe z. B. Kultusministerium M-V 1994; MBWK M-V 2000).

Der wesentlicher Teil der für die Untersuchung relevanten Literatur ist hiermit erfasst. Die Dokumente und Materialien des Landtags bilden die Quellengrundlage nachfolgender Abschnitte, sodass eine ausdrückliche Erwähnung entfallen kann. Außerdem wurde der Bereich der unselbstständigen Literatur, d. h. Zeitschriften- und Zeitungsbeiträge bislang ausgeblendet. Das gilt auch für die Literatur zur DDR-Kulturpolitik, die im nächsten Untersuchungsabschnitt eingehend rezipiert werden soll. Ein Anspruch auf Vollständigkeit bei der Literaturerfassung kann im Rahmen dieser Arbeit ohnehin nicht erhoben werden.

2. Hintergründe – Kultur und Kulturpolitik M-Vs im Wandel

2.1 Die DDR-Kulturpolitik in den drei Nordbezirken vor der Wende

Die DDR wurde am 7. Oktober 1949 im Zeichen des sich zuspitzenden Ost-West-Gegensatzes gegründet. Nur fünf Monate zuvor konstituierte sich durch Verkündigung des Grundgesetzes die Bundesrepublik, die gemeinsame Deutschlandpolitik der Alliierten war damit nach dem ergebnis-losen Abbruch der Londoner Konferenz endgültig gescheitert (vgl. Schröder 1998, S. 74). Die kulturpolitischen Weichenstellungen in dem zweiten deutschen Staat erfolgten jedoch bereits vor seiner Gründung. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg und teilweise schon während des Vormarsches der Roten Armee waren sowjetische Kulturoffiziere mit der Reorganisation des Kulturlebens befasst.[16] Dies geschah in der Sowjetischen Besatzungszone freilich unter den Vorzeichen der Wahrung und des Ausbaus einer sowjetischen Einflusssphäre. Am Anfang einer Phase, die in der kulturpolitischen DDR-Literatur rückblickend als die „antifaschistisch-demokratische Umwälzung 1945-49“ (Streisand 1981, S. 71) bezeichnet wurde, ließ die Sowjetische Militäradministration in Deutschland Theater, Kinos und Kleinkunstbühnen wieder eröffnen. Berlin wurde dabei im Gegensatz zur Provinz von der sowjetischen Besatzungsmacht als kulturelles Zentrum bevorzugt behandelt (vgl. Köhler 1994), hatte sie doch hier in den zwei Monaten der Alleinherrschaft im Mai/Juni 1945 Zeit genug, die Strukturen und Verfahren nach ihrem Interesse zu gestalten (vgl. Trampe 1998, S. 293). Die von den Sowjets begünstigte KPD strebte eine Blockpolitik an, die an das Konzept der Volksfrontpolitik der 30er Jahre erinnerte und auf ein Bündnis verschiedener politischer Parteien und Klassen gegen den Faschismus orientierte. Diese Politik kulminierte vorläufig 1946 in der von der KPD forcierten Vereinigung mit der SPD zur SED (siehe LpB M-V 1996) und mündete in der Anerkennung der Führungsrolle der SED durch die Blockparteien CDU, LDP, DBD, NDPD; ein Prozess, der von den letzten halbfreien Wahlen 1946 bis hin zum expliziten Bekenntnis 1952 sukzessiv vonstattenging (vgl. Suckut 2000). Parallel dazu starteten die Kommunisten eine bündnispolitische Initiative auf kulturellem Gebiet. Im Sommer 1945 kam es zur Gründung des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, eine Lizenz wurde dem kulturpolitischen Verein von der SMAD am 25. Juni erteilt (vgl. Bartsch 1996, S. 361). Erster Vorsitzender des Kulturbunds wurde der kommunistische Dichter und spätere Kulturminister Johannes R. Becher,[17] der bereits im Moskauer Exil darüber nachsann, „mit welchen Mitteln und Methoden ein möglichst breites Spektrum von Kultur- und Geistesschaffenden bündnispolitische an die KPD zu binden wäre“ (Herbst/Ranke/Winkler 1994, S. 540). Sein Ziel war es zunächst, aus dem Kulturbund auf der Basis des Antifaschismus und Humanismus eine interzonale, plurale und überparteiliche Sammlungsbewegung zu formieren, um Intellektuelle aller Richtungen, Pastoren, Professoren, Schriftsteller, Künstler, Lehrer und Journalisten, für die Unterstützung gesellschaftlicher Veränderungen in der SBZ zu gewinnen (vgl. Dietrich 2002, S. 532ff).

Erstaunlicherweise hatte dieses Vorhaben in Mecklenburg-Vorpommern am meisten Erfolg. Der dortige Landesverband wuchs rasch und verfügte bis 1947 in relativen (gemessen an der Bevölkerungsgröße) und zeitweilig sogar in absoluten Zahlen über den „größten Mitgliederbestand aller Landesverbände (einschließlich Groß-Berlin)“ (Wehner 1992, S. 191). Ein Jahr nach der Gründung gab es in M-V 63 Ortsgruppen mit jeweils 12.000 Mitglieder, Mitte 1947 waren es 20.000 und 1948 sogar 30.000 Mitglieder. Die außergewöhnliche Stellung des Landesverbandes innerhalb der Gesamtorganisation lässt sich auch an den Aktivitäten ermessen. So erschien das Publikationsorgan Demokratischer Aufbruch noch vor dem Berliner Verbandsblatt im Oktober 1945, hinzu trat die literarische Zeitschrift Heute und Morgen. Der Sektion Literatur des Kulturbundes im Lande gehörten allein 136 Schriftsteller an. Sie organisierten vorwiegend mit den Arbeitsgemeinschaften vor Ort bis 1948 600 Dichterlesungen und Kammerspiele, schrieben Rezensionen oder führten relativ offen kontroverse Literaturdebatten.[18] 1946 stiftete der nördlichste Kulturbund der Ostzone den Gerhard-Hauptmann-Preis. Das exzeptionelle Engagement der Intellektuellen hatte nach Benno Pubanz drei Voraussetzungen:

„1. die Repräsentanz der Gründer. Der ersten Landesleitung gehörten u. a. an: der Domprediger Karl Kleinschmidt, die Intendanten Edgar Bennert und Johannes Semper, die Schauspieler Lucie Höflich und Josef von Santen, der Maler Erich Venzmer, der Rektor der Universität Greifswald, Prof. Dr. Lohmeyer, der Rektor der Universität Rostock, Prof. Dr. Rienäcker, der Pfarrer Bruno Theek, die Schriftsteller Willi Bredel, Adam Scharrer und Graf Stenbock-Fermor, der Heimatforscher Johannes Gosselck und der Redakteur Karl Krahn;
2. die Grundsätze dieser Gruppe, die es unabhängig von subjektiven weltanschaulichen Positionen, traditionell begründeten Lebensauffassungen und individuell unterschiedlichen Zukunftsvorstellungen ermöglichten, mitzuarbeiten. [...]
3. das Engagement, die Begeisterungsfähigkeit, die Autorität, die Persönlichkeiten wie Bredel, Kleinschmidt, Karla König, Welk und Scharrer auszeichneten, vor allem aber ihr Bemühen, die Gräben zwischen den Emigrierten und Nichtemigrierten zu überwinden und prinzipiell niemandem die Mitarbeit auszuschlagen, der nach den Verheerungen des Krieges die Chance zu einem geistigen Neubeginn wahrnehmen wollte“ (Pubanz 1997, S. 3).

Dass sich der Kulturbund bis in die 50er Jahre hinein zu einem gewichtigen Faktor der Kulturpolitik in Mecklenburg-Vorpommern entwickeln konnte, hat neben den persönlichen strukturelle Ursachen. Die tradierten Sozialstrukturen des Landes wurden durch die Aufnahme von Flüchtlingen und Vertriebenen – verharmlosend Umsiedler genannt – zerstört. Die dünne Besiedlung und das Fehlen eines selbstbewussten Bürgertums mit Ausnahme der Hansestädte machten es den sozialistischen Kulturpolitikern leicht, die kulturhungrige Nachkriegsbevölkerung mit einem attraktiven Unterhaltungs- und Kulturangebot zu erreichen. Auf dem Lande konnte man auch mit weniger anspruchsvollen Tanz-, Konzertveranstaltungen, heimatkundlichen Vorträgen und Philatelistenabenden reüssieren, da der Kulturbund hier eine Monopolstellung einnahm. Trotz aller Euphorie darüber, dass man „die überwältigende Mehrheit der Intelligenz des Landes für die Kulturbund gewonnen [habe]“ (Schulmeister 1965, S. 59), sanken die Mitgliederzahlen seit Anfang der 50er Jahre wieder. Denn die zunehmende Instrumentalisierung und Einflussnahme durch SED setzte ab 1947/1948 einen Wandlungsprozess des Kulturbundes, der bis in die 50er Jahre gesamtdeutsche Kongresse und Tagungen abhielt, zu einer Massenorganisation mit Stimmrecht in der Volkskammer in Gang. Dennoch gelang es nicht, den Bund zu einer Massenorganisation „im strengen marxistischen Verständnis zu entwickeln“ (Heider 1993, S. 226). Sein potenzielles Konkurrenzverhältnis zu anderen Massenorganisationen wie dem FDGB, der allgemeine Betreuungsanspruch und der Zugriff der SED führten dazu, „daß der Bund angesichts der Widersprüchlichkeit seiner Aufgaben als Massenorganisation nur bedingt wirksam werden konnte: vor allem als Bildungs- und Kulturverein sowie als Veranstaltungsdienst, zugleich als [...] Propagandist, weit weniger aber als Erzieher und kontrollierter Kontrolleur“ (ebenda, S. 228).

Ungeachtet der Erfolge im Kulturbund suchte die KPD bzw. ab 1946 die SED nach weiteren Mitteln, um die Intelligenz, die Künstler, Ingenieure und Wissenschaftler auf ihre ideologische Kursrichtung einzuschwören. Noch vor Gründung der DDR wurde deshalb von der Deutschen Wirtschaftskommission, einem ersten eigenen ostzonalen Verwaltungsorgan, eine Verordnung beschlossen, die deren soziale Lage verbessern sollte und ihnen Prämien, neue Wohnungen, Lebensmittelkarten, niedrige Steuerbeträge, Absicherung der Kinder und Ehrungen zusicherte. Der Künstler, so vermerkte es auf der Sitzung der Kommission am 31. März 1949 der Vorsitzende der SED Otto Grotewohl, der sich selbst gerne als Kulturpolitiker feiern ließ (siehe Grotewohl 1952), werde als „ein Kämpfer im gesellschaftlichen Leben“ (Deutsche Wirtschaftskommission 1949, S. 34) angesehen. Auch später warben die führenden Genossen Erich Honecker und Kurt Hager in ihren zahllosen kulturpolitischen Reden um ein Vertrauensverhältnis zwischen dem Funktionärsapparat und den kritisch beäugten Künstlern (vgl. Honecker 1982, S. 63). Allerdings war diese Werbung mit einer unmissverständlichen Warnung verbunden: „Für die Künstler und Kulturschaffenden kann es keinen anderen Weg geben als die Mitwirkung an der Gestaltung der entwickelten sozialistischen Gesellschaft, dem realen Sozialismus“ (Hager 1981, S. 106).

Die eigentliche sozialistische Kulturrevolution vollzog sich in der DDR zu Beginn der 50er Jahre. Die zuerst propagierte antifaschistisch-demokratische Etappe der Kulturpolitik war damit abgeschlossen. Es folgte die Institutionalisierung auf der Grundlage des demokratischen Sozialismus. Das bedeutete in letzter Konsequenz die Zentralisierung kulturpolitischer Weisungskompetenz beim Amt für Literatur- und Verlagswesen, bei der staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten (beide 1951 eingerichtet) und bei den staatlichen Komitees für Filmwesen und Rundfunk (beide 1952 eingerichtet). Einen vorläufigen Abschluss fand der Zentralisierungsprozess 1954, als das neu geschaffene Ministerium für Kultur die staatlichen Leitungskommissionen ersetzte (vgl. DDR-Handbuch 1985, S. 769). In dem Maße wie Entscheidungsgewalt auf höherer Ebene gebündelt wurde, fiel sie an der Basis weg. Daher dürfte es nicht verwundern, dass die Auflösung der Länder während dieser kulturpolitischen Aufbauphase geschah. Anstelle des Landes Mecklenburg traten 1952 die Bezirke Schwerin, Rostock und Neubrandenburg, ihre kulturpolitische Gestaltungsmacht hatte sich aber nach oben verflüchtigt. Konnten zuvor z. B. Maßnahmen zur Verbesserung des Landfilmdienstes, der Theater- und Kulturhauseinrichtungen auf halbparlamentarischem Weg im Ausschuss für Kulturfragen des Landtages Mecklenburg behandelt werden (vgl. Staatsarchiv Schwerin 1972, S. 110), waren danach die Abteilungen Kultur bei jeweils zuständigen Rat des Bezirkes dafür verantwortlich. Dieser wiederum bekam die grundlegenden Direktiven aus Berlin. Das dortige Ministerium für Kultur war für die Leitung und Planung des gesamten staatlichen Kulturbereich zuständig, ihm unterstanden die Volkseigenen Betriebe des Verlags-, Film- und Lichtspielwesens, des Buchhandels, der Schallplattenproduktion sowie die Zentralinstitute für Denkmalschutz und Bibliothekswesen, zusätzlich einige künstlerische Einrichtungen wie die Deutsche Staatsoper in Berlin, das Tanzensemble der DDR und die künstlerischen Hoch- und Fachschulen. Außerdem verwaltete das Ministerium „über ein Kuratorium den Kulturfonds der DDR und verfügte über den Einsatz seiner Mittel“ (Michalk 1995, S. 1687). Die Städte und Gemeinden standen am unteren Ende der administrativen Hierarchie, als staatliche Organe im Territorium waren sie zu Bittstellern und Befehlsempfängern degradiert. Trotzdem wurde in den Bezirksstädten ein außerordentlich vielfältiges kulturelles Angebot vorgehalten, wie die Beispiele von Rostock und Neubrandenburg zeigen. In Rostock, das durch seinen Überseehafen besondere Förderung genoss, etablierte man neben dem Volkstheater Ende der 60er Jahre ein kulturhistorisches Museum im Kröpeliner Tor (1969), das Schifffahrtsmuseum der DDR (1968), das Traditionsschiff und die Kunsthalle am Schwanenteich als ersten und wohl auch einzigen Museumsneubau der DDR (1969) (vgl. Ehlers 1976). Die im 2. Weltkrieg zu über 80 % zerstörte Viertorestadt Neubrandenburg wurde im Zentrum mit einem Haus der Kultur aufgewertet. Von 1963 bis 1965 gebaut, enthielt das Hochhaus Säle für Musik, Klub- und Zirkelräume, Restaurants, eine Bibliothek, eine Fest- und Ausstellungshalle sowie einen Gartenhof und komplettierte damit die kulturelle Repräsentationsausstattung der nunmehrigen Bezirksstadt (vgl. Dullin-Grund o. J.).

Die Kulturpolitik der DDR in den 1950er und 1960er Jahren erhielt von den Gesellschaftswissenschaftlern mit der Konstruktion der sozialistischen Kulturrevolution ein theoretisches Fundament. Maßnahmen zur ideologischen Gleichschaltung der Kulturschaffenden wurden dadurch als eine notwendige Gesetzmäßigkeit beim Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus legitimiert, brutale Eingriffe in Gewissens- und Glaubensfreiheit so hehren Zielen wie der Bildung und Erziehung des Volkes, Brechung des Bildungsprivilegs, ja der „Erreichung eines geschichtlich höheren Bildungs- und Kulturniveaus der Arbeiterklasse und aller Werktätigkeiten“ (Institut für Gesellschaftswissenschaften 1977, S. 19) untergeordnet.

Aber nicht alle Widerstände der Künstler und Literaten blieben auf dem Weg zur entwickelten sozialistischen Gesellschaft – so wurde der Zielpunkt einer neuen kulturpolitischen Etappe auf dem VIII. Parteitag der SED propagiert – im Verborgenen oder konnten kaschiert werden. Die Krisen und Kursschwankungen nach Stalins Tod und die Ereignisse nach dem Aufstand des 17. Juni sind ein Beispiel dafür. Immer wieder begehrten Intellektuelle und Künstler gegen die kulturpolitischen Vorgaben des sozialistischen Realismus auf. Nach der Stalin-Kritik auf dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 und scheinbaren Liberalisierungstendenzen in der DDR schöpften einige Antistalinisten in den Reihen SED Hoffnung auf gesellschaftliche Veränderungen. Überzeugte Marxisten wie Wolfgang Harich, Walter Janka, Ernst Bloch, Hans Mayer und Politbüromitglieder wie Karl Schirdewan, Ernst Wollweber und Fred Oelßner mussten ihren Reformeifer und Widerspruchsgeist teuer bezahlen. 1959 lief auf Initiative Walter Ulbrichts eine neue kulturpolitische Kampagne an. Der Generalsekretär des ZK der SED wollte in seinem Redebeitrag auf der als Bitterfelder Konferenz bekannt gewordenen Autorentagung des Mitteldeutschen Verlages Halle die Trennung zwischen Kultur- und Arbeitswelt, zwischen Künstler und Volk überwinden und rief zur Förderung des künstlerischen Volksschaffens u. a. die Bewegung Schreibender Arbeiter ins Leben. Doch die vermehrten Anstrengungen der Laienkunst entsprechend dem Bitterfelder Weg trafen bei den Berufskünstlern auf wenig Gegenliebe und führten „in der Praxis zeitweise zu einer Nivellierung kunstästhetischer Maßstäbe“ (Michalk 1995, S. 1680). Mit dem Mauerbau 1961 und den repressiven Reaktionen auf die Emanzipation der Literatur in den letzten Amtsjahren Ulbrichts schienen die Fronten verhärtet. Insofern begrüßten die meisten Kulturschaffenden die Palastrevolution 1971 und verbanden Erwartungen mit der beginnenden Ära Honecker, die sich zunächst zu erfüllen schienen. Vor allem der VIII. Parteitag der SED sendete mit seinem Aufbruch in die entwickelte sozialistische Gesellschaft Signale aus, die auf kulturpolitische Lockerungen hindeuteten. Bislang verbotenen Bücher von Autoren wie Stefan Heym durften in der DDR erscheinen, Beatmusik wurde nicht länger als Ausdruck westlicher Dekadenz gebrandmarkt, sondern mit deutschen Texten ausgestattet, um den Kontakt zur Jugend nicht abbrechen zu lassen. Mithilfe der auf dem IX. Parteitag 1976 verkündeten Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik sollte das materielle und kulturelle Lebensniveau deutlich erhöht werden. Doch in Wirklichkeit überforderten die sozial- und kulturpolitischen Maßnahmen die Wirtschaftskraft der vermeintlich zehntstärksten Industrienation (vgl. Judt 1998, S. 87). Subventionierte Eintrittspreise für Konzert-, Theater- und Museumsbesucher, Betriebsbibliotheken, niedrige Wohnungsmieten und hohe Sozialleistungen trugen zur Anhäufung eines Schuldenbergs bei, der ohne die 1983 von Franz Josef Strauß vermittelten Kredite zu einer frühzeitigeren Bankrotterklärung der DDR hätte führen können (vgl. Maibaum 1998, S. 97).

Die partielle Aufbruchstimmung beim Amtsantritt Erich Honeckers wurde spätestens 1976 durch die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann getrübt. Sie hatte fatale Folgen die Kulturlandschaft der DDR. Viele Künstler und Intellektuelle solidarisierten sich mit dem ausgebürgerten Sänger und Lyriker, Protestresolutionen wurden geschrieben. Am Ende verließen weitere prominente Schauspieler und Schriftsteller wie Manfred Krug, Armin Mueller-Stahl und Jurek Becker das Land, was einem künstlerischen Aderlass gleichkam. Im Norden der DDR war die kulturpolitische Klimaverschlechterung z. B. im 1958 verstaatlichten Hinstorff-Verlag spürbar. Die Nonkonformität des Verlagsleiters Konrad Reich und des Cheflektors Kurt Batt, die den VEB Hinstorff zum führenden Verlag für Gegenwartsautoren aufsteigen ließ, war der SED-Orthodoxie ein Dorn im Auge. Sie wollte den Verlag auf sozialistische Agitation im Ostseeraum ausrichten. Kurt Batts Weigerung, der Partei beizutreten, führte 1974 zu seiner Entlassung. Außerdem geriet der Verlag ins Visier der Staatssicherheit.

Die Kulturpolitik der 80er Jahre litt unter der geistig-kulturellen Erstarrung zwischen kulturplanerischem Anspruch und realsozialistischer Wirklichkeit. Sie war auch in diesem Jahrzehnt, so bilanzierte Manfred Jäger 1995, „eine heikle Problemzone geblieben“ (S. 196). Einer der wenigen kulturpolitischen Aspekte, die in diesem Zeitraum der Resignation und Enttäuschung hinzutraten, war der Umgang mit kulturellem Erbe. Während die Aneignung des bürgerlich-humanistischen Erbes z. T. bündnispolitisch motiviert war, beabsichtigte die Preußenehrung 1980, die Identifikation und historische Legitimation der DDR zu stärken. Für eine veränderte Einstellung sprach auch das Bekenntnis zu Johann Sebastian Bach und die Feier zum 500. Geburtstag von Martin Luther 1983. Ähnlich wie die NVA im Falle von Scharnhorst, Clausewitz und Gneisenau, versuchte die SED an progressive Elemente des kulturellen Erbes anzuknüpfen und reaktionäre Teile davon zu isolieren. Das Begriffsvolumen kulturelles Erbe hatte sich also erheblich vergrößert (siehe Autorenkollektiv 1986).

Die verschiedenen Etappen der Kulturpolitik in der DDR sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die wesentlichen Zielstellungen der späteren DDR-Kulturpolitik schon vor 1949 feststanden:

- Betonung des nationalen Kulturerbes, insbesondere Weimarer Klassik;

- Ausrichtung nach Bündnispartnern, dem internationalen Geschehen, Feindbildern;
- Privilegien für Kulturschaffende auch zur Disziplinierung innerhalb der Intelligenz;
- konspirative Taktik, Tätigkeit des MfS in der Kulturszene;
- Kampf gegen Dissidenten, abweichende bürgerliche Kunstnormen, Modernismus, Formalismus, Kosmopolitismus, Abstraktionismus, Antirealismus;
- Förderung parteilicher Kunst nach dem Muster des sozialistischen Realismus, außerdem besondere Wertschätzung des künstlerischen Volksschaffens;
- Antifaschismus als Rechtfertigungsideologie der SED-Diktatur, Indoktrination als Mittel der Kultur- und Bildungspolitik (vgl. Jäger 1996, S. 363).

Als in den 60er und 70er Jahren die Planungsinstrumente zur Steuerung der DDR-Wirtschaft als Folge des auf dem VI. Parteitag der SED 1963 beschlossenen Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung (NÖS) verfeinert wurden (vgl. Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung 1985), übertrug man die Ergebnisse auch auf das kulturelle Gebiet. Im Sinne der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik sollte die Wirtschaftsplanung durch die Sozialplanung ergänzt werden. Die komplexe Planung lag wiederum in der Hand des MfK, es waren Prognosen und langfristige Pläne zu erstellen, die eine gerechte Verteilung von Künstlern, Einrichtungen und Finanzmitteln über das gesamte Territorium der DDR garantierten. Weil sich allein zwischen 1971 und 1979 die Ausgaben des Staatshaushaltes für Kultur verdoppelten, galt in den staatlichen Planungskommissionen das Gebot der sozialistischen Sparsamkeit. Aber Illusionen hatte man keine:

„Die Kultureinrichtungen gewähren ihre Leistungen zum großen Teil unentgeltlich beziehungsweise für ein so geringes Entgelt, das ökonomisch in nur entferntem Zusammenhang mit der tatsächlichen Leistung steht. [...] Zudem wirken sich gesetzlich festgelegte Preisermäßigungen für Rentner, Schwerbehinderte, Jugendliche sowie Vergünstigungen in Form von Preisnachlässen für Theater- und Konzertanrechte sowie von Zuschüssen aus Mitteln der Betriebe oder der Gewerkschaften auf die Entwicklung der Einnahmen aus. So wird der Umfang der Einnahmen in ersten Linie von kulturpolitischen und nicht von ökonomischen Faktoren bestimmt, und es ist deshalb nicht möglich, aus der Differenz zwischen Ausgaben und Einnahmen die Effektivität der Kultureinrichtungen abzulesen“ (Marten/Martin 1981, S. 112).

Bei der zentralen Kulturplanung der DDR mussten regionale Disparitäten berücksichtigt werden. Die Nordbezirke waren überwiegend agrarisch geprägt, dünn besiedelt und hatten einen hohen Anteil an Landbevölkerung, wohingegen südlichere Bezirke eine stärker städtisch-industrielle Tradition vorzeigen konnten. Sachsen und Thüringen waren in der Weimarer Republik Hochburgen der Arbeiterbewegung, weshalb man auf ein anderes Kulturniveau schloss (siehe Scheffler 1984, S. 26). All dies spiegelte sich in der Ausstattung der Bezirke mit Kultureinrichtungen wider. Von den hauptberuflich geleiteten 6.256 staatlichen Allgemeinbibliotheken in der DDR 1989 hatten die Bezirke Schwerin, Rostock und Neubrandenburg mit 907 zusammengenommen weniger als der Bezirk Chemnitz mit 1.196. Ähnlich verhielt es sich bei den Kultur- und Klubhäusern. Dort standen den 96 Häusern in den drei Nordbezirken 1989 allein in Chemnitz 125 gegenüber. Auch Museen und zoologische Gärten waren im Norden der DDR mit 99 und 18 vergleichsweise rar, gab es doch im Bezirk Dresden 118 Museen und im Bezirk Halle 19 Zoos oder Heimtiergärten. Selbst bei der Ausstattung mit Theater- und Filmtheater lagen die Nordbezirke zusammen mit 33 bzw. 107 nur knapp vor den dichter besiedelten, aber absolut keineswegs bevölkerungsreicheren Südbezirken Halle (30 Theater) oder Chemnitz (97 Filmtheater). Unten den drei Nordbezirken variierte die Anzahl kultureller Einrichtungen enorm. Nachstehende Übersicht macht die Abweichungen für das Jahr 1989 deutlich.[19]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Der Bezirk Rostock, der sich entlang der gesamten DDR-Küste erstreckte, erweist sich in einer binnendifferenzierten Betrachtung innerhalb der Nordbezirke zum Ende der DDR-Zeit hin als kulturell am weitesten entwickelt. Allerdings lag seine Bevölkerungsanzahl aufgrund der höheren Besiedlungsdichte um rd. ein Drittel höher als in den Bezirken Schwerin und Neubrandenburg. Auf dem Lande fiel es den SED-Kulturpolitikern offensichtlich schwerer, ihre Kulturpläne durchzusetzen als in der Städten. Die Neuerrichtungen von Theatern an so dezentralen Standorten wie Anklam oder Parchim bezeugen jedoch die ernst gemeinten Bemühungen.

Wie die Forderungen sozialistischer Kulturpolitik verwirklicht werden sollten, darüber gaben die Kulturpläne der einzelnen Bezirke Auskunft, die formell vom Bezirkstag zu beschließen, inhaltlich aber von der Bezirksleitung nach den Vorgaben des Politbüros konzipiert waren. Daraus hervorgehende Kompetenzstreitigkeiten hat Georg Lichtenstein 1997 exemplarisch für die Theatereinrichtungen illustriert:

Das Theater einer Bezirkshauptstadt war, wie es hieß, ,bezirksgeleitet‘ und unterstand dem ,Rat des Bezirkes‘, und hier dem ,Mitglied des Rates für Kultur‘. (So verworren wie dieser Titel, so unklar war auch die Kompetenz seines Trägers.) Diese Unterstellung war formaliter. Faktisch hatte der ,Sekretär für Kultur der Bezirksleitung der SED‘ das Sagen. [...] Das Kompetenzgerangel von ,Sekretär‘ und ,Ratsmitglied‘ fand natürlich hinter geschlossenen Türen statt. Und das waren nicht einmal Theatertüren. In der Bezirksleitung der SED wurden diese Probleme ,operativ entschieden‘. Es war Vorsorge getroffen, daß nichts nach außen drang. Trotzdem ließen sich Dauerclinchs nicht verbergen“ (S. 76).

Die Kulturpläne definierten zunächst Grundlegendes, über die Kulturpolitik und die Politik der SED, deren Direktiven und Beschlüsse zumeist dem originalen Wortlaut getreu ausführlich zitiert wurden. Im Plan für den Bezirk Rostock, der auf dem Bezirkstag vom 27. März 1968 mit einem Planungszeitraum bis 1970 beschlossen wurde, heißt es:

„Die staatlichen Leitungen und ihre Organe im Bezirk Rostock haben eine solche sozialistische Kulturpolitik zu organisieren, durch die das Kulturniveau aller Werktätigen erhöht wird und in der die Schrittmacher der Produktion das Entwicklungstempo und die Qualität des kulturellen Lebensstils bestimmen. Dabei werden solche Kollektive wie VVB Schiffbau, Wohnungsbaukombinat Rostock und die Kooperationsgemeinschaften im Kreise Wismar, Ribnitz-Damgarten und Grimmen [...] vorangehen“ (Rat des Bezirkes Rostock 1968, S. 2).

Angesprochen auf ihre kulturpolitischen Verpflichtungen werden im Plan insbesondere große Kombinate und Volkseigene Betriebe, wobei im Bezirk Rostock die Volkswerften als Träger eigener Kulturhäuser eine wichtige Rolle spielten. Denjenigen Berufskünstlern, die Laienkunst und das sog. künstlerische Volksschaffen unterstützten, wurde ihre Vorbildwirkung attestiert. Klangvolle Namen wie Joachim Jastram und Fritz Meyer-Scharffenberg sind darunter. Aber auch der einflussreiche Kulturfunktionär Kurt Barthel – bekannter unter dem Kürzel Kuba –, der als Sekretär des Deutschen Schriftstellerverbandes und Chefdramaturg am Rostocker Volkstheater wirkte, fand positive Erwähnung. Der Bezirksperspektivplan forderte den Aufbau und die Ausgestaltung einer Reihe von kulturellen Einrichtungen, die nach der Wende weiterhin Bestand hatten. Die Fachschule für angewandte Kunst in Heiligendamm sollte sich der ästhetischen Umweltgestaltung widmen, während der Rostocker Zoo der Erholung von Werktätigen und Jugendlichen zu dienen hatte. Die neue Kunsthalle und das aufzubauende Schifffahrtsmuseum erhielten als Prestigebauten höhere Priorität. Kleinere Museen in Schönberg, Ribnitz-Damgarten und Granitz wurden mit Ausstellungen zur Geschichte der Landarbeiter, landarmen Bauern und Genossenschaftsbauern sowie der örtlichen Arbeiterbewegung beauftragt. Nationale Bedeutung besaßen dagegen die Memorialmuseen Gerhard-Hauptmann-Gedächtnisstätte in Kloster, Ernst-Moritz-Arndt-Museum in Garz und Maxim-Gorki-Gedächtnisstätte in Heringsdorf. Im Bereich bildende Kunst und Literatur sollte nach den Planvorgaben „in kameradschaftlicher Zusammenarbeit von Staatsfunktionären und Kulturschaffenden“ dafür Sorge getragen werden, „daß Schriftsteller und Künstler aus tiefer Überzeugung vom marxistisch-leninistischen Klassenstandpunkt aus Kunstwerke gestalten“ (ebenda, S. 28). Probates Mittel dafür war die Vergabepraxis von Aufträgen. Für die Theater legte der Plan Arbeitsschwerpunkte fest. So hatte sich das Rostocker Volkstheater um die sozialistische Gegenwartsdramatik der DDR, skandinavischer Länder und um humanistisch-progressive Stoffe aus anderen kapitalistischen Ländern zu kümmern, während Stralsund die Gegenwartsoper pflegen und Werke Mozarts und Wagners spielen sollte. Das Beschäftigungsfeld des Theaters in Putbus wurde auf die Werke Friedrich Wolfs und Gerhard Hauptmanns verpflichtet, wohingegen Greifswald zur Fortführung der Brecht- und Gorkitraditionen und zur Pflege nordischer und angelsächsischer Dramatik angehalten wurde. Wismar hatte im Gegensatz dazu nur eine Bespielbühne (vgl. ebenda, S. 31f). Generell hatten die Theater die Volkskunstkollektive großer Betriebe zu betreuen.

Liest man im Kulturplan des Bezirkes Rostock das Kapitel zur Förderung des Buchhandels und der Bibliotheken genauer, erkennt man den propagandistischen Nutzwert des Mythos von der DDR als Leseland. Dieser beruhte auf einer Kulturpolitik, „für die das Buchlesen ein Maßstab für das Kulturverhalten schlechthin war“ (Löffler 1998, S. 21), die aber zugleich die Buchproduktion und die Breitenlektüre durch eine lückenlose Präventivzensur[20] auf Werke aus dem offiziellen Literaturkanon ausrichtete. Den Bibliotheken im Bezirk wurde eine Reduzierung des Belletristik-Bestandes zugunsten der Sach- und Kinderliteratur vorgeschlagen, außerdem ordnete man die Erhöhung der Ausleihen von 2,5 auf 2,6 Mio. Medieneinheiten und ein Leserwachstum von 133.381 auf 140.000 für den Zeitraum bis 1970 an.

[...]


[1] Dazu wurden Studien von Conchita Hübner-Oberndörfer 1998; 2001 und Gerhard Maeß 1998 vorgelegt.

[2] Die Evangelische Akademie in Loccum hat sich auf vielen Tagungen mit der Neuorientierung von Kulturpolitik und der diffusen Unbestimmtheit moderner Kunst- und Kulturbegriffe beschäftigt. Siehe dazu z. B. die Loccumer Protokolle 27/92 (Schwencke 1992); 28/00 (Burmeister 2000); 05/01 (Burmeister 2001).

[3] Über Neuerscheinungen berichtet regelmäßig seit 1997 der Informationsdienst Deutscher Kulturrat - aktuell. Siehe dazu Zimmermann/Schulz 2000.

[4] Nach Olaf Zimmermann/Gabriele Schulz 1999 wird Kulturpolitik vorwiegend von Männern betrieben, die im statistischen Durchschnitt zwei Kinder haben, verheiratet sind und als formalen Bildungsabschluss zumeist Abitur und ein Hochschulstudium aufweisen. Dieser Normalfall gilt „vor allem für die Generation der vor 1950 Geborenen“ (S. 33).

[5] Der eingetragene Verein wurde 1976 in Hamburg gegründet und hat seinen Sitz in Bonn. Nach seinem Selbstverständnis ist er „ein bundesweiter Zusammenschluß kulturpolitisch interessierter und engagierter Menschen aus den Bereichen Kulturarbeit, Kunst, Politik, Wissenschaft, Publizistik und Kulturverwaltung“ (www.kupoge.de).

[6] Innerhalb der Strukturen des Deutschen Städtetages besteht ein Kulturausschuss, in dem seit über sechs Jahrzehnten Akzente für die kommunale Kulturpolitik gesetzt werden. Siehe dazu Deutscher Städtetag 1992.

[7] Hier ergeben sich eigenwillige Anknüpfungspunkte für die gegenwärtige Kulturpolitik der Berliner Republik. Das mag verwundern, sollte es aber eigentlich nicht, denn die kritische Generation der 68er, ist 1998 an die Schalthebel der Macht gelangt und mit ihnen ihre linksintellektuellen Wegbereiter. Wolfgang Thierse, Repräsentant der Berliner Republik und Intellektueller ostdeutscher Provenienz, erinnert zwar an die „antikapitalistische Kulturkritik von Horkheimer und Adorno im berühmten Kulturindustrie-Kapitel der Dialektik der Aufklärung “ (Thierse 2002, S. 14), warnt zugleich aber davor, einen Kulturbegriff zu verabsolutieren.

[8] Bd. 5 wagt den Blick zurück nach vorn anlässlich der Selbstfeier von 20 Jahren Neuer Kulturpolitik (Sievers/Wagner 1994); Bd. 16 fragt Was bleibt? und erinnert Kulturpolitik in persönlicher Bilanz (Scheytt/Zimmermann 2001). Andere Bände sind den Jubiläen der verdienten, aber in die Jahre gekommenen Protagonisten dieses kulturpolitischen Konzeptes gewidmet. Vgl. Glaser/Goldmann/Sievers 1996 (Bd. 10) und Sauberzweig/Wagner/Röbke 1998 (Bd. 13).

[9] Die meisten Schriften zur Kulturpolitik entstanden unter der Regie von Hans Koch, Lehrstuhlinhaber für marxistische Kultur- und Kunstwissenschaften am Institut, der im Herbst 1986 den Freitod suchte. Siehe zum Überblick Koch 1976; zur Sozialistischen Kulturrevolution Institut für Gesellschaftswissenschaften 1977; zur SED und das kulturelle Erbe Autorenkollektiv 1986.

[10] Bd. 1 erschien 2001 und widmet sich thematisch dem bürgerschaftlichen Engagement, während Bd. 2 ein Jahr später das Thema Kulturföderalismus aufgriff (vgl. Röbke/Wagner 2001; 2002).

[11] Herausgegeben wurden die MKF von der KulturInitiative ’89 e. V. in Verbindung mit dem Institut für Kulturwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Schwerpunktthemen der einzelnen Hefte waren kultureller Wandel bei den Deutschen (Heft 29), Kultur im Osten Deutschlands (Heft 32), ostdeutsche Kulturgeschichte (Heft 33) sowie eine Kulturenquete mit der Fragestellung Worin besteht der kulturelle Wandel in Ostdeutschland, wohin verläuft er und wie kann er wissenschaftlich untersucht werden? (Heft 34). Vgl. Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung 1994.

[12] Im Landtag M-V entschied sich die PDS-Fraktion anders als im Bundestag zu konstruktiver Mitarbeit, auf ein Minderheitsvotum und eine alternative Darstellung der DDR-Geschichte verzichtete sie vollkommen. Im Gegensatz dazu Keller/Modrow/Wolf 1994.

[13] Zunächst legte das Sekretariat der SED-BL eine Konzeption vor, die in aller Regel vom Bezirkstag unverändert beschlossen wurde. Siehe dazu Bezirksleitung Schwerin der SED 1986.

[14] Die Restaurierung des Güstrower Schlosses ist ein Gegenbeispiel dafür (vgl. Rat des Bezirkes Schwerin 1971). Allerdings muß die Bedeutung dieses Renaissancebaus gesehen werden, der als Aushängeschild über die Verwahrlosung Hunderter alter Stadtkerne und Gutshäuser hinwegtäuschen sollte.

[15] Einen Überblick über das Vereinsleben auf kulturellem Gebiet in M-V zu geben, hat auch der Landesheimatverband M-V 1997 versucht. Er sieht sich dabei als ein Interessenvertreter der landesweit in der Kultur- und Heimatpflege wirkenden Vereine, Verbände, Körperschaften und Persönlichkeiten.

[16] Viele Autoren kulturpolitischer Schriften in der DDR neigen dazu, die Rolle der Kulturoffiziere im Sinne eines aufgeschlossenen Bündnispartners zu verklären. Siehe Richter 1979.

[17] Person bzw. Werk Bechers war zu DDR-Zeiten Gegenstand ausgedehnter, jedoch weitgehend unkritischer kultur- und literaturwissenschaftlicher Forschung. Siehe Deutscher Kulturbund 1972. Während der junge Lyriker der Weimarer Republik bleibenden literarischen Ruhm erworben hat, muß die Bewertung des späteren Kulturpolitikers ambivalent ausfallen. Einerseits hat er die Notwendigkeit der geistig-moralischen Umerziehung nach dem Kriege in unzähligen Schriften und Reden betont und durchaus ernst gemeint (vgl. Görsch 1981), andererseits sah Becher als Kulturpolitiker und -minister von 1954-1958 tatenlos zu, wie die Idee eines überparteilichen, gesamtdeutschen Kulturbundes an der politischen Indoktrination scheiterte und Weggefährten Parteisäuberungen zum Opfer fielen.

[18] Eine Kulturbund-Debatte mit tödlichem Ausgang hat Reinhard Rösler 1998 geschildert. Sie fand zwischen dem Autor der berühmten Kummerow-Romane Ehm Welk und dem weniger bekannten kommunistischen Schriftsteller Adam Scharrer statt, der infolge einer hitzigen Diskussion über den Realismus in der Literatur 1948 einem Herzinfarkt erlag.

[19] Die Zahlen sind dem Statischen Jahrbuch der DDR 1990 entnommen, die Tabelle wurde vom Autor selbst erstellt. Zur Lesbarkeit: Mit n ist die Anzahl gemeint, B steht für Benutzer/Besucher, E für Entleihungen, P für Plätze und V für Vorstellung. Fehlen die Indexzeichen, gelten die der vorherigen Zeile. Die Besucherzahlen in Theatern, Kinos und Museen wurden zu DDR-Zeiten anhand verkaufter Eintrittskarten ermittelt, sodass die tatsächliche Anzahl der Besucher darunter liegen dürfte. Bei den Bibliotheken wurden die nebenberuflich geleiteten Einrichtungen vernachlässigt. Vgl. Statistisches Amt der DDR 1990, S. 327ff.

[20] Der DDR-Medien-Experte Gunter Holzweißig hat die SED-Informationsdiktatur, die sich infolge der durchgreifenden Ideologisierung der Gesellschaft bei den Schriftstellern und Journalisten teilweise sogar auf Selbstzensur verlassen konnte, eine „Zensur ohne Zensor“ genannt. Vgl. Holzweißig 1997.

Final del extracto de 112 páginas

Detalles

Título
Das kulturelle Selbstverständnis des Landes Mecklenburg-Vorpommern - Hintergründe, Verlauf und Auswirkungen der Schweriner Landtagsdebatte 1990-2002
Universidad
University of Rostock  (Institut für Politik- und Verwaltungswissenschaften)
Autor
Año
2003
Páginas
112
No. de catálogo
V14918
ISBN (Ebook)
9783638201926
ISBN (Libro)
9783638699129
Tamaño de fichero
1421 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Selbstverständnis, Landes, Mecklenburg-Vorpommern, Hintergründe, Verlauf, Auswirkungen, Schweriner, Landtagsdebatte
Citar trabajo
Christian Schwießelmann (Autor), 2003, Das kulturelle Selbstverständnis des Landes Mecklenburg-Vorpommern - Hintergründe, Verlauf und Auswirkungen der Schweriner Landtagsdebatte 1990-2002, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/14918

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